Deutschland ist zensurfreundlicher geworden. Seit Jahresbeginn ist das Netzdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft, es soll „Hassrede“ in den sozialen Medien eindämmen. Offensichtlich rechtswidrige Inhalte müssen innerhalb von 24 Stunden gelöscht werden, sonst drohen hohe Geldstrafen, so die Ansage.
Und so wird jetzt eben, wie von vielen vorausgesagt, eher zu viel als zu wenig gesperrt: Satirische Tweets, Beleidigungen, abweichende Meinungen. Bezüglich der Sperrregeln herrscht reine Willkür. Bei Twitter etwa schrieb eine Userin: „Idee: Weissen Männern ein Tweetlimit von drei Tweets am Tag geben. Alle Probleme gelöst.“ Ein User kommentierte das so: „Schwarzen Frauen ein Tweetlimit von drei Tweets am Tag geben. Alle Probleme gelöst.“ Beide Tweets wurden gemeldet, ersterer wurde von Twitter für unbedenklich erklärt, der andere wird in Deutschland zurückgehalten.
Auf der anderen Seite wird viel gepetzt. Twitter muss nicht mitteilen, wer versucht hat, einen Tweet zu löschen, so bleiben Melder anonym. Das verleitet offenbar dazu, selbst Tweets wie jenen der Polizeigewerkschaft Hamburg zu melden: „Studie: Durch Flüchtlinge ist es seit 2014 zu einem spürbaren Anstieg von Gewalttaten in Deutschland gekommen, dies überschattet den eigentlich positiven Trend hin zu weniger Mord, Totschlag und Raubdelikten.“ Fremdenfeindlich? Hetzerisch? Verleumdend? Oder nur der Wahrheit entsprechend? Twitter stufte den Tweet als nicht regelwidrig ein, sperrte ihn nicht. Die Situation ist aber die: Denunzianten haben Hochkonjunktur.
Würde unsere Gesellschaft ganz ohne Zensur im Internet auskommen, oder ist ein gewisses Maß an Kontrolle und Aufsicht sinnvoll? Es gibt durchaus Fälle, wo man der Forderung nach Zensur ein gewisses Maß an Berechtigung nicht ganz absprechen kann. Hierzu ein kleines Beispiel.
In einer Live-Show debattierten anfangs Jahr auf einem kanadischen Youtube-Kanal mehrere professionelle Redner – Repräsentanten der Liberalen, Libertären und Linken – mit Richard Spencer, dem Gründer der Alt-Right-Bewegung. Die Philosophie der Alt-Right ist es, dass die westliche Zivilisation durch die weisse Rasse entstanden ist. Ihre Anhänger sehen die Identität der weissen Bevölkerung durch multikulturelle Einwanderung bedroht und wollen sie verteidigen. Spencer gilt als eine der umstrittensten Personen in den USA, manche bezeichnen ihn als „Nazi-Sympathisant“.
Hier einige Gründe, die pro Sperrung sprächen: Seine Ansichten, ließe man sie gedeihen, könnten bei einigen seiner Anhänger zu Hetze und Gewalt verleiten. Nicht jeder ist reif genug, mit bestimmtem Ideen umzugehen und sie richtig einzuordnen, sie einfach als falsch und absurd abzutun. Die Geschichte hat gezeigt, was Extremisten zustande bringen. Auch könnten öffentliche Debatten wie diese dazu beitragen, dass rassistische Diskussionen gegen bestimmte Gruppen wie Juden oder Schwarze wieder salonfähig würden.
Von den Debattierern schien nämlich keiner dieser Gruppen anzugehören (was ich als Kritikpunkt anmerke), Spencers Ideen hätten somit für sie grundsätzlich keine Konsequenzen. Wie aber würde sich ein Schwarzer oder ein Jude fühlen, würde er mit rassistischen Aussagen konfrontiert, wie etwa jener, dass „Weisse in der Zukunft ihren eigenen Ethnostaat errichten sollten, um die Gesellschaft weiter zu bringen“? Warum und wie soll jemand überhaupt argumentieren bei jemandem, der ihn quasi als „Untermensch“ einstuft, auch wenn er das Wort nicht sagt? Für jene unter uns, die wir von Spencers Thesen nicht betroffen sind, scheint es ein Einfaches, uneingeschränkte Redefreiheit zu fordern, solange wir uns dabei nicht selber emotional investieren müssen. Pro Zensur könnte man auch den Punkt anbringen, dass seine Äußerungen für viele verletzend und beleidigend sind.
Ich bin mir bei diesem Beispiel angesichts der Meinungsäußerungsfreiheit nicht ganz schlüssig. Ich tendiere aber eher dazu, dass ein Redeverbot, oder ein Zurückhalten des Videos nicht richtig wäre. Meine folgenden Argumente gelten nicht für strafrechtlich relevante Äußerungen oder solche, die einen von Aufruf zu Gewalt darstellen, diese gehören selbstverständlich untersucht und entsprechend geahndet.
Die Debatte stieß auf enormes Interesse, es war über weite Strecken weltweit der meistgesehene Live-Video-Stream. In der Gesellschaft ist offenbar ein Bedürfnis vorhanden, ungefilterte, unbeschönigte Meinungen zu heiklen Themen zu hören. In einer Nachbesprechung räumte der Organisator Andy Warski ein, dass das Gäste-Line Up diverser hätte sein sollen. Die große Mehrheit der Reaktionen fiel dennoch positiv aus, „Danke für die offene Debatte, solche schwierigen Diskussionen brauchen wir heute“, las man in den Kommentaren. Den Vorwurf, er habe Nazi-Propaganda eine Plattform geboten, konterte Warski mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung.
Man kann Spencers Thesen verletzend und beleidigend finden – das ist kein Argument für Zensur, denn niemand besitzt das Grundrecht, nie beleidigt oder verletzt zu werden. Man kann seine Ideen für absurd und gefährlich halten – indem man Personen wie ihm aber die Debatte verweigert oder das Video sperrt, ändert man wahrscheinlich grundsätzlich nichts. Gedanken kann man nicht verhindern. Ist es nicht überhebliches Denken, dass eine bestimmte Ideologie durch Zensur gesteuert werden könnte?
Wahrscheinlicher scheint, dass das Gegenteil eintrifft, dass Zensur Leute wie ihn zu „Opfern“ machen würde, zu Märtyrern im Namen der Redefreiheit. Sie werden ihre Vorträge dann eben anderswo halten, Diskussionen in den Untergrund verlagern, wo sie auf keine Gegenargumente stoßen oder mit Leuten streiten, die vielleicht nicht so eloquent sind wie diese liberalen und libertären Speaker, deren Beruf es ist, für ihre politischen Überzeugungen zu debattieren. Offene Diskussionen auf Augenhöhe zwingen Menschen, ihre Gedanken auszuformulieren, das ermöglicht es erst, ihre Ansichten, die sonst unangefochten blieben, argumentativ zu widerlegen.
Und ganz ehrlich: Die Debatte war interessant und unterhaltsam. Es ist erfrischend zuzusehen, wie sich Menschen mit extrem unterschiedlichen Positionen rational einem Thema annähern. Eine reife Gesellschaft sollte dazu eigentlich in der Lage sein. Ansonsten ist es der Tod der Debatten-Kultur.
Das bringt uns zurück zum NetzDG. Hassrede im Internet existiert. Beleidigungen, Vulgärsprache, auch rassistische Bemerkungen, ich treffe es nicht häufig an bei Twitter, aber es ist da – genauso wie im realen Leben, dessen Abbild die sozialen Medien schlussendlich sind. Dennoch: Internet-Debatten oder Tweets zu verbieten, auch wenn sie für manche beleidigend wirken mögen, ist nicht richtig, es ist Bevormundung. Menschen sollen selber entscheiden dürfen, welche Meinungen sie hören und lesen wollen, welche nicht. Es ist absurd, wenn die Politiker sich als moralische Grundinstanz erheben, mit unausgegorenen Gesetzen und anhand ihres subjektiven Empfindens Entscheide für den ganzen Rest treffen. Würde in der realen Welt jeder jeden wegen eines verbalen Ausfalls oder eines verletzten Gefühls bei der Polizei anzeigen, die Gesellschaft verfiele wohl innert kürzester Zeit in chaotische Zustände – sooo weit davon entfernt scheint man in den deutschen sozialen Medien nicht zu sein. Das Gesetz gegen Hass schützt niemanden wirklich vor Hass, aber es schürt zunehmend selbst Hass. Von anonymen Denunzianten gemeldet zu werden, fördert nun mal keine überschwängliche Begeisterung.
Ich hätte übrigens einen Vorschlag für Twitter: Wer mehr als zweimal einen Tweet meldet, der nicht gegen Twitterregeln verstößt, sollte mit einer roten Clownnase in seinem Profilbild gebrandmarkt werden. Keiner mag Petzen.