Das politische Spektrum der Extreme aller Arten und ihr Schlagabtausch im Internet macht vielleicht etwas möglich, was es trotz oder besser wegen stets schon anderer offizieller und offiziöser Erklärungen nie gab: den Beginn einer gründlichen und nicht mehr nur oberflächlichen Befassung mit den drei Großtotalitarismen Bolschewismus, Nationalsozialismus und Faschismus. Denn der politische Kulturbruch wurde 1945 und 1989 nicht aufgearbeitet.
Einem Leser von Tichys Einblick verdanke ich diese Worte: „Manche behaupten ja, die NS-Diktatur ist noch nicht aufgearbeitet, die DDR-Diktatur ist es auf keinen Fall. Wir haben dann einen Diktaturaufarbeitungsstau.“
Seit mit den Worten Nazi, Rassist und Faschist wahllos, beim nichtigsten Anlass und inflationär geworfen wird, ist nicht eingetreten, was die Werfer im Sinn haben. Was abschrecken soll, macht im Gegenteil die politischen Wurfgeschoße unwirksam. Womit soll geworfen werden, wenn diese Vorwürfe eines Tages berechtigt wären? Die Werfer sind das extreme Ergebnis der Tatsache, dass der politische Kulturbruch 1945 und 1989 nicht aufgearbeitet wurde.
Im Internet wird quasi nebenbei gestritten, ob Hitler nun ein Rechter oder Linker, ob sozialistisch das wichtigere Wort als national in NSDAP war. Gern wird in die Gegenrichtung geworfen, die Antifa sei die neue SA, auch schon mal SS wegen der schwarzen Kluft. Historisch Anspruchsvollere halten dagegen, nein nicht die neue SA, sondern die Fortsetzung des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes sei die Antifa.
Seit einem halben Jahr schiebe ich die Absicht vor mir her, die mittlerweile 30 Jahre alte Dissertation von Rainer Zitelmann über Hitler zu rezensieren. Der ursprüngliche Anlass, das Werk ist als Buch in fünfter Auflage 2017 erschienen, angereichert um neue Aufsätze. Der Grund für den Aufschub ist leicht beschrieben. Obwohl die klare Mehrzahl der Beiträge zum Nationalsozialismus nach Zitelmanns Doktorarbeit den meisten seiner von früheren Betrachtungen abweichenden Befunden zustimmten und weitere neue hinzu fügten, hat sich am Bild der NS-Zeit in Schulen, Hochschulen, Medien und so weiter praktisch nichts geändert. Dazu wolllte ich nicht beitragen und habe auch den fünften Rezensions-Entwurf weggeworfen.
Neulich las ich wieder von irgendeiner Politikerin, wichtig wäre es, nicht nur deutsche, sondern auch zugewanderte Kinder und Jugendliche mit der NS-Zeit zu konfrontieren, indem man sie mindestens in eine Holocaust-Gedenkstätte in einem der damaligen NS-KZs bringe. Ein solcher Besuch wird jeden mit Entsetzen über den industriell organisierten Massenmord erfüllen. Aber vermittelt das – mit und ohne qualifizierte Vor- und Nachbereitung – eine Einsicht in die zentrale Frage, warum das Regime dazu fähig war, eine solche Maschinerie in Gang zu setzen, weshalb das Regime überhaupt an die Macht kam und warum es bis in die letzten Kriegstage einen breiten Rückhalt im deutschen Volk haben konnte? Nein. Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der Unterricht in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen bis heute nicht. Die NS-Verbrechen wurden nach dem Kulturbruch von 1933 verübt. Geschichteunterricht konzentriert sich auf diese Folgen und vernachlässigt die Ursachen.
In Analogie zu dem bekannten Satz, dass die Zahl der Widerstandskämpfer immer größer wird, je länger der NS-Staat sein Ende fand, ist die Befassung mit Hitler und dem Nationalsozialismus 73 Jahre nach ihrem Ende oberflächlicher denn je. Je mehr Farbfilme aus der NS-Zeit im Fernsehen zu sehen waren, desto unpolitischer wurde die Perspektive. Das Wissen um die 12 Jahre NS-Staat beschränkt sich auf dessen Verbrechen und Scheußlichkeiten. Das stößt ab, aber es erklärt nicht, wie es zu ihnen kommen konnte – und deshalb kann es auch nicht immunisieren. Was zum Kulturbruch führte, muss ins Zentrum der Befassung mit dem Totalitarismus aller Spielarten.
Junge Männer, die kulturell und gesellschaftlich aus Stammes-Gesellschaften kommen und nicht aus den Staaten, deren willkürliche Grenzen Amerika, Großbritannien und Frankreich nach 1918 ohne Rücksicht auf uralte unsichtbare Grenzen gezogen haben, können nicht durch Kurse geschleust und danach als Stammeslose in die deutsche und andere europäische Gesellschaften eingegliedert werden. Das kann nur der einzelne Eingewanderte selbst.
Pädagogisieren ist der große Selbstbetrug der Pädagogisierer. Dem Pädagogisieren fehlt vor allem auch jeder Respekt vor den zu Pädagogisierenden, es handelt sich dabei nur um eine neue Form von Kolonialismus. Gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen brauchen viele Generationen. Sie geschehen von selbst oder gar nicht.
Daher will ich in einer Folge von Beiträgen am Jahrtausendthema NS-Deutschland dranbleiben; die Chance dürfte so größer sein, das Interesse von Lesern zu finden als mit einer klassischen Buchrezension.
Ich denke, die nicht stattgefundene Aufarbeitung der Großtotalitarismen Bolschwewismus, Nationalsozialismus und Faschismus kann erst jetzt beginnen. Der politische Kulturbruch 1918 in Russland und 1933 in Deutschland kriegt wohl erst jetzt die echte Chance, ins Bewusstsein gerufen und in der sicher noch längeren Folge nachhaltig korrigiert zu werden. Dass das in der DDR ihrem Anspruch entgegen nicht geschah, werden nicht mehr viele bestreiten. Dass es auch in der Bonner Republik nicht gelang, dürften hingegen viele von sich weisen. Ein objektiver Blick kann aber zu keinem anderen Befund führen – schon deshalb nicht, weil Schule und Hochschule, Medien und Politik den Kulturbruch 1933 nicht im Auge haben.
Zweierlei hätte nach Zitelmanns Doktorarbeit jedem seiner seitherigen Leser klar sein können.
Erstens, dass die gängige Einordnung von Hitlers Ideologiemix als deutscher Faschismus eine Verharmlosung des Nationalsozialismus ist.
Und zweitens, dass Hitler die breite Mehrheit des Volkes mit zwei Dingen hinter sich geschart hat – mit materieller Wohlfahrt und sozialem Aufstieg.
Im nächsten Teil geht es um den sozialen Aufstieg.