Tichys Einblick
Schon wieder eine Schulstress-"Studie"

Elf Argumente gegen das Gerede um Schul-Stress

Nach einer von "Duden Learnattack" bei YouGov in Auftrag gegebenen "School-Life-Balance-online-Studie" meinen 70 Prozent der Eltern, ihr Kind empfinde im Schulalltag "ein gewisses Maß an Stress". Befragt hatte man Eltern von Kindern im Alter von fünf (sic!) bis 19 Jahren. Allein schon die großspurigen Bezeichnungen der Auftraggeber der Studie und die Altersangaben machen stutzig.

© Sean Gallup/Getty Images

Es vergeht kein Halbjahr ohne eine „Studie“ über Schulstress. Zuletzt war es im September 2017 eine Studie der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK). Jetzt folgte nach fünf Monaten wieder eine „Studie“. Danach meint unter anderem etwa die Hälfte der Eltern, ihre Kinder hätten zu wenig Freizeit. Als Ursachen für den Schulstress sieht ebenfalls rund die Hälfte der Eltern schulischen Leistungsdruck, schulische Leistungskontrollen und Hausaufgaben.

Aber es ist mal wieder eingeredeter Stress. Die politische Folge solcher „Studien“ freilich wird sein, dass Schule noch mehr zur Spielwiese verkommt und Schüler noch mehr „gepampert“ werden. Mindestens elf Argumente sprechen gegen das Stressgerede.

Erstens: Viele Kinder sind auf der falschen Schule. Nachdem bis auf Bayern alle deutschen Länder den Zugang zum Gymnasium unabhängig vom Leistungsvermögen der Kinder freigegeben haben, befinden sich eben zu viele Schüler in einer Schule, deren Anforderungen sie nicht gewachsen sind.

Zweitens: Die Leistungsanforderungen sind immer geringer geworden. Was vor zwei
Jahrzehnten in der zweiten Klasse verlangt wurde, ist heute oft in die vierte Klasse verlagert; was heute in den zehnten Klassen verlangt wird, war früher Stoff der achten Klasse. Die Folge ist, dass die Noten inflationär immer besser und die Quoten an Sitzenbleibern immer geringer werden.

Drittens: Hausaufgaben sind kein Stress, sondern eine Chance zum Einüben und ein Mittel der Erziehung zur Eigenverantwortung. Darüber hinaus sind Hausaufgaben – so sie denn von den Schülern und nicht von den Eltern erledigt werden – ein wichtiges Diagnostikum für Lehrer. Was können meine Schüler nun, was muss ich noch mit ihnen üben?

Viertens: Wenn viele Kinder wirklich immer weniger Freizeit haben, dann hat das mit der Ausdehnung von Ganztagsschulen zu tun. Eltern wollen diese Art von Schule, damit sie Familie und Beruf miteinander verbinden können. Aber für die Kinder ist das Verschulung von Freizeit.

Fünftens: Manch von den Kindern gefühlter Stress ist ein von manchen Eltern in sie hinein projizierter Stress. Diese Eltern wollen ehrgeizig einerseits das perfekte Kind, sie wollen aber andererseits wenig Zeit in ihre Kinder investieren, weil ihnen Karriere und Wellnessprogramme ebenso wichtig sind wie ihre – statistisch – 1,4 Kinder.

Sechstens: Freizeit haben die Kinder nach wie vor genug. Nur womit verbringen sie einen großen Teil ihrer freien Zeit? Mit Herumdaddeln auf ihren Mäusekinos, mit WhatsApp, Facebook. Nicht mit echtem sozialem und motorischem Ausgleich.

Siebtens: Viele Kinder schlafen zu wenig. Sie kommen zu spät ins Bett, und im Kinder- und Schlafzimmer locken dann auch noch Fernseher, PC und Handy.

Achtens: Vor fünfzig Jahren begann mit der 68er Pädagogik die Diskreditierung des Leistungsprinzips. Es wurde verächtlich gemacht, weil es faschistoid, systemstabilisierend und unmenschlich sei. Eine Spaß- und Kuschelschule ist gerade auch vor dem Hintergrund „hungriger“ Ost-Asiaten und Ost-Europäer zukunftsfeindlich. Eine solche Schule benachteiligt zudem Kinder aus sozial schwächeren Milieus, weil deren Eltern schulische Versäumnisse nicht ausgleichen können.

Neuntens: Bildung geht nur mit Anstrengung und Leistung. Vielleicht schafft es auch „moderne“ Pädagogik einmal, zwischen zwei Formen von Stress zu unterscheiden: dem guten Eu-Stress, der mobilisierend und vitalisierend wirkt, und dem schlechten Dys-Stress, der belastet. Das Problem ist nur, dass „moderne“ Pädagogik Kindern und Eltern suggeriert, alles an Schule sei Stress.

Zehntens: Wir muten unseren Kindern zu wenig zu, weil wir ihnen offenbar zu wenig zutrauen. Viele unserer Kinder sind nicht ausgelastet oder falsch ausgelastet. Sind Kinder aber nicht ausgelastet, so langweilen sie sich. Und Langeweile macht oft aggressiv.

Elftens: Ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt: Die aktuelle „Studie“ ist von „Duden Learnattack“ in Auftrag gegeben. Duden betreibt unter diesem Namen eine online-Plattform und verspricht dort „Einfach bessere Noten!“. Man kann da einiges buchen, zum Beispiel für einen Monat Lernhilfen samt 1 Stunde wöchentlicher Nachhilfe zu 99,95 Euro. Man kann auch – laut Website angeblich „meistgewählt“ – für 24 (!) Monate buchen.

24 Monate Nachhilfe? Wetten, dass kein Kind damit – zumindest außerhalb gewisser Bundesländer – zum Abitur kommt!?


Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop

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