„Der Feind meines Feindes ist mein Freund!“ Kaum ein Satz charakterisiert die Konfliktzonen im Syrischen Krieg besser als diese bereits in der Antike gültige Formel. Und so könnte es sein, dass sich der türkische Präsidialdiktator Recep Tayyip Erdogan in mehr als nur einer Hinsicht verkalkuliert hat.
Wechselnde Fronten
Wie einst in den zahlreichen Kriegen der frühen Neuzeit, die als „Dreißigjähriger Krieg“ auf deutschem Boden in die Geschichte eingegangen sind, stellt sich die Situation im von Kriegshandlungen zerrissenen Syrien dar.
Auf der einen Seite findet sich der Alawit Bashar AlAssad („der Löwe“), der als dem islamischen Schiitentum nahestehender Säkularist die mittlerweile mehr als heimliche Unterstützung der iranischen Mullahs ebenso wie der libanesischen Schiitenmilizen genießt. An seiner Seite stehen die Russen, denen es sowohl darum geht, ihren letztverbliebenen Mittelmeerstützpunkt in Tartus ebenso zu sichern, wie sich den Zugriff auf die vor Syriens Küste vermuteten Erdgasvorkommen erhalten wollen.
Eine weitere, bedeutende Gruppe ist die kurdische Ethnie, die im Norden und Nordosten Syriens die Bevölkerungsmehrheit stellt. Sie hatte sich zu friedlichen Zeiten mit dem Alawiten-Regime arrangiert, drängt jedoch nach wie vor auf innerstaatliche Autonomie in ihren Siedlungsgebieten. Ihre bewaffneten Einheiten der YPG stellten in der Vergangenheit die Speerspitze gegen die Radikalmuslime, hielten sich aus Konflikten mit der alawitischen Zentralregierung jedoch weitgehend heraus. Sie, die in Rojava im Nordosten und Afrin im Nordwesten Syriens faktisch die Kontrolle innehaben und dort befriedete Schutzräume einrichten konnten, werden von der Türkei neben den Schiiten als Hauptfeinde ausgemacht, weshalb sie als „Terroristen“ an der Seite der bewaffneten Kurdenopposition der Türkei, der PKK, diffamiert werden.
Osmanische Träume
Erdogan, der dem politischen Islam der Muslimbruderschaft zuzurechnen ist, war es seit Anbeginn des Konfliktes darum zu tun, seinen Einflussbereich auf den Norden Syriens und den benachbarten Irak auszudehnen. Er träumt davon, im optimalen Falle die Grenzen des 1918 untergegangenen Osmanischen Reichs wiederherstellen zu können – wohl wissend, dass die Arabische Halbinsel für ihn unerreichbar ist. Doch hat er seine Begehrlichkeiten nicht nur mit Blick auf Israels Hauptstadt Jerusalem mehr als einmal deutlich gemacht. Deshalb besetzte er Teile des Nordirak, auch wenn er sich auf Druck der USA bei der Befreiung von Mosul zurückhielt. Deshalb auch schob er einen türkisch besetzten Keil zwischen die Kurdengebiete im Norden Syriens, sodass er und seine radikalislamischen Verbündeten heute auf Sichtweite zur Euphrat-nahen, von der SDF gehaltenen Stadt Manbidj stehen.
Gleichzeitig begreift es Erdogan in Fortführung der nationaltürkischen Schimäre des Staatsgründers Atatürk als Staatsräson, sämtliche Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden – gleich ob in der Türkei selbst, ob in Irak, Iran oder Syrien – wenn nötig mit allen Mitteln zu unterdrücken. Ihm ist bewusst, dass die Westalliierten seit dem Bruch ihrer 1920 gemachten Zusage von Sevres, den Kurden in den ehemals osmanischen Gebieten und damit auch in Ostanatolien die Abstimmung über staatliche Unabhängigkeit zuzubilligen, in der Schuld gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe stehen – und sie die Türkei lediglich deshalb ihren Osten gleich einer Kolonie zwangsverwalten lassen, weil sich von Frankreich über Großbritannien bis den USA die Siegermächte von 1918 der Vorstellung hingeben, mit der Türkei einen Verbündeten vor allem gegen Russland an ihrer Seite zu haben. Vorrangig deshalb, weil in den frühen Zwanzigerjahren Franzosen und Briten an der Seite der „Weißen“ gestanden und den Sieg der Oktober-Usurpatoren um Lenin nicht haben verhindern können, wurde 1923 den Jungtürken der Zugriff auf die ursprünglich den Armeniern und den Kurden zugesagten Territorien eingeräumt. Beides sollte verhindern, dass die junge Sowjetunion als „Schutzmacht“ dieser Gruppen ihren Einfluss über den Kaukasus nach Süden ausdehnen konnte. Seitdem führt die Türkei einen beständigen Krieg gegen die Kurden, der im Massaker von Dersim in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts einen traurigen Höhepunkt gefunden hatte.
Die PKK gilt gleichwohl bis heute, anders als die ebenfalls als Terrororganisation gegründete PLO, nicht als Befreiungsbewegung, sondern wird nicht nur in der Türkei als terroristische Vereinigung eingeordnet. Aus dieser Einordnung und der behaupteten inhaltlichen Nähe zu den kurdischen Milizen in Syrien leitet Erdogan seine offizielle Begründung des türkischen Überfalls auf Syrien ab: Vorgeblich gehe es darum, die „Terroristen“ der YPG (wir erinnern uns: es sind die Verbündeten der USA im Kampf gegen die Islamfundamentalisten) zu vernichten – wobei „vernichten“ tatsächlich genau dieses meint. Denn auf Gefangene legen die Invasoren keinen Wert – von ihren radikalislamischen Hilfstruppen ganz zu schweigen.
Erdogans Angriffskrieg
Folglich sah Erdogan Anfang Januar den Zeitpunkt gekommen, um sein Ziel der Vernichtung der Kurdischen Siedlungsgebiete an seiner Südgrenze anzugehen und für eine denkbare Nachkriegsordnung wenn nicht Territorialgewinne, so zumindest Einflusszonen sichern zu können. Ungeachtet der Warnung durch Assad, dass die syrische Zentralregierung einen Überfall auf die Kurdengebiete als Angriff auf die Souveränität Syriens betrachten werde, schickte der Islamnationalist die Söhne seiner Türken zum Morden und Sterben über die Grenze.
Damit allerdings hat er die labile Binnenstruktur der Konfliktlinien in Syrien erheblich beschädigt – und so könnte es sein, dass sich Erdogan nicht nur eine blutige Nase holt, sondern ungewollt eine bislang kaum vorstellbare Lösung des innersyrischen Konfliktes befördert und – sollte es für ihn unglücklich laufen – sogar den Bestand der territorialen Integrität der Türkei gefährdet.
Ein Schulterschluss zwischen Alawiten, Kurden und Demokraten
Vieles deutet darauf hin, dass sunnitisch-säkulare SDF, kurdische YPG und alawitische Regierungstruppen nun den Schulterschluss finden werden, um den Aggressor aus dem Norden in seine Schranken zu weisen. Denn immer noch gilt die Regel: Der Feind meines Feindes ist mein Freund – und mit seinem Überfall auf Afrin hat Erdogan sich nun als Feind aller Syrer offenbart.
Problematischer stellt sich die Situation für die SDF dar. Sie betrachteten lange Zeit den Alawiten Assad als Hauptgegner. Da sie jedoch, anders als die radikalislamischen Verbündeten Erdogans, nicht an der Vorstellung eines fundamental-sunnitischen Glaubensstaats hängen, sondern ursprünglich lediglich eine Demokratisierung des Landes anstrebten – und da sie weiterhin eine innersyrische Lösung selbst mit einem Assad der in leidvoller Vergangenheit erlittenen, osmanischen Fremdherrschaft vorziehen, könnte sich auch hier eine Überwindung der Gegensätze dann andeuten, wenn Assad entsprechende Zugeständnisse macht. Unabhängig davon gilt aber eben immer noch auch die alte Weisheit von den Feinden und den Freunden: Gemeinsamer Feind ist gegenwärtig die Türkei – ist dieser Feind besiegt oder zumindest vor die Tür gesetzt, wird man weitersehen können. Gibt es genug Gemeinsamkeiten, könnte darauf eine langfristige Konfliktlösung angelegt werden. Gibt es diese nicht, geht es in eine nächste Runde des innersyrischen Gemetzels.
Die Türkei ahnt die Niederlage
Die Türken ahnen, was ihnen bevorstehen könnte, wenn sich SDF, YPG und Syrische Armee vereinen. Und so darf es nicht verwundern, dass die türkischen Aggressoren lauthals verkünden, es auch mit der Zentralregierung aufzunehmen – womit der Welt abschließend der Beweis erbracht wird, dass Erdogans Bande einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – und keine Antiterroraktion – führt.
Spätestens damit werden nun ebenfalls weitere, nicht-syrische Beteiligte involviert.
Das Arabien der Sa’ud, welches ursprünglich den Konflikt beförderte, ist weitgehend aus dem Geschäft. Es ist mit seiner Thronfolge und dem nicht zum Sieg zu führenden Krieg gegen die jemenitischen Schiiten beschäftigt. Ansonsten führt es seinen Krieg gegen die Türkei über den Nachbarn Qatar. Dessen Herrscher stehen der Muslimbruderschaft nahe und gelten als Refugium des von Erdogan zusammengeraubten, türkischen Volksvermögens.
Nicht aus dem Geschäft ist der Iran, der an der Seite Assads steht. Jedoch laufen hinter den Kulissen in jüngster Zeit auch Kontakte zu kurdischen Gruppen mit dem Ziel, einerseits eine Lösung mit Assad zu finden, andererseits den Einfluss der Türkei zurückzudrängen. Sie könnten einer künftigen Befriedigung von Konfliktlinien zwischen Kurden und Alawiten hilfreich zur Seite stehen. Allerdings gilt sowohl den USA als auch den mit den Kurden sympathisierenden Israeli der Iran immer noch als einer der Hauptgegner.
Die Rolle der Großmächte
Eine maßgebliche Rolle spielen nach wie vor die beiden Großmächte Russland und USA. Die Russen stehen an der Seite Assads und damit auch zum Iran. Die USA stehen an der Seite der SDF und der YPG. Beide Großmächte eint jedoch, dass sie keinerlei Interesse daran haben, den türkischen Einfluss in der Region zu erweitern. Auch ahnen beide Seiten, dass eine weitere Internationalisierung des Syrischen Krieges in eine unmittelbare Konfrontation der Führungsmächte des Kalten Krieges führen könnte.
Auch die USA stehen längst schon vor einer Grundsatzentscheidung. Nicht erst im Kampf gegen die Radikalmuslime haben sie sich der Kurden als Bodentruppen bedient. Bereits im Kampf gegen Iraks Sadam Hussein standen die Kurden an vorderster US-Front. Wollen die USA nun einmal mehr zu Verrätern an ihren Verbündeten werden und damit im Nahen Osten jegliche Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen – nur um den mehr als unsicheren Kantonisten Erdogan in der NATO zu halten? Noch versuchen die Amerikaner, die Türken auf diplomatischen Wegen zur Vernunft zu bringen – doch es ist angesichts der faschistoiden Ideologisierung der AKP-Führung kaum mit Erfolg zu rechnen.
Kein NATO-Bündnisfall
Apropos NATO – gegenwärtig wird in internen Zirkeln darüber nachgedacht, wie sich das westliche Verteidigungsbündnis verhalten wird, sollte es vereinigten, syrischen Truppen mit russischer Unterstützung gelingen, nicht nur die Türken aus Syrien zu vertreiben, sondern in der Gegenoffensive in die Türkei einzumarschieren? Jene, die für diesen Fall den Bündnisfall als gegeben betrachten, haben derzeit schlechte Karten. Denn tatsächlich – so ist es in den Statuten des Bündnisses unanfechtbar festgeschrieben – gilt die Beistandsverpflichtung ausdrücklich nicht dann, wenn der Konflikt von einem NATO-Mitglied ausgelöst wurde. Soll heißen: Da die Türkei in Syrien ohne Anlass eingefallen ist, wird sie mit den Folgen allein zurechtkommen müssen.
Da der Islamnationalist ohnehin der US-Administration längst schon mehr als lästig ist, dürfte sie gegen das, was Erdogan als „osmanische Ohrfeige“ bezeichnete, dann nichts einzuwenden haben, wenn es den Präsidialdiktator selbst träfe. Lediglich eines hätte eine mögliche Gegenoffensive zu beachten: Den US-Stützpunkten in der Türkei dürften syrische Truppen nicht zu nahe kommen. Aber daran haben zumindest Assad und die ihn stützenden Russen derzeit kein Interesse, weshalb sich eine syrische Gegenoffensive voraussichtlich darauf beschränken wird, einen Schutzkorridor gegen die Osmanen zu sichern.
Die PKK als innertürkische Front?
Etwas anders könnte sich das allerdings im Osten Anatoliens darstellen. Denn dort könnte, nicht zuletzt auch, um den bedrängten Kurden in Afrin und Rojava Hilfestellung zu leisten, die PKK ihren Kampf auf türkischem Gebiet wieder aufnehmen. Das wäre zwar als innertürkischer Konflikt auch kein NATO-Bündnisfall, könnte jedoch unter Bezug auf Afrin dann zu interessanten Konstellationen führen, wenn sich Erdogan mit seinen Kriegsabenteuern übernommen haben sollte und die türkische Armee einen Vielfrontenkrieg führen müsste.
Ein Ende des Konflikts zwischen Schwarzem Meer und Persisch-Arabischem Golf ist insofern bis auf weiteres nicht absehbar. Allerdings könnte die angestrebte Kooperation zwischen SDF, YPG und Zentralregierung zumindest in Syrien einen Einigungsfrieden unter Ausschluss der Radikalmuslime befördern. EU, USA und mit ihnen die NATO wären gut beraten, eine solche Entwicklung nicht aus den Augen zu verlieren. Noch besser beraten allerdings wären sie, wenn sie ihrem türkischen „Verbündeten“ endlich derart nachhaltig auf die Finger klopften, dass dieser zumindest seine großosmanischen Abenteuerphantasien zurück in die Kiste der Pandora legt. Darauf, dass der Westen den Geiselnehmer und Rechtsstaatsvernichter aus Ankara zurück auf demokratische Wege zu führen vermag, ist allerdings schon längst nicht mehr zu hoffen. Zu groß sind mittlerweile die wirtschaftlichen Interessen bedeutender Global Player in Anatolien, als dass man es riskieren würde, den wilden Mann vom Bosporus auch mit unfreundlichen Mitteln zur Raison zu rufen.