Ein Abend mit einem Star-Ökonomen. Der Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main hatte eingeladen. Zum Vortrag Jean Tiroles, des Trägers des Wirtschaftsnobelpreises 2014, ausgezeichnet für seine Arbeit zur Industrieorganisation und Wirtschaftspsychologie. Seine Schriften seien in Frankfurt Grundlagenwerke, so der einladende Professor in seiner Willkommensrede. Entsprechend voll war der Hörsaal. Etwa eintausend, vorwiegend junge Leute – man darf annehmen angehende Ökonomen – applaudierten dem Experten, der mit Sicherheit Erhellendes zur momentanen Situation Europas zu sagen haben würde.
Nun bin ich kein Spezialist. Ich muss mich von etwas leiten lassen, worüber gerade Akademiker gern die Nase rümpfen: Dem ‚Menschenverstand‘, den ich selbst ja auch noch für ‚gesund‘ halte. Verblendung? Vielleicht. Führt mich dieser vermeintlich gesunde Teil meines Bewusstseins doch immer wieder hinein in eine unkontrollierbare Skepsis, zum Beispiel wenn es um Draghi und Kollegen geht. Ich bin also als Gesprächspartner in diesen Dingen nicht ausreichend stabil.
Dementsprechend verstand ich das meiste Gesagte dieses Abends auch nur ‚Pi mal Daumen‘: Laut Tirole herrscht in der EU eigentlich ein Bailout-Verbot. Das halte aber niemand ein. Diese Tatsache verzerrt nun das System. Quantitative Easying, also ‚Geld durch Drucken‘ senke dann die Motivation stark verschuldeter Staaten, sich zur Sanierung ihrer Verhältnisse anzustrengen, da sie das Geld ja – etwa durch Rückzahlungsfristengestaltung – geschenkt bekämen. Disziplinierte Staaten und ihre gebeutelten Bürger seien die Dummen. Die lernten aber dazu und würden sich beim nächsten Mal dann auch lieber von anderen retten lassen. Bailouten werde normal. Und starke Länder, deren Einwohner zwar kaum Vermögen, aber gute Jobs zum Steuernzahlen (= Deutschland) haben, bürgen. Und weil niemand einem EU-Partner auf die Füße treten wolle – schließlich will man ja kein Orban sein – bleibe das auch so. Ergebnis: Friede, Freude, Eierkuchen in der Krise, so zart und freundlich wie das Gesicht von Jean Claude Juncker. Bis zum Crash.
Jetzt erfüllte mich das Gehörte dann doch mit einem gewissen Stolz. Der Nobelpreisträger höchstselbst zog Schlüsse, die von mir sein könnten. Doch halt, das waren keine Schlüsse, das war Analyse. Hier tendiere ich selbst ja in Richtung ‚früher Schäuble‘ – Konsolidierung, Eigenverantwortlichkeit und so weiter. Aber hier zeigen sich dann eben doch die Unterschiede in der Gedankentiefe zwischen einem einfachen Wirtschaftsteilleser mit hessischem Abitur und einem Nobelpreisträger.
Und deshalb auch: Weg mit den Populisten! Weg mit denjenigen, die einfache, aber unerfüllbare Lösungen anbieten (ich dachte: Wohl weil sie nicht zusammenpassen mit den bisherigen kompliziert-nichtfunktionierenden). Aber: Wer kann das leisten, die Abschaffung der Populisten? (Mir selbst fiel ein: Nichtpopulisten? Leute, die nicht populär sind? Beides nicht falsch!) Tirole meinte Experten. Experten wie sich selbst. Denn: Wer sonst sollte den Menschen da draußen denn die unverständlichen Maßnahmen erklären, die Tirole propagierte? Was würden dann die Leute sagen, etwa zum stockenden Waldsterben, dem bevorstehenden Untergang der Fidschi-Inseln oder zu den zahllosen unerkannten Todesopfern durch VW, wenn sie nicht vom Experten an die Hand genommen würden, um sie wegzuführen von dem Pfad, den ihnen der Menschenverstand, der gesunde, zu diktieren suchte? Die Leute würden die wahren Bedrohungen doch gar nicht wahrnehmen und sich statt dessen in den Social Media von Fake News aus Russland verwirren lassen.
Genau das war ich jetzt. Verwirrt. Hatte Monsieur Tirole nicht gerade die lethalen Gefahren des EU-Wirtschaftssystems dargelegt? Nur um zu entwarnen? ‚Führt in den Abgrund, ist aber nicht so tragisch?‘ Waren das nicht brutale Fake News, mitten auf dem Campus?
Ich verstand die jetzt Welt nicht mehr. Universität! Stätte der Wahrheitsfindung und des Diskurses. Ein Nobelpreisträger am Rednerpult – ein Künder der Vernunft! Davor: Keine ganze Bude voller junger kritischer Geister, sondern eine Gemeinde auf Knien, beim Gottesdienst um Goldene Kälber namens ‚Europa‘ und ‚Antipopulismus‘. Niemand fragte, etwa wie Herr Tirole seine persönlichen Puls-of-Europe-Auffassungen mit seinen Forschungsergebnissen und seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler vereinbaren könne. Nein, es herrschte offensichtlich Einigkeit über die Devise: Forschen kann man schon. Man muss aber nicht laufend aus allen Ergebnissen Schlüsse ziehen, die, wie sagt Angela Merkel immer so schön: nicht hilfreich sind …
Und jetzt begriff ich: Filterblase! Eine besondere, nämlich nicht nur elektronische, sondern fast physische, komplett mit eigenem Hohepriester als Seifenlaugenrührer, dem der Glaube wichtiger ist als die ganze Wissenschaft.
Aber schön war’s schon! Nicht so aufgeregt oder disharmonisch, wie ich das aus den Versammlungen meiner Studentenzeit noch kenne. In der Blase herrschte wunderbare Ruhe, so wie sie von den Zentren großer Hurrikane beschrieben wird. Große Ruhe, grünes Licht …
Was würde passieren, wenn jetzt ein todesmutiger Student von der sagen wir einmal ‚Fachschaft der Populisten‘ aufstünde, um diese Bubble, die sich jetzt aufgebaut hatte, zum Platzen zu bringen? Nicht auszudenken. Auch ich hielt ja die Füße still. Ich hatte ja die Berichte gelesen über die Karriereverläufe der Klimaforscher, die Zweifel hegen am Weltuntergang. Und die jetzt bei McDonalds hinter der Theke stehen – und eben an keiner Uni mehr gehört werden.
Was würde passieren, hätte jemand kritisch nachgefragt? Wohin zum Beispiel das Quantitative Easying auf Dauer führen solle. Oder ob nicht weniger Europa eher besser für uns alle wäre. Das wäre ja dann dieser Populismus. Und auch Monsieur Tirole selbst hatte ja verlangt, man müsse sich dagegen ‚verteidigen‘. Wie sähe das dann aus? Wie an der Humbold-Uni? Wo mancher Professor darüber nachdenkt, nur noch mit schusssicherer Weste oder gar nicht mehr ins Büro zu gehen. Und welcher Student will denn, nach kritischen Fragen seinerseits, am nächsten Tag noch in die Cafeteria? Auch ich will ja auch auf der Straße noch gegrüßt werden! Nein: Auch hier im Hörsaal galt: Den Ball ganz flach halten in Sachen Eurorettung oder EZB. Wahrscheinlich hatten sie nur auf einen wie mich gewartet, um das Verteidigen einmal zu üben …
Und so gefährdete keiner die warme Atmosphäre, in der wir uns befanden, die geneigte Studentenschaft und Monsieur Tirole. Der Abend endete, wie alle anderen, wenn kein Populist dazwischenfeuert, friedlich und aufgeräumt in den umliegenden Kneipen, während der einladende Professor seinen Preisträger mit der Limousine zum Italiener und seinem Barolo fuhr.
Das ist das schöne an den Blasen: Man bekommt von der Wirklichkeit nichts mit. Es fehlte nur noch Urmutter Andrea Nahles mit ihrem Lied Widde widde witt, wir machen uns die Welt, so wie so uns gefällt.
Vor der Heimfahrt hatte mich mein netter einladender Professor noch gefragt, was ich denn von diesem Abend mit nach Hause nähme. Meine Antwort hat unserer schönen Freundschaft dann leider sehr geschadet. Dieser Abend, so sagte ich ganz naiv, habe mir sehr schön gezeigt, dass mein Pessimismus nicht krankhaft, sondern begründet sei, dass ich das Wort Experte auch weiterhin als Schimpfwort nutzen könne – und das ich jetzt endlich die zen-buddhistische Weisheit ‚Sei so arm wie möglich und meide den Erfolg‘ zu beherzigen beabsichtige. Damit man zumindest mir mit Herrn Tiroles weiteren Bailouts keine Kohle mehr entwinden kann. Und ich mache mir da keine Sorgen: Bei diesem Armutsvorsatz helfen bestimmt alle gerne mit. Gerade auch ein Ökonomenstar aus dem Land Macrons.