Wenn man in diesen Tagen einen Blick nach Brüssel wirft, so kann man dort beobachten, wie Juncker als Kommissionspräsident die Weichen für die Zukunft stellt. Indem er seine graue Eminenz Martin Selmayr zum Generalsekretär der EU-Kommission befördert hat, soll vermutlich sichergestellt werden, dass die Kommission auch in Zukunft mit allen Mitteln versucht, aus dem recht heterogenen Staatenverbund der EU einen echten Staat werden zu lassen, denn an diese Vision glaubt Selmayr, den manche Kritiker recht unfreundlich auch schon einmal als den Rasputin von Brüssel bezeichnet haben, ohne Zweifel.
Realistisch wäre eine solche Vision freilich nur, wenn es gelänge, die bislang recht unterschiedlichen politischen Kulturen der einzelnen europäischen Länder stärker zu homogenisieren, so dass strukturell ähnliche Problem auch ähnlich von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und man ähnliche Wege geht, um sie zu lösen oder zumindest mit ihnen leben zu können. Das müsste für die Staatsverschuldung genauso gelten wie für die unkontrollierte Massenimmigration oder die Strukturprobleme des Sozialstaates in einer alternden Gesellschaft.
Eine solcher Wahlausgang wäre eigentlich ein Sieg der politischen Unvernunft, denn Berlusconi und seine Verbündeten haben nicht nur versprochen, die Steuern deutlich zu senken, sondern auch die Rentenreformen, die 2011 der Premierminister Monti unter dem Druck der Finanzmärkte durchführte, zurückzunehmen und generell mit beiden Händen Geld auszugeben. Monti selbst hat freilich schon verkündet, dass ihn die Wahlen nicht sonderlich beunruhigten, denn all diese Versprechungen würden rasch nach den Wahlen kassiert werden. Die Schuld werde man wie schon früher auf die EU (und damit indirekt auch auf Deutschland, wie man hinzufügen muss) schieben, die die Verteilung solcher Wohltaten nicht gestatte.
Keine Panikstimmung an den Finanzmärkten
Auch die Finanzmärkte zeigen sich angesichts der bevorstehenden Wahlen bislang nicht sonderlich beunruhigt, wie man am Kurs italienischer Staatsanleihen sehen kann (der Spread zwischen deutschen und italienischen Anleihen mit 10jähriger Laufzeit liegt zur Zeit bei rund 1,5 %, was angesichts der gewaltigen italienischen Staatsverschuldung eher wenig ist). Das kann man allerdings auch auf die feste Überzeugung der Investoren zurückführen, dass die EZB immer genug italienische Anleihen kaufen wird, um das Land über Wasser zu halten und notfalls noch stärker als bisher zur monetären Staatsfinanzierung übergehen werde, um dieses Ziel zu erreichen. Diese Einschätzung ist vermutlich sogar richtig.
Wirtschaftliche Stagnation und Immigrationskrise
Unabhängig davon muss man freilich konstatieren, dass die Stimmung in Italien sich in den letzten Jahren deutlich verdüstert hat. Dafür sind zwei Gründe ausschlaggebend: Die wirtschaftliche Stagnation und die Massenimmigration. Sieht man sich die Wirtschaftsentwicklung in der EU zwischen 2000 und 2016 an, so stellt man fest, dass viele nicht-Euro-Länder, allen voran Polen, aber auch Schweden und England ein recht hohes Wirtschaftswachstum (in den beiden zuletzt genannten Fällen knapp 40 %) aufzuweisen hatten. Frankreich und Deutschland kamen immerhin noch auf ein moderates Wachstum von rund 20 % über den Gesamtzeitraum, nur in Italien, dem seit Einführung des Euro die Möglichkeit fehlt, seine Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertungen zu erhöhen, gab es keinerlei Wachstum, während Griechenland nach einer Phase der schuldenfinanzierten wirtschaftlichen Expansion in eine tiefe Krise rutschte und heute wieder am Ausgangspunkt angekommen ist.
Was die Immigration aus Nicht-EU-Ländern betrifft, so hat Italien das Pech, seit der partiellen Schließung der Einwanderungsroute über die Türkei und Griechenland das Haupteinfallstor für Migranten, die in die EU wollen, darzustellen. Die starke Präsenz von Schiffen unmittelbar vor der libyschen Küste, die von NGOs gesponsert werden, um Flüchtlinge und Einkommenssuchende sicher nach Europa zu bringen, hat die Zahl der Ankömmlinge noch einmal deutlich erhöht, auch wenn in jüngerer Zeit inoffizielle Vereinbarungen zwischen der italienischen Regierung und libyschen War Lords den Weg über See nach Italien offenbar beschwerlicher haben werden lassen.
Man muss in diesem Zusammenhang freilich feststellen, dass in der Vergangenheit, das heißt bis vor ca. 10 Jahren, die Integration von Immigranten in Italien zumindest partiell durchaus erfolgreich war. Viele Einwanderer, die in Italien auch relativ freundlich aufgenommen wurden, fanden zunächst in der gigantischen Schattenwirtschaft – illegal – Arbeit. Gelang es ihnen dann später, ihren Status doch zu legalisieren, wechselten sie in den offiziellen Sektor der Wirtschaft über. Ihre Arbeitslosigkeit lag zum Teil unter der von Einheimischen, weil diese eine starke Tendenz haben, in ihrem Geburtsort zu verbleiben, wo sie mit der Unterstützung der Familie (viele junge Italiener wohnen auch noch mit Ende 20 bei ihren Eltern) rechnen können.
Umgekehrt, so ist es zumindest der Presse, wie etwa dem Guardian (1. Februar 2018, Barbie Latza Nadeau: Migrants are more profitable than drugs) zu entnehmen, kontrolliert die Mafia direkt oder indirekt eine ganze Reihe von Aufnahmestellen für Flüchtlinge im Süden. Die Frauen werden in die Zwangsprostitution gezwungen, die Männer für einen Hungerlohn als Leiharbeiter in der Landwirtschaft oder an anderer Stelle, etwa auch als Drogendealer, eingesetzt. Der ohnehin schon wenig effiziente italienische Staat ist durch das Problem, obwohl die Zahlen deutlich geringer sind als in Deutschland, sichtlich überfordert und die Migranten einfach nach Norden weiterzuschicken, funktioniert nicht mehr ganz so reibungslos wie in der Vergangenheit. Vielen müsste man dazu wohl auch die Reise von Staats wegen finanzieren, da sie kein Geld haben.
Ihm zu widerstehen, ist wegen der systemrelevanten Größe Italiens und der inneren Logik des Eurosystems kaum möglich, und die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Regeln der Eurozone in einer Krise unweigerlich suspendiert werden. Das wird auch in Zukunft nicht anders sein. Italien wird damit seine Probleme erfolgreich in den Rest Europas exportieren, so wie die Probleme Süditaliens nach der nationalen Einigung schrittweise die ganz Italiens geworden sind. Dass es noch einmal gelingen könnte, hier das Steuer herumzureißen, ist recht unwahrscheinlich. Dazu müssten auch die Wähler Italiens umdenken und echten Reformern mehr als nur vorübergehend eine Chance geben. Aber eher werden italienische Männer nach deutschem Vorbild Sandalen mit Socken tragen, als dass sie der süßen Versuchung widerstehen, Männer wie Berlusconi, Beppe Grillo oder Matteo Salvini als Retter zu feiern. Auch wenn sie vielleicht nicht wirklich an die Rhetorik dieser Zauberkünstler glauben, aber Spaß macht es halt dennoch, dem Staat eins auszuwischen, indem man solchen Leuten Macht und Einfluss verschafft. Auf die Dauer wird uns Deutschen vielleicht nichts anderes übrig bleiben, als uns diese Perspektive auch zu eigen zu machen, da wir uns nun einmal mit dem Euro entschieden haben, die Probleme Italiens zu unseren eigenen zu machen.