Mit einer epigrammatischen Sentenz hat Erich Kästner, der große Dichter der kleinen Freiheit tröstende Lebensweisheit spenden wollen. Sie sollte allerdings nicht dazu führen, dass wir uns mit den politischen Sitten – wie sie sich in Deutschland eingeschlichen haben – abfinden.
„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?
fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich:
Leben ist immer lebensgefährlich.“
I. Deutsche Zustände
Erinnern wir uns: Seit dem 24. September 2017 steht fest, wer Stimmen verloren und wer solche gewonnen hat. Selbst ein Geist wie Martin Schulz hatte keine Mühe, das Wahlergebnis richtig zu interpretieren. Er wolle, so seine Folgerung nach der Wahl, von nun an mit seiner SPD die Oppositionsrolle ausfüllen, wenn auch nicht als Fraktionsvorsitzender im Bundestag.
Indessen wurde nicht so verfahren, wie es das Grundgesetz vorsieht, nämlich alsbald eine Regierung konstituiert, die sich der Bestätigung des Deutschen Bundestags durch Wahl des Bundeskanzlers stellt.
Ganz im Gegenteil: es wurde auf den Balkons der Parlamentarischen Gesellschaft ein Schauspiel wie auf dem roten Teppich von Bayreuth veranstaltet. Hierbei waren wir Bürger zumindest interessierte aber zunehmend ungeduldige Zuschauer. Das Schauspiel hieß Jamaika oder „Wie wächst zusammen, was nicht zusammen gehört?“. Frau Göring-Eckardt schäkerte mit Herrn Kubicki, und die Parteisekretäre gaben vor laufenden Kameras repetitive Erklärungen über ihren guten Willen ab, die Sondierungen mit dem Ziel zu führen, danach in Koalitionsverhandlungen einzutreten. Grünen-Chef Özdemir und CSU-Landesgruppenvorsitzender Dobrindt fanden schließlich zum „Du“. Welch ein Fortschritt, welche Harmonie im deutschen Parteienstaat!!
Doch das triste Ergebnis kennen wir mittlerweile: Herr Lindner erfasste die drohende Gefahr einer Einkreisung durch CDU und Grüne. Und die SPD hat sich es inzwischen anders überlegt. Das Ergebnis ist bedrückend: Deutschland hat immer noch keine handlungsfähige Regierung, sondern übt sich im Parteiengezänk und entblößt sich vor Europa als ein Land, in dem sondiert aber nicht regiert wird.
Das vorbeschriebene Verhalten belegt, dass es an einer preußischen Tugend jedenfalls allen Parteien fehlt und insbesondere ihren Sekretären: der Ausrichtung ihres politischen Strebens am Gemeinwohl, der Unterordnung von Parteiinteressen unter das Staatsinteresse und dem Vorrang der Bundesgewalt gegenüber den Partikularinteressen der Länder.
Seit dem 8.Dezember verhandelt die SPD, um mit der CDU/CSU, jene Koalition neu aufzulegen, die am 24. September eindeutig abgewählt wurde: die GroKo, wie sie mittlerweile überall verächtlich heißt. Wird sich dieses Parteienkartell für weitere vier Jahre wie ein Mehltau über das Land legen? Müssen wir das Lügenlächeln und den Scheinwettbewerb der Gro-Ko-Stars weitere vier Jahre miterleben, um uns einzubilden, regiert zu werden?
Besonders bedrohlich an dieser Entwicklung ist die Autonomisierung der Parteien im Staat: während die Mitglieder des Bundestages untätig im Parlament sitzen, entscheiden Parteisekretäre über Deutschland. Nicht einmal die Ausschüsse des Bundestages – die Keimzellen des Arbeitsparlaments – haben sich lange konstituiert.
Die letzte Volte von Frau Merkel: Nach dem sogenannten Durchbruch bei den Sondierungen am 10. Januar mit einem „Katalog von Geben und Nehmen“ soll nun bis Ostern über eine Regierungsbildung verhandelt werden. Seehofer ist über das Ergebnis „hochzufrieden“, Schulz findet es gar „hervorragend“: Damit hätte Deutschland sieben Monate mit der Bildung einer Regierung verbracht, die nicht halten wird, weil sie nicht halten kann.
II. Ihre Ursachen
Ich will Sie, sehr verehrte Damen und Herren, nicht langweilen, indem ich jenes Parteien-Schauspiel, das sich uns seit Monaten bietet, noch eindringlicher beschreibe. Es ist Ihnen hinlänglich bekannt. Die drängende Frage ist daher auch nicht so sehr, wer mit wem demnächst koaliert, wer wen duldet und wen man in die Sondierungen einbezieht.
Hierzu möchte ich im Interesse einer verfassungspolitischen Diskussion im noch frischen Jahr einen Vorschlag unterbreiten.
Halten wir den verfassungsrechtlichen Ist-Zustand zunächst fest:
Der föderalistische Parteienstaat beruht im Wesentlichen auf
- dem Parteienprivileg des Art. 21 GG,
- einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, das die Aufstellung der Kandidaten dem Monopol von Parteien anvertraut sowie
- der Ewigkeitsgarantie der gegenwärtigen Ländervielfalt, die auch Zwerggebilde wie das Saarland und Bremen oder kommunale Sümpfe wie Berlin mit dem rechtlichen Kostüm der Staatlichkeit ausstattet und in ihrem Bestand schützt.
Das Parteienprivileg des Art. 21 GG wurde einst geschaffen, um die Parteien als intermediäre Gewalten zwischen Bürger und Staat fest zu verankern. Dies geschah im Lichte der Erfahrungen der Weimarer Republik. In der bundesdeutschen Realität sind die Parteien im Parlament Finanzierungsbeschaffer für die mittlerweile megagroßen parteinahen Stiftungen geworden. Diese sorgen ihrerseits dafür, dass abgewähltes politisches Personal recycelt wird. Es ist erstaunlich, wie schnell die Grünen aber auch die Die Linke es lernten, das Auf und Ab des politischen Wettbewerbs dadurch auszugleichen, dass man sich im Parlament gemeinsam mit allen anderen Parteien für die großzügige Finanzierung von Parteistiftungen einsetzt.
Die Parteien schwimmen im Geld, solange sie im Parlament sitzen. Für ihre Stiftungen genehmigen sich die Parteien – zu Lasten der Steuerzahler – ständig steigende Haushaltszuweisungen. Mittlerweile sind es fast 500 Mio. Euro jährlich.
Endlich wird auch die deutsche Öffentlichkeit aufgrund des parlamentarischen Durchmarsches der AfD auf jene Pfründe aufmerksam, die mit der Erlangung dieses Status einhergehen. Wir haben es also mit dem Art. 21 GG geschafft, eine Politikerklasse zu züchten, diese zu nähren und damit eine berufliche Perspektive zu schaffen, die darin besteht, von Parteipolitik zu leben – solange es der Partei gefällt. Dieser warme Wellness-Pool ist ein willkommenes Becken für Nicht-Schwimmer oder solche, die beim Leistungsschwimmen nicht zugelassen waren oder sonst wie scheiterten.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter, Prof. Dr. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde, wies mahnend auf die Konsequenzen diese Verhaltens hin: Sei der Wille, Repräsentant des ganzen Volkes zu sein, abhandengekommen
„kann demokratische Repräsentation nicht zustande kommen und die Bürger entbehren der Möglichkeit entsprechender Artikulation ihrer selbst.“
Die Folgerung von Böckenförde ist weitreichend:
„Wird diese Aufgabe nicht oder nur unzulänglich gemeistert, werden Repräsentationserwartungen der Einzelnen oder auch der Bürger insgesamt durch das Handeln der Repräsentanten enttäuscht, vermögen sie sich in diesem Handeln nicht irgendwie wiederzuerkennen, verliert das demokratische politische System seine Legitimationsbasis.“
Mit anderen Worten: Haben die Bürger den Verdacht, die Parteien verhandeln vorrangig über ihr Wohlergehen und nicht um das Wohl aller, wenden sie sich – mit Recht – von diesem politischen System ab.
Genau diese Situation liegt in Deutschland vor:
Die Bürger empfinden Ohnmacht gegenüber einem politischen System, dessen Irrlauf nur noch durch eine Katastrophe aufzuhalten scheint. Denn weder die ordnungspolitisch kompasslose Bundeskanzlerin – seit Wochen medial zurückgezogen und nur bei den Sternsingern lächelnd -, noch der auf die Ausnutzung Deutschlands zielende Monsieur Macron sind bereit, ihre Euro-Irrtümer seit der fahrlässigen, stets wiederholten Garantieerklärung für Griechenland einzugestehen. Sie sind zusammen mit dem Gewaltenkonglomerat in Brüssel Gefangene ihrer tragischen Fehleinschätzungen bei der Beurteilung der Causa der anhaltenden Eurokrise. Dass ihre Rezepte nicht wirken, führen sie darauf zurück, dass die verordneten Medikamente nicht in ausreichender Dosis verabreicht wurden.
Die Europa-Politik der Bundeskanzlerin und der sie hierbei überholenden SPD besteht im Wesentlichen in der Preisgabe deutscher Souveränität. Deutschland soll im Namen Europas für das Fehlverhalten von Staaten und deren Banken haften, ohne hierfür die geringste Schuld zu haben. Die Reduzierung Deutschland auf eine Haftungsmasse ist der Traum von Macron und Schulz, wird aber zum Albtraum der deutschen Steuerzahler. Der Ausbau der Eurozone zu einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit steht auf der Agenda der GroKo ganz oben, obwohl eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bürger zu diesem Opfer für Europa nicht bereit ist.
Über die Fahrlässigkeiten der großen Koalition bei der Einwanderungspolitik brauche ich in diesem Kreise kein Wort zu verlieren. Die Preisgabe der Kontrolle über die deutschen Grenzen ist allen Bürgern einsichtig geworden. Die Popularität von Frau Merkel in der arabischen Welt schlägt indessen alle Rekorde. Muss ich mich entschuldigen, wenn ich diese Politik als souveränitätsvergessen und bürgerfremd bezeichne?
III. Der Weg aus der Verfassungskrise
Zurück zum institutionellen Kostüm der deutschen Republik und seinen Legitimitätsdefiziten bei der demokratischen Repräsentation.
Das deutsche Wahlsystem hat zwei Nachteile:
- Da kleinere Parteien nur über Listen Abgeordnete ins Parlament bekommen, wird praktisch auf Parteitagen über die Wahlchancen von Kandidaten entschieden. Diese Listenkandidaten müssen also nur dafür sorgen, einen guten Platz auf der Landesliste zu bekommen, um mit einiger Sicherheit ins Parlament einzuziehen. Der Wähler entscheidet nicht über Personen, sondern über Listen. Dass, wie im Grundgesetz gefordert, auch diese Listenabgeordneten Vertreter des gesamten deutschen Volkes sind und daher dem gesamtstaatlichen Interesse dienen müssen, ist ein illusorisches Postulat. Die Nominierungsmodalitäten derartiger Listenheinis sind Ihnen hinlänglich bekannt. Sie kommen darin zum Ausdruck, dass es heißt: „Herr oder Frau X sitzt für die SPD/CDU/CSU im Bundestag.“
- Das Mehrheitswahlrecht für die direkt gewählten Kandidaten sieht nicht vor, dass ein Mindestquorum erreicht werden muss. Man kann auch mit 25 % der Stimmen im jeweiligen Wahlkreis in den Bundestag kommen, obschon die nächststärkeren Kandidaten 23 % und 24 % der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Dies alles gilt es zu ändern. Ein Mehrheitswahlrecht, das in zwei Gängen nur solche Kandidaten in die Parlamente schickt, die in der Stichwahl mehr als 50 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können, honoriert Persönlichkeit, Unabhängigkeit und relativiert die Nominierungsmacht der Parteien. Die Parteien bekämpfen die Neugliederung des Bundesgebietes. Sie halten an den 16 Bundesländern tel quel fest. Denn diese Kunstgebilde der Besatzungsmächte sind ihre Flucht- und Trutzburgen. Eine Länderreform hätte nicht nur zur Folge, dass Zwerggebilde wie das Saarland und Bremen ihre Staatlichkeit verlieren würden, sondern dass endlich eine Ost-West-Verzahnung zwischen den Bundesländern stattfinden könnte und administrative Rationalisierungsreserven erschlossen würden (und die politischen Beschäftigungsgesellschaften der Landesparteien liquidiert). Aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen könnte ein eigenes Gebilde werden, ebenso würden Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen zu einem Ost-West-Flächenstaat werden. Völlig verkrustete Gebilde wie NRW – ein Bundesland mit schwieriger Identität, administrativ am ehesten mit Griechenland vergleichbar – könnten entflochten werden. Die politische Klasse wird sich gegen solche Neugliederungsversuche unter dem Vorwand, die Bevölkerung wolle dies nicht, mit Händen und Füßen wehren, weil sich die Parteien in den Ländern eine Machtbasis geschaffen haben, die sie auf gar keinen Fall aufgeben wollen. Dies gilt neben den Landesverwaltungen insbesondere für die landeseigenen Rundfunkanstalten, die sowohl ein Beschäftigungsprogramm als auch eine Propagandabasis darstellen. Die föderalistische Zersplitterung und ihre Verteidigung durch die Parteien wirkt sich in all jenen Feldern fatal aus, wo schnelles und entschlossenes Handeln zur Gefahrenabwehr für den Gesamtstaat unabdingbar ist. Der Vollzug der Abschiebung ist Ländersache, weil die Länder die hoheitliche Befugnis der Polizeigewalt haben. Die endlosen Diskussionen zwischen Ländern unterschiedlicher parteipolitischer Couleur über die unverzügliche Abschiebung von Straftätern, die sich ins deutsche Asylrecht flüchten, kann kein rechtschaffender Bürger verstehen. Statt den Länderinnenministern gut zuzureden, wäre der Bundesinnenminister gut beraten, gem. Art. 38 GG in jenen Ländern, die sich der Abschiebung verweigern, einen Bundeskommissar zum Zwangsvollzug einzusetzen. Denn es gibt keinen Bundesstaat ohne Bundesgewalt.
Wer die Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern überwinden will, muss sich den vorgennannten Fragen stellen. Man kann andere Antworten hierauf geben. Aber eine grundsätzliche Debatte über die skizzierten Problemlagen scheint angesichts der Politikverdrossenheit und der Ungeduld der Bürgerinnen und Bürger mit den deutschen Zuständen unumgänglich.
IV. Autorität durch Wettbewerb von Regierung und Parlament
Wenn der Autoritätsverfall des parlamentarischen Regierungssystems nicht gestoppt werden kann, wird sich die Zahl der Protestwähler weiter erhöhen oder – was noch schlimmer ist – die Zahl der Nichtwähler vervielfachen. Die Bürger wollen sich in den Parlamenten wiedererkennen, statt dort selbstherrliche Politiker, die aus selbstreferenziellen Gruppen und sich selbst genügenden Cliquen hervorgegangen sind, ein üppiges Dasein führen sehen. Die gegenwärtige Dekadenz des parlamentarischen Regierungssystems steht auch im Zusammenhang mit dem Fehlen von Autorität.
So formulierte ein großer Franzose namens Charles de Gaulle
„Unsere Zeit geht mit der Autorität hart um. Die Sitten der Zeit legen die Wälle nieder, die sie schützen, die Gesetze gehen darauf aus, sie zu schwächen. Zuhause wie in der Werkstatt, im Staat wie auf der Gasse ruft sie eher Ungeduld und Kritik als Vertrauen und Unterordnung hervor. Von unten getreten, wo immer sie sich zeigt, fängt sie an, an sich selber zu zweifeln. Tappt hierhin und dorthin und macht sich zu Unzeit geltend oder nur zum geringsten möglichen Grade, noch dazu unter Verschweigungen, Vorsichtsmaßnahmen und Entschuldigungen. Oder umgekehrt: im Übermaß oder mit Püffen, groben Manieren und übertriebener Förmlichkeit.“
Bei der Beschreibung dieses Niedergangs des parlamentarischen Regierungssystems hatte de Gaulle die selbstzerstörerische Kraft des Parteienstaates der Dritten Französischen Republik vor Augen. Der Parteienstaat brachte keine Gestalten hervor, sondern ließ nur Figuren entstehen. Diese hatten kein Anliegen außer sich selbst. Er nahm – wie wir wissen – 1946 als Regierungschef den Hut, weil er dem Treiben der Parteien nicht länger zusehen konnte. Und er wurde zurückgerufen, als es mit der Vierten Republik aufgrund der Algerien-Krise zu Ende ging, weil die Parteipolitiker der Lage nicht Herr wurden.
Wir wollen im gegenwärtigen Krisenzustand der Deutschen Republik nicht nach einem de Gaulle Ausschau halten. Es gibt keinen Mann und wohl auch keine Frau der Vorsehung, die es allein vermögen würde, die Dinge zu richten. Indessen sind die gegenwärtigen deutschen Zustände ein Appell an alle Bürgerinnen und Bürger, ihre Macht zu demonstrieren, laut und vernehmbar zu rufen: Der Bürgerwille entscheidet! Damit die Staatsgeschäfte nicht länger Parteisekretären überlassen bleiben.
Wir wollen hoffen, dass Herr Voßkuhle im Neuen Jahr wieder Erfüllung in der Ausübung seines Amtes finden wird, um die Verfassung, statt das Parteienestablishment vor den Bürgern zu schützen.
Demokratie verlangt Partizipation der Bürger an der Staatsmacht. Wir müssen also die direkten Elemente der Demokratie stärken und heute mehr denn je danach fragen, ob Deutschland mit seinem parlamentarischen Regierungssystem für die Zukunft institutionell gerüstet ist. Ein Bundestag, der als Akklamationsorgan für die Regierung dient, aber (obschon höchstes deutsches Entscheidungsorgan) keine eigenständigen Interessen artikuliert, ist sicherlich nicht im Sinne seiner Schöpfer.
Ein Bundeskanzler, der jederzeit von einer parlamentarischen Mehrheit abgewählt werden kann, obwohl er den Rückhalt der Bevölkerung – wie 1982 Helmut Schmidt – genießt, wird sich nicht jene Politik zutrauen, die die Situation des Gesamtstaats erfordert. Daher müssen wir darüber nachdenken, ob der Kandidat für das Bundeskanzleramt direkt vom Volk gewählt werden soll. Und wir können konsequenterweise darüber nachdenken, ob – ähnlich wie beim US-amerikanischen Kongress – das Parlament eine Größe sui generis wird – eine Gegenmacht zur Regierung ist, die erst dann wirklich eine Bürgermacht darstellt, wenn sie sich nicht darauf reduziert, allein den Bundeskanzler zu wählen und die Regierung durch bedingungslose Gefolgschaft zu stützen. In einem aus direkt gewählten Abgeordneten bestehenden Bundestag hätten die Fraktionsführungen – allesamt Parteihansel – nicht länger das entscheidende Sagen. Der Bundestag wäre endlich das große nationale Forum politischer Diskussion, der natürliche Gegenspieler zu jedweder Regierung und der geborene Mittler von Bürgermacht und zwar unabhängig von der Parteizugehörigkeit der Abgeordneten.
V. Politik und Charakter
Wenn auch kein deutscher de Gaulle in Sicht ist, so verlangt die gegenwärtige Verfassungskrise nach einer preußischen Persönlichkeit mit Charakter, die das Parteiensystem herauszufordern vermag. Gefragt ist angesichts von Figuren wie Dobrindt, Spahn und Heil oder noch schlimmer Schulz, Kubicki und Roth jene Eigenschaft, die ihnen fehlt: Glaubwürdigkeit, also das Bürgervertrauen in ihren unbedingten Willen, dem Staat zu dienen.
Lauschen wir nochmals dem jungen de Gaulle bei seinen Überlegungen zur politischen Elite:
„Aug in Aug mit dem Geschehen gestellt, hält sich der Mann von Charakter an niemanden anderen als sich selbst. Was ihn treibt, ist der Wille, der Aktion sein Zeichen aufzudrücken, sie auf seine Rechnung zu nehmen, daraus seine Sache zu machen. Weit entfernt, unter den Fittichen der Hierarchie Schutz zu suchen, sich unter Vorschriften zu verstecken, sich durch Rechenschaftsberichte abzudecken, reckt er sich hoch auf, geht in Stellung und macht Front. Bei Rückschlägen nimmt der Mann von Charakter deren ganzes Gewicht auf sich – nicht ohne dabei etwas wie eine bittere Genugtuung zu fühlen. Kurz, Kämpfer, der den Kampfgeist und seine Standfestigkeit in sich selber findet; Spieler, dem es weniger auf den Gewinn ankommt als auf das Gewinnen, und der seine Schulden mit eigenem Geld bezahlt – es ist der Mann von Charakter, der der Tat ihren Adel verleiht. Ohne ihn ist sie eine trübe Angelegenheit für Sklaven, dank ihm göttliches Spiel des Helden.
Was daran wesentlich ist, das Schöpferische, das Göttliche, hat der Charakter zustande gebracht, nämlich, dass daraus ein Unternehmen wurde. So wie das Talent dem Kunstwerk das Siegel einer besonderen Art des Verstehens und des Ausdrucks aufprägt, so drückt der Charakter dem, was er Tat werden ließ, seinen Stempel auf.
Die Schwierigkeit zieht den Menschen von Charakter an, denn indem er mit ihr ringt, kommt er zur Verwirklichung seiner selbst.“
Dass es heute niemanden gibt, der diesen Anforderungen genügt, ist das zweifelhafte Verdienst der Parteien und Ergebnis des Verhältniswahlrechts. Hätten wir ein Mehrheitswahlrecht, würden Charakter und Persönlichkeit prämiert. Aber um dies zu erlangen, müssen wir uns die Freiheit nehmen, Parteienprivileg und parlamentarisches Regierungssystem über Bord zu werfen. Dazu wird man die Kontroverse nicht scheuen dürfen und es bedarf viel Mutes, von der Freiheit Gebrauch zu machen.
Wie sagte Henning von Tresckow:
„Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen Stolz auf das Eigene und Verständnis für Anderes. Nur in der Synthese liegt die Aufgabe des Preußentums, liegt der preußische Traum.“
Werden und wollen wir endlich den Mut finden, diese deutschen Zustände zu ändern? Ja, wir wollen es, wir müssen es wagen!
Dies führt uns unweigerlich zurück meinem viel-lieben Erich Kästner. Der beantwortete die Mutfrage wie folgt:
„Wer wagt es,
sich den donnernden Zügen entgegenzustellen?
Die kleinen Blumen auf den Eisenbahnschwellen.“
Ich wünsche uns allen, den Bürgern Deutschlands, im Jahre 2018 Mut zu neuen Ideen.
Markus C. Kerber, Dr. iur. Professor für Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft an der TU berlin, Gastprofessor an der Uinversité Paris II sowie an der Warsaw School of Economics. Kerber ist Verfasser des Buches “ Europa ohne Frankreich ? – Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage, 2. Aufl. Edition Europolis 2017