Linke Dystopien, das heißt Anti-Utopien, werden gerne sprichwörtlich, über rechte Dystopien traut man sich hingegen nicht zu sprechen, selbst wenn man der Meinung ist, daß sie Wesentliches benennen oder neue Denkschneisen ins postmoderne Dickicht schlagen. Orwells „1984“ oder Huxleys „Brave new world“ sind linke Dystopien. Diese Bücher kennt jedes Kind. Beide sind Pflichtlektüre in der Schule. Sie gehören zum staatsbürgerlichen Bildungskanon der Generation „Datenschutz“. Ernst Jüngers „Arbeiter“, Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ und auch Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ hingegen werden immer noch hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand empfohlen. Warum? Es sind „böse Bücher“.
Zu diesen „livres maudits“, auf die man sich nur ungerne öffentlich beruft, gehört auch der 1973 erschienene und seitdem in vielen Sprachen weit über hunderttausend Mal verkaufte Roman „Le Camp des Saints“ („Das Heerlager der Heiligen“) des französischen Reise- und Abenteuerschriftstellers Jean Raspail (Jahrgang 1925). Wer dieses Buch heute in der Pariser Metro liest, läuft Gefahr, als „Rassist“ beschimpft zu werden. Wer dieses Buch in einer Zeitung thematisiert, der muß damit rechnen, als ein Autor des rechten Flügels eingeordnet und entsprechend sanktioniert zu werden. Raspail hat das voraus geahnt. Er hat gesagt, er sei um das Thema herumgeschlichen „wie ein Hundeführer um eine Paketbombe“. Ein Buch, vor dem sein eigener Autor Angst hat – das kann nichts anderes sein als die Definition eines „livre maudit“.
Schreibender Abenteurer
Jean Raspail ist ein bekennender Monarchist mit Wurzeln in der Pfadfinderbewegung, der sich seine historische Fantasie bewahrt hat. Man lese nur seinen schönen Romans „Sire“ aus dem Jahre 1991, in dem die Monarchie ins heutige Frankreich zurückkehrt. Er gehört jener zutiefst französischen Gattung der écrivains voyageurs an, jener Gruppe vagabundierender Abenteuerautoren mit Tiefgang, Stil und Kultur. Raspail hat viele Jahre mit Reisen verbracht und einfühlsame Bücher über fremde Kulturen geschrieben. Seinen strengen moralischen und politischen Standpunkt hat er dabei nicht verlassen. Im Gegenteil: Je mehr er reiste, desto genauer wußte er, wer er war. Von sich selbst sagt er mit anti-ökumenischer Verve: „Ich bin Katholik, kein Christ“.
Das „Heerlager der Heiligen“ ist sein bekanntestes und erfolgreichstes Buch. Es schildert den Untergang und die freiwillige Unterwerfung Frankreichs unter eine Flut von Immigranten aus Indien. Das Land, aus dem die Fremden kommen, ist nur ein Platzhalter. Es könnte auch ein afrikanisches oder lateinamerikanisches gemeint sein, hält Raspail fest. Das Buch erzählt, wie eine Million ausgehungerter und kranker indischer Immigranten an der französischen Mittelmeerküste landet – an einem Ostersonntag, nachdem die Flotte vierzig Tage auf den Wüsten der Weltmeere umherirrte. Eine ins Negative gewendete Ostersymbolik durchzieht den ganzen Roman wie ein dunkler Basso Continuo. Die Ankunft der Flüchtlinge versetzt Kirche, Politiker und Journalisten in einen kollektiven Rausch des Gutmenschentums, der durch das postkoloniale schlechte Gewissen weiter angestachelt wird. Es ist ein Leichtes, unsere heutige Situation darin wieder zu erkennen. Die Immigranten gehen an Land und nehmen den ganzen französischen Süden in Besitz. Friedlich und gewaltfrei. Die Soldaten der Grande Armée desertieren. Die weiße Bevölkerung flieht nach Norden. Denn das Abendland hat keine Kraft mehr, sich zu wehren. Es ist saft- und kraftlos. In den südfranzösischen Städten werden die verbleibenden weißen Frauen in Bordelle für die Inder gesteckt. In den Großstädten brechen Rassenunruhen aus. Ende.
Das 1984 der Rechten
Raspails Buch ist, wenn man so will, das „1984“ der Rechten – ein Abgesang auf das christliche Abendland, so wie Orwells Zukunftsroman ein Abgesang auf die Freiheit (oder den Mythos der Freiheit) war. Doch während bei Orwell die Bedrohung von innen kommt, aus der eigenen Gesellschaft, droht bei Raspail der Untergang von außen, durch das, was der Autor das „Fremde“ oder das „Andere“ nennt. Bei Orwell ist es der (sozialistisch verstandene) große Bruder, das Mitglied der eigenen Familie, der auf einmal außer Kontrolle gerät und zum gefährlichen Feind mutiert. Bei Raspail ist es nicht „The big Brother“, sondern „The Big Other“ – das große Andere –, das den Feind darstellt. „The Big Other“ – so überschrieb Raspail das Vorwort zur Neuausgabe seines Buches im Jahre 2011, die übrigens wochenlang auf Platz eins der französischen Amazon-Verkaufsliste stand.
Und seit kurzem befindet sich Raspails Buch auch auf der deutschen Amazon-Seite an vorderster Stelle. Die erste Auflage ist bereits vergriffen. Erschienen ist die Ausgabe im Verlag Antaios, dessen Verleger Götz Kubitschek sich selbst dem rechten Spektrum zuordnet.
Das Buch hat eine direkte Wucht, die dem allergrößten Teil der aktuellen Literaturproduktion abgeht. Es ist relevante Kunst. Doch der Roman hat noch andere Qualitäten. Man kann es als schwarze Komödie lesen. Oder auch als theologisches Manifest. Die negative Dynamik des Abendlands, deren unbarmherziges Ablaufen Raspail vorführt, ist nicht nur ein gesellschaftliches Geschehen, sondern ein metaphysisches. Indem das Abendland untergeht, weil es nicht mehr an sich und an seinen Gott glaubt, erfüllt sich ein endzeitliches Muster.
Die französische Neuauflage des „Heerlagers“ gab auch dem französischen Autor Michel Houellebecq eine Steilvorlage. Dieser denkt in seinem vor kurzem erschienenen Roman „Unterwerfung“ die Geschehnisse, die Raspail im „Heerlager der Heiligen“ schildert, konsequent zu Ende. Houellebecqs Roman, der im Jahr 2022 spielt, schildert, wie aus Frankreich eine moderate muslimische Demokratie wird, weil das Volk unter allen Umständen eine rechte Präsidentin Marine Le Pen verhindern will, deren Partei, der Front National, nur durch einen Schulterschluß der Sozialisten mit den Islamisten zu stoppen ist. Die Menschen dieses Landes haben – so zeigt das Buch – keine Werte mehr, die es zu verteidigen gilt. Die Männer können sich mit der Etablierung eines religiösen Staates gut arrangieren, weil er ihre Bedürfnisbefriedigung fördert: mehr Geld, eine Frau für die Küche, zwei Frauen fürs Bett. In einem Interview mit dem „Spiegel“ beschreibt Houellebecq diese Entwicklung als den historischen Endpunkt einer Bewegung, die mit der Französischen Revolution einsetzte: „Ich glaube, daß ein historischer und politischer Zyklus, der mit der Französischen Revolution 1789 begann, sich dem Ende zuneigt. Das republikanische Modell mit seinem Freiheits- und Gleichheitsideal zerbricht. Es hat den Menschen ein Versprechen gegeben, das es nicht halten kann. Wir wohnen einer Rückkehr des Religiösen bei. Ein Paradigmenwechsel, ein Prozeß der Respiritualisierung ist im Gang. Das Glaubens- und Wertesystem verändert sich. Eine Gedankenströmung, die mit der Reformation begann und mit der Aufklärung ihren Höhepunkt erreichte, ist dabei, zu erlöschen.“
Der französische Selbstmord?
Die epische Konstruktion des Romans, die dieses Erlöschen anschaulich macht, ist äußerst geschickt angelegt. „Unterwerfung“ (die wörtliche Übersetzung des Wortes „Islam“) ist in der Ich-Perspektive geschrieben. Der Protagonist ist ein Literaturwissenschaftler an der Sorbonne, der auf den katholischen Autor Huysmans spezialisiert ist. Er arrangiert sich mit dem Islam, um sein materialistisches Lebenskonzept zu retten. Seine Existenz ist die postmoderne Karikatur des Huysman’schen Helden Floressas Des Esseintes, eines Ästhetizisten, der im Roman „Gegen den Strich“ ein Leben der Dekadenz und äußersten sinnlichen Verfeinerung führt, das er der Verflachung der Welt und der Gesellschaft entgegenhält. In „Unterwerfung“ ist dieses extravagante Leben aber nur noch als Schwundstufe möglich: An die Stelle des Fin de Siècle-Ästhetizismus tritt bei Houellebecq der industrielle Materialismus der Mikrowellenprodukte und des gekauften Sex. Immer wieder scheint in der satirischen Dekonstruktion des Optimismus dabei auch die Blaupause des Voltaire’schen „Candide“ hindurch. Es ist aber auch nicht falsch, sich bei der Lektüre dieses gerade in seiner pragmatischen Fatalität so bitteren Buches an den Bestseller „Le suicide français“ (Der französische Selbstmord) von Eric Zemmour erinnert zu fühlen, der zur Zeit in Frankreich die Verkaufslisten anführt.
Ursprünglich hatte Houellebecq geplant, seinen Protagonisten am Ende zum Katholizismus konvertieren zu lassen, so wie es Huysmans selbst tat und es in seinem 1895 erschienenen Buch En route (Unterwegs) eindrucksvoll schildert. Der Autor Houellebecq zeigt sich im Spiegel-Interview begeistert von der Manif’ pour tous, jener Aktionsbewegung, die sich in Frankreich als Reaktion auf die Gender-Ideologie und vor allem auf das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare bildete und der es gelang, Millionen Menschen zu mobilisieren. Houellebecq läßt sich hierzu im „Spiegel“ emphatisch aus: „Persönlich bin ich überzeugt, daß noch viel Kraft im Katholizismus steckt. Ich glaube, er hat Zukunft, obwohl sich die Entwicklung im Buch anders darstellt. Der Protest gegen die gleichgeschlechtliche Ehe brachte in Frankreich ungeheure Menschenmengen auf die Straße, darunter eine neue Generation junger Katholiken, modern, offen, sympathisch, brüderlich, leuchtend, wie ich sie nie gesehen hatte. Ganz anders als die alten Traditionalisten oder die Progressisten, die in Wahrheit verkappte Protestanten sind. Der Protestantismus als Geist der Aufklärung ist der Niedergang des Katholizismus, in der Kunst wie im Glauben.“ Der Roman endet nicht katholisch, sondern mit einer Unterwerfung. Doch wer genau liest, der bemerkt, daß Houellebecq eine Hintertür offen läßt. Denn der Text schlägt im entscheidenden Schlußabschnitt ins Konditional um: „Die Zeremonie der Konversion selbst würde sehr einfach sein…“. Ist es erlaubt, diese stilistische Volte als einen Hoffnungsschimmer zu lesen? Kann man diese Tempuswechsel als ein offenes Ende interpretieren, einen metaphysischen Türspalt, der Licht ins Dunkel unserer Gegenwart hereinfallen läßt?
Raspail und Houellebecq haben Anti-Utopien geschrieben. Das Carl-Schmitt‘sche „Freund/Feind“-Schema ist die Demarkationslinie, die die linke von der rechten Dystopie unterscheidet. In der linken Dystopie wird diese Demarkationslinie nach Innen verlegt. Der Feind ist in uns. Der Feind sind wir selbst. Der Konflikt wird psychologisiert und soziologisiert. Die linke Dystopie schildert einen Zustand, der als ein therapierbarer erscheinen soll, wenn man nur früh genug zu warnen beginnt, wenn man an seiner eigenen Schuld und an der seines Landes arbeitet, wenn man das Leid der Welt auf sich nimmt. In der rechten Dystopie kommt der Feind dagegen von außen. Er ist ein Feind aus Fleisch und Blut. Er ist ein konkreter Feind. Hier ist der Konflikt nur durch eine gewaltsame Auseinandersetzung zu lösen, als eine Verteidigung des Eigenen. Diese Auseinandersetzung setzt aber eines voraus: Selbstbehauptungswillen und Identitätsbewusstsein. Wenn diese nicht mehr gegeben sind, dann fällt selbst eine tausendjährige Kultur in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Die Christen folgen dann den Inkas und Azteken, deren Reiche durch Dekadenz zerbröselten. So sah es Raspail 1973 voraus. Und so ähnlich sieht es auch Houellebecq. Perspektivlosigkeit ist das Prinzip von „Unterwerfung“ wie das des „Heerlagers“: „Ich bin überzeugt, daß das Schicksal Frankreichs besiegelt ist“, bekannte Raspail in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Figaro im Jahre 2004. Wer von ihm Sentimentalität oder Larmoyanz erwartet, ist auf dem Holzweg. Das einzige, was der abendländische Mensch, der noch weiß, was Größe ist, jetzt noch machen kann, ist, sich mit Stil und Würde dem Untergang zu stellen und an seinem Seelenheil zu arbeiten.
Noch ein Untergang des Abendlandes?
Es gibt das Leben der Anderen, das nicht unser Leben ist, nicht unsere Geschichte, nicht unsere Kultur. Und es gibt unser Leben, unsere Geschichte, unseren Erfahrungsraum, den wir mit Berechtigung das „christliche Abendland“ nennen. Diese Unterscheidung hält Raspail für wesentlich. Ist er deswegen schon ein Rassist und Nationalist, wie es ihm linke Kritiker vorwerfen? Zwei Jahrzehnte ist Raspail als Abenteurer unterwegs gewesen, er hat bedrohte Völker besucht und in seinen Büchern ihre Bedrohung durch die moderne Zivilisation beschrieben. Das Fremde war ihm allzugut bekannt, aber eben als Fremdes. Er hätte es sonst gar nicht so präzise beobachten und beschreiben können, wie er es in seinen Texten tat. Die Distanz war die Voraussetzung, um überhaupt Differenz wahrzunehmen. Und in dieser Differenz erst begründet sich die Würde des Anderen. Viele so genannte „Antifaschisten“, die sich lautstark zu Anhängern des „Anderen“, des „Fremden“ machen, haben ihr Kinderzimmer nie verlassen. Sie wissen gar nicht, was sie meinen, wenn sie „das Fremde“ sagen. Es ist ihnen existentiell fremd, weil sie immer nur sich selbst meinen. Vielen lins-liberal Sozialisierten geht es nicht anders.
Die Rassismus-Keule dieser Linken trifft Raspail durchaus in einigen Szenen, an denen er das Leben der „Anderen“ als ein wollüstig-animalisches Dahin-Vegetieren schildert. Man kann ihm dabei aber auch den Geist der siebziger Jahre zu Gute halten kann, der ja auch die „rassistischen“ Blaxsploitation-Movies à la Shaft hervorbrachte. Sie trifft ihn aber nicht in seinem Versuch, das je Eigene der Kulturen herauszuarbeiten und auf einer kulturellen Authentizität der Völker zu beharren, was übrigens ein linker Ethnologe wie Lévi-Strauss auch getan hat. Raspail formuliert die bedenkenswerte These, daß die Globalisierung, die mit dem Entstehen der so genannten „dritten Welt“ ihren Ausgang nahm, die Substanz des katholischen Selbstverständnisses angreifen und letztlich zerstören muß, weil sie die Identifikationsmuster dieses Katholischen auslöscht, das ja in seiner Geschichte immer auch mit der Opposition der Differenz arbeitet: Gut/Böse, Christ/Heide, Tugend/Sünde. Wo diese Unterschiede fallen – und heute sind sie vielfach gefallen – da kann sich keine christliche Identität mehr begründen.
Das Heerlager also ein Manifest der Anti-Globalisierung. Vor diesem Denkhorizont einer Welt, die bei sich beheimatet sein muß, um lebbar zu sein, muß man die Migrationskritik des „Heerlagers“ verstehen. Die uns heute bedrängende Frage „Wie können wir helfen?“, „Was können wir tun?“, „Wo muß eine Lösung ansetzen?“ läßt dieser Roman links liegen, weil er der Meinung ist, wir Abendländer seien nicht mehr in der Lage, die Rolle von Helfern zu spielen. Ähnlich denkt der Roman über die Nächstenliebe, die von den Lawinen des Elends gleichsam verschüttet wird. Gerade dieser kollektivistische Ansatz hat dem Buch viel Kritik eingebracht. Man hat seinen polemischen Tenor kritisiert. Der Roman enthält tatsächlich viele polemische Passagen: wenn es um die Verblödung und Gleichschaltung der Massenmedien und Schulen, um die Mißachtung der „sagesse populaire“, um den Verlust der Wirklichkeit, um den intellektuellen Terrorismus einer vorfabrizierten und auswendig gelernten Moral, um die Kritik des ständigen Suchens nach soziologischen Erklärungen, um die abgedroschene „Wir sind alle Inder“-Rhetorik geht. Raspail verzichtet aber immer dann auf Polemik, wenn er das Elend selbst in den Blick nimmt. Dann findet er einen Ton der Überhöhung und des pathetischen Sprechens, dem es zu verdanken ist, daß sich der Text in seinen härtesten und unerträglichsten Kapiteln an den Tonfall der Offenbarung des Johannes anschließt. Das war die Idee Raspails: Die Figur der totalen Migration als ein Geschehen zu schildern, das nur eschatologisch zu begreifen ist. Daß ein solches Unterfangen schwer umsetzbar und zudem angreifbar ist, ist offensichtlich.
Aber immerhin: Ein klarer Standpunkt erzeugt Klarheit. Aus der Haltung eines rechten Dystopisten heraus hat Raspail vierzig Jahre vor den Flüchtlingsströmen und vor der Drohung des IS, Europa mit Cargo-Schiffen voller Immigranten zu „bombardieren“, Bilder gefunden, die sich in das Bewußtsein des Lesers für immer einschreiben. Wer Raspails Roman kannte, die Bilder der letzten Wochen sah und dann auch noch Houellebecqs Roman las, der glaubte, an der Erfüllung einer Prophetie teilzuhaben. Selten hat Kunst diese Wirkung. Und das umso mehr, als Raspail in seinem Buch noch weitere Ereignisse unserer Gegenwart auf fast erschütternde Weise vorweggenommen hat. Der amtierende Papst im „Heerlager der Heiligen“ heißt zwar nicht Franziskus, aber immerhin Benedikt XVI. Nachdem sein Vorgänger nach dem dritten Vatikanischen Konzil den gesamten Besitz der römisch-katholischen Kirche verkauft hat (und dabei – Ironie des Schicksals – eine Summe zustande kam, mit der kaum der Agraretat für Pakistan für ein Jahr ausgeglichen werden konnte), lebt er nun in einer armseligen Wohnung in der Nähe des Vatikan! Alle christlichen Form-und Kulturmerkmale haben sich aufgelöst. Es herrscht eine Religion der Ökumene und der Gutgläubigkeit. Dominikanerpatres tragen Jeans und T-Shirts. Der Erzbischof von Paris schenkt der muslimischen Gemeinde dreißig Kirchen (in Frankreich wird gerade tatsächlich laut darüber nachgedacht, ob man verwaiste katholische Kirchen nicht in Moscheen umwandeln soll). Bei der Lektüre des Romans sieht man sich zunehmend von der Einsicht eingeholt, daß die Erosion des Katholischen vierzig Jahre tatenlos beobachtet wurde. Und daß es jetzt vielleicht zu spät ist.
Ist das „Heerlager“ also ein christlicher, gar ein katholischer Roman? Was dagegen sprechen könnte, ist weniger die Absenz von guten Taten und vorbildhaften Figuren, die dieser Roman in der Tat nicht enthält, die aber auch viele andere katholische Bücher von Bloy über Bernanos bis Péguy nicht enthalten. Vielmehr ist es die abgrundtiefe Einsamkeit seines Tonfalls, seine Verachtung der Innerweltlichkeit und seine radikale Unangepaßtheit, die ihn für viele heutige Katholiken zu einer schwierigen Lektüre machen. Es gibt aber auch nicht wenige Gläubige, die genau das von einem Katholizismus erwarten, der sich dazu entschieden hat, das Zeitalter der Beliebigkeit und der Ortlosigkeit, die Epoche der Profanisierung und der Verweltlichung zu überleben. Für sie hat Jean Raspail das „Heerlager der Heiligen“ geschrieben.
Autor: Dr. Alexander Pschera ist Publizist und Unternehmensberater. Der studierte Germanist beschäftigt sich vorwiegend mit französischer Geistes- und Kulturgeschichte sowie mit dem katholischen Kosmos. Auch zur Philosophie des digitalen Raumes und zur Theorie der Kommunikation hat er einige Überlegungen angestellt. Seine Texte und Essays finden sich vornehmlich im CICERO, im VATICAN Magazin, in der Tagespost und auf Deutschland Radio Kultur.
Alexander Pschera’s Bücher erscheinen im Verlag Matthes & Seitz Berlin.
– Eigener Blog: https://erstezone.wordpress.com/
– Autorenseite bei Matthes & Seitz Berlin
In der Serie „Texte zur Flüchtlings- und Asylkrise“ sind bisher erschienen:
– Tomas Spahn: Das Plädoyer für humanen Kolonialismus 2.0
– Sebastian Richter: Finnland – nur 2,7% Asylsuchende aus Syrien
– Klaus Engel: „The German Dream“
– Dr. Klaus Paatzsch: „Flüchtlinge in Not – Wir in Nöten“