Hart aber fair, Thema der Montagssendung dieses Mal: „Überlastet, überfordert, zu lasch – Was läuft schief bei den Gerichten?“ Gut, Plasberg konnte nicht ahnen, dass die AfD ausgerechnet an diesem Montag die SPD in den Umfragen überholt, so besprechen das Masterthema des Tages andere. Die spannende Frage höchstens, ob das eine mit dem anderen zu tun hat. Ob die Zustimmung für die AfD auch hier zur Sprache kommen könnte, wo die Judikative ihren Aufgaben nicht mehr zur Genüge nachkommt.
Die Gäste im Studio sind Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes und seit 2012 Direktor des Amtsgerichts Bielefeld. Gerhart Baum, er war für die FDP von 1978-1982 Bundesinnenminister. Die langjährige Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, die heute frei für die Welt tätig ist. Der Bundestagsabgeordnete Roman Reusch, AfD, bis 2017 Staatsanwalt in Berlin. Und der in der Runde wohl einflussreichste und jüngste Gast: der 38-Jährige Julian Reichelt. Er ist Vorsitzender der Bild-Chefredaktionen.
Plasberg erinnert zunächst daran, dass Urteile im Namen des Volkes gefällt werden, das könne allerdings kaum sein, wenn ein Kinderschänder immer wieder rückfällig werden würde, ohne dass er eine endgültige Sicherheitsverwahrung bekäme. Früher hatte das allerdings schon sein heutiger Gast Gerhart Baum gefordert. Die Anmoderation hätte Plasberg besser nicht vor seinen Zuschauern machen sollen. Denn über Kinderschänder sprechen, während hinter dem Moderator ein breites „Ich-bin-im-Fernsehen!-Grinsen das Gesicht einer jungen Rothaarigen verkrampft, wirkt doch arg merkwürdig. Egal.
Gesundes „Volksempfinden“ oder „Volkszorn“? Zunächst sei angemerkt, dass hier der Begriff „Volk“ offensichtlich kaum kontaminiert wirkt, wenn er von der Moderation so benutzt wird. Wir lernen: Volk ist eben nicht gleich Volk. 57 Prozent dieses Volkes empfänden heute Strafen für Jugendliche als zu mild. Und das hat für die Redaktion offensichtlich unmittelbar mit Zuwanderern zu tun. So wird als erstes das Beispiel jugendlicher „Flüchtlinge“ eingespielt, die aus Langeweile einen Obdachlosen anzündeten. Plädoyer der Staatsanwaltschaft: versuchter Mord. Die Jugendkammer des Landgerichtes Berlin sah hier nur versuchte schwere Körperverletzung und verurteilte einen Täter zu 33 Monaten Haft, die anderen bekamen Bewährung oder kleinere symbolische Arreststrafen und wurden wegen der „langen“ U-Haft sofort entlassen. Zwei Monate später begingen zwei der Täter mutmaßlich einen schweren Raub. Einer der beiden wird aktuell von der Haft verschont bis zur Verhandlung, wann immer diese kommen wird.
Jens Gnisa erinnert an die juristische Beurteilung der Fälle. Staatsanwälte und Richter wären da öfter mal anderer Auffassung. Das Jugendstrafrecht hätte auch erzieherische Aufgaben. Grundsätzlich funktioniere das sogar. Die Jugendkriminalität nähme sogar ab. Aha.
Ein kleiner unbedeutender Stylingtipp zwischendurch an Drei-Tagebart-Julian-Reichelt: Bitte gerne auch die oberen Hemdknöpfe zumachen oder Krawatte tragen, wenn der Bart sich quasi unterbrechungslos fortsetzt … Aber zur Sache: Reichelt unterscheidet zwischen gesundem Volksempfinden, dem er als Bild-Chef wohl mehr vertraut, als Juristen, die die Mordabsicht bei „Feuer legen unter Obdachlosen“ lediglich als Körperverletzung betrachteten. Rechtssprechung und Rechtsempfinden gingen hier zu massiv auseinander. Starker Applaus aus dem Publikum.
Roman Reusch erinnert daran, dass es unter Jugendlichen echte Kriminelle gibt und nur bürgerliche Jugendliche, die mal Mist gebaut hätten. Wenn man aber Kriminellen lasche Bewährungsstrafen gäbe, dann sei das „die Aufforderung zum Tanz“. Die Botschaft sei hier: „Du kannst machen, was du willst“.
Als der AfD-Abgeordnete und Ex-Richter auf Bitten von Plasberg ziemlich unaufgeregt berichtet, dass schon vor zehn Jahren die Masse der jugendlichen Intensivtäter, nämlich 70 Prozent, einen orientalischen Migrationshintergrund hatten, werden die anderen Gäste unruhig. Reflexartig wedelt Gerhart Baum mit den Flügeln, was denn „Masse“ bedeute. Hatte Reusch aber erklärt: 70 Prozent. Also muss er es dem älteren Herrn noch mal erklären. Macht er gerne. Aber klar, Reusch legt nach: Bewährungsstrafen sind für Orientalen schlicht ein Zeichen von Schwäche. Und dabei kann man sicher sein, dass deutlich mehr als 16 Prozent der Fernsehzuschauer in diesem Moment sagen: „Genau, ist so!“ Denn natürlich haben diese Zuschauer noch genau in Erinnerung, wie Politik und Medien jahrelang versucht haben, die Kriminalität von Zuwanderern klein zu reden.
CDU-Mitglied Jens Gnisa gibt den Empörten gegenüber dem AfD-Abgeordneten. Die Tätergruppe (Zuwanderer) wäre doch völlig unrelevant, es geht also offensichtlich noch aufgeregter, als es Baum schon vorgeführt hat. In dem Moment allerdings erstaunt Frank Plasberg, als er Gnisa ziemlich deutlich macht, dass er das bei Reusch gerade völlig anders empfunden hätte, im übrigen sei das Thema „Flüchtlinge“ gerade von ihm als Moderator eingeführt worden, nicht vom AfDler. Wumms.
„Die Zuschauer haben das offensichtlich anders verstanden“, grinst Gnisa. Kann der Mann durch die Kameras auf die Wohnzimmersofas schauen? Ideologie frisst Verstand. Der Verständnislose allerdings ist Vorsitzender des Richterbundes. Vielleicht sagt das gerade am meisten aus über den desolaten Zustand der Deutschen Justiz (zum Ende der Sendung wird sich das noch einmal eindrucksvoll bestätigen). Klar, wenn die Justiz eine politische wird, wird es gefährlich für alle Bürger. Gleich welcher Nationalität, Ethnie oder sonstwas. Blödsinn nutzt am Ende niemanden – das ist keine so komplizierte Weisheit.
Gisela Friedrichsen weiß mehr zu dem vorgestellten Fall des brennenden Obdachlosen. Die Täter hätten mitnichten „Feuer unter dem Mann gelegt“, es sei ein brennendes Taschentuch gewesen, das man neben den Obdachlosen auf die Bank gelegt hätte. „War er nicht genug angezündet?“ unterbricht Reichelt forsch. Hart aber Fair als turbulentes Fernsehgericht.
Schnitt: Plasberg zieht die Schraube an und kommt zum sexuellen Vergehen an Kindern. Hier sei die Diskrepanz zwischen Rechtssprechung und Volksempfinden besonders deutlich. Prominentes Beispiel: Ein Kinderschänder als Widerholungstäter bekam vor Gericht mildernde Umstände, weil ihn Reichelts Bild-Zeitung in Großaufnahme gezeigt und vorverurteilt hätte, was das Gericht wohl als stark stigmatisierend beurteilte und strafmildernd ins Urteil einwob. Bitter für Reichelt, der eine Sekunde lang auch den Zerknirschten gibt, aber feststellt: Stark stigmatisiert hätte sich der Täter selbst und er sei kein Kinderschänder, weil die Bild das titelt, sondern weil er Kinder geschändet hätte. Und man hätte das Bild nicht verpixelt, weil so jemand für schwere Straftaten mit Namen und Gesicht einstehen müsse. Die Hart aber Fair-Redaktion sah das anders und verpixelte das Foto.
Reichelt weiß, dass die Richterin in ihrem Urteil gesagt hatte: „Wir gehen davon aus, dass sie es wieder tun werden“ und gleichzeitig mildernde Umstände geltend gemacht hätte. Das versteht Reichelt nicht, angewandt bei einem Täter, der Kinder im Bettkasten gehalten hat, wo die Beamten, welche die Kinder befreit hätten, traumatisiert wären und später ihren Job hingeschmissen hätten.
Zu Gisela Friedrichsen gewandt, schmettert er deren Erklärung zu den Tätern am Obdachlosen ab, über die Friedrichsen gesagt hatte, es sei ja Weihnachten gewesen und niemand hätte sich um die Jugendlichen gekümmert: Weihnachten hätte wohl für diese Jugendlichen (Zuwanderer) möglicherweise keine so starke Bedeutung, kontert Reichelt und erntet dafür wieder Applaus.
Für Reichelt hat seine BILD die Aufgabe, Fälle, die vor einem öffentlichen Gericht verhandelt werden, auch denen zugänglich zu machen, die daran nicht öffentlich teilnehmen könnten: also mit Namen und Bild des Täters auf dem Titelbild. Gerhart Baum ist unzufrieden. Sicher ist ihm Heinrich Bölls scharfe Bild-Kritik „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ präsenter, als Reichelt, der in der Schule eine andere Lektüre lesen musste, als noch Schüler (wie übrigens auch der TE-Autor hier) zu RAF-Hochzeiten, als Baum Innenminister war und Teil des heute ausgestorbenen linksliberalen FDP-Flügels.
Also was ist mit der deutschen Justiz los? Offensichtlich tadellos funktioniert sie für Widerspruchsklagen bei abgelehnten Asylverfahren, wenn auch schleppend und quälend langsam. Aber stopp, wir sind bei Plasberg beim Thema Kindesmissbrauch. Und Plasberg fragt, ob die Veröffentlichung des Fotos des Täters in der Bild nicht vorteilhaft wäre für die späteren Nachbarn des wieder freigelassenen Täters, so diese Kinder hätten.
Was auffällt, dieser Julian Reichelt ist ein echter BILD-Mann. Die Stimme des Volkes ist bei ihm wieder auf eine Weise präsent, wie sie ein Kai Diekmann als enger Vertrauter von Helmut Kohl nie hatte spielen können. Gerhart Baum kennt Reichelts Vorvorgänger der 1970er und 80er Jahre sicher noch gut. Aber Baum und Reichelt sind sich am Beispiel eines furchtbaren Einzelfalles von Kindesmissbrauch trotzdem einig: Hier handelt es sich um ein systemisches Versagen der Justiz.
Was man hier zwischendurch feststellen kann: Der AfD-ler ist als solcher nicht mehr präsent. Mal von Baums Eingangsangriff abgesehen ist hier bei Plasberg so etwas wie Normalität eingetreten. Das mag auch daran liegen, dass Roman Reusch als Ex-Richter vom Fach ist. Der Buhmann in der Runde bleibt, zumindest für Gerhart Baum, der Bild-Chef, der für mehr Sicherheitsverwahrung plädiert. Bei Baum ein Reflex aus den 1970ern?
Die Zuschauereinspieler ergeben: Den Menschen da draußen ist ein „Gefühl der Sicherheit und auch der Gerechtigkeit abhanden gekommen.“ Zuwanderung sei ein Thema, was die Zuschauer besonders bewegt, weiß Plasbergs Assistentin Brigitte Büscher.
Jens Gnisa lobt zwar reflexartig die Courage der Mutter und bestätigt indirekt das Versagen des Gerichtes, liefert dann allerdings eine Schweinerei ab, die wohl im deutschen Fernsehen zu den größeren gehört: Er verweist ausgerechnet in diesem Zusammenhang auf Verfahren am gleichen Gericht (Koblenz) gegen Rechtsradikale, die mittlerweile sogar geplatzt seien. Das muss man sich erst einmal verinnerlichen. Es stimmt also etwas mit der Prozessordnung nicht, weil Rechtsradikale nicht verurteilt werden könnten, während eine Mutter am Tisch sitzt, die auf ein Verfahren gegen die Quäler ihrer Kinder wartet und das in der Sendung, in der anfangs die lasche Justiz gegen Zuwanderungstäter verhandelt wurde.
Nein, wer auf solche Weise sein Amt als Vorsitzender des Deutschen Richterbundes offensichtlich politisch-ideologisch missbraucht, macht ohne viel Umschweife klar, woran das System tatsächlich krankt. Und an der Stelle wollen wir diese Sendung schon ein paar Minuten vor Schluss beenden und Frank Plasberg ein Lob aussprechen für eine gute Sendung und eine ebensolche Moderation.
Bilder: Screenprint ARD/hart aber fair