Etwas vorweg, das nicht den Beitrag von Fritz Goergen betrifft: Die meisten Zeitgenossen, insbesondere Politiker, reagieren auf Umfragen so: Wenn ihnen das Ergebnis passt, zitieren sie sie gerne. Wenn es ihnen nicht passt, zweifeln sie den Wert von Umfragen an, verweisen auf methodische Schwächen oder erklären gleich rundheraus Umfragen für wertlos.
Ich habe das stets anders gehalten. In dem Artikel, auf den Goergen Bezug nimmt, habe ich auf eine Umfrage verwiesen, bei der mir einige Ergebnisse sympathisch sind (etwa die Positionen der meisten Deutschen zur Einwanderungspolitik) und andere unsympathisch (etwa die Positionen zur Reichensteuer, zur Bürgerversicherung oder zur Solidarrente).
Diejenigen, die Ergebnisse von Umfragen in Zweifel ziehen, verweisen auf „bessere“ Informationsquellen, wie etwa Gespräche mit dem Taxifahrer, die Meinung in ihrem Bekanntenkreis oder in Internetforen. Das allerdings ist unwissenschaftlich. Hier wird von Einzelmeinungen, die überhaupt nicht repräsentativ sind, auf die Meinungen in der Bevölkerung geschlossen. Das Problem wird noch verstärkt dadurch, dass Viele in ihrem Umfeld mehr Gleichgesinnte als Andersdenkende haben. So ist es zu erklären, dass manche AfD-Wähler denken, „alle“ bzw. „das Volk“ würde so denken wie sie. Der Eindruck kommt zustande, weil sich diese Bürger, so wie viele andere auch, vor allem mit Gleichgesinnten unterhalten und im Internet in jenen Foren bewegen, die überwiegend von Gleichgesinnten gelesen und kommentiert werden. Tatsache ist: Viele denken so wie sie – aber eben nicht die Mehrheit. Bei den letzten Wahlen waren es 13 Prozent, also eine beachtliche Größe, aber eben doch eine Minderheit. Wer die „wahre Volksmeinung“ eher aus Gesprächen im Bekanntenkreis ermitteln will als aus repräsentativen Bevölkerungsumfragen, kommt immer zu falschen Ergebnissen.
Die Schweigespirale
Fritz Goergen meint: „Die Schweigespirale war noch nie so groß wie in den 2010er Jahren. Nie vorher haben die Leute in derart großer Zahl bei Umfragen nicht mehr gesagt, was sie denken, sondern wovon sie zu wissen glauben, welche Antwort von ihnen erwartet wird.“ Die Schweigespirale gibt es, seit es Menschen gibt. Elisabeth Noelle-Neumann, mit der ich viele Jahre eng befreundet war, hat sie entdeckt. Und ich habe in meiner zweiten Doktorarbeit ein Methodenkapitel über „sozial erwünschte Antworten“ geschrieben, weil ich das Thema für hoch relevant halte. Belege dafür, dass die Schweigespirale noch nie so bedeutsam war wie heute, gibt es dagegen nicht. Aus eigener Beobachtung habe ich jedoch den Eindruck, dass viele Bürger heute sogar eher bereit sind, sich zu „politisch unkorrekten“ und nonkonformen Meinungen zu äußern als vor einigen Jahren. Das linke Deutungsmonopol ist glücklicherweise nicht mehr unangefochten.
Telefonumfragen
„Umfragen sind spätestens seit der Umstellung von der persönlichen Befragung des physisch anwesenden Gegenübers auf telefonische nicht mehr wert, als die Ergebnisthese der Ersteller des Fragebogens vor Beginn der Befragung. Kommt nicht raus, was gewünscht wird, ‚korrigieren’ das die Demoskopen durch ‚Gewichtung’ und ihre Auftraggeber durch selektivere Interpretation denn je.“
Gewichtungen in der Stichprobe sind dann notwendig, wenn Umfrageinstitute z.B. herausgefunden haben, dass weniger Befragte angeben, beim letzten Mal eine bestimmte Partei gewählt zu haben, als es tatsächlich laut Wahlergebnis waren. Dann werden Korrekturen in der Stichprobe vorgenommen, weil ansonsten das Ergebnis verfälscht würde. Das geschieht, wenn es methodisch notwendig ist, bei Face-to-face-Umfragen ebenso wie bei telefonischen Befragungen.
Wie fragen Meinungsforscher?
„Es ist unseriös, die Leute etwas zu fragen, wenn man wissen muss, dass sie nicht wissen können, was ‚Bürgerversicherung’ bedeutet. Das Gleiche trifft auf die ‚Solidarrente’ und die ‚Reichensteuer’ zu – und das ‚Kooperationsverbot’ für Bund und Länder in der Bildungspolitik. Wie viel Prozent Berufspolitiker und Berufsjournalisten könnten das selbst verständlich erklären?“ Ich stimme Fritz Goergen zu: Es wäre ganz und gar unsinnig, die Menschen zu fragen, ob sie für oder gegen das „Kooperationsverbot“ oder die „Bürgerversicherung“ sind, ohne diese Begriffe zu erklären. So werden auch Befragungen nicht gemacht. Ich kenne nicht die genaue Fragestellung von Insa, vermute jedoch, dass sie sich anlehnt an das, was im FOCUS-Bericht darüber zu lesen war. Hier wurde z.B. bei der Frage zur Bürgerversicherung erklärt: „Gemeint ist das Ende der privaten Krankenversicherung“. Bei der Frage zur „Solidarrente“ wurde erklärt, dass die SPD die Renten von Bürgern, die für Ansprüche oberhalb der Armutsgrenze nicht lange genug gearbeitet haben, mit Steuermitteln auffüllen will. Der Begriff „Kooperationsverbot“ wurde bestimmt nicht verwendet, sondern ich habe ihn für die informierten Leser von TICHY verwendet, um zu erklären, worum es ging.
Bei Befragungen kann man den Befragten keinen Nachhilfeunterricht erteilen und ausführliche Erörterungen voranschicken. Man muss aber versuchen, Begriffe, die nicht jeder kennt, in wenigen Worten zu erklären. Und genau das machen die Institute – manchmal besser und manchmal weniger gut.
Sind alle geschlossenen Fragen „Suggestivfragen“?
Fritz Goergen kritisiert: „Die Institute stellen den Befragten keinen ‚offenen Fragen’, sondern ‚geschlossene’ – Suggestivfragen also. Hoch unseriös, um es höflich auszudrücken.“ Hier geht alles durcheinander, um es ebenfalls höflich auszudrücken. Würde das stimmen, was hier steht, wäre die gesamte wissenschaftliche Meinungsforschung seit 80 Jahren „hoch unseriös“, denn mehr als 90 Prozent aller Befragungen arbeiten mit geschlossenen Fragen. Das hat mit Suggestivfragen nicht das Geringste zu tun. Eine geschlossene Frage ist eine, bei der Antwortmöglichkeiten wie etwa „Stimme zu“, „Stimme teilweise zu“ oder „Stimme nicht zu“ vorgegeben sind. Offene Fragen werden überall auf der Welt von Instituten nur ausnahmsweise gestellt. Meist ist es sinnvoller, geschlossene Fragen zu stellen, also danach zu fragen, ob sie einer bestimmten Ansicht ganz, teilweise oder nicht zustimmen. Eine geschlossene Frage kann (ebenso übrigens wie eine offene Frage) natürlich eine Suggestivfrage sein – dann ist sie unzulässig, weil sie eben eine bestimmte Antwort nahelegt und damit das Ergebnis manipuliert. Aber es ist einfach falsch, die Begriffe „geschlossene Frage“ und „Suggestivfrage“ als Synonyme zu verwenden.
Was misst Meinungsforschung?
Meinungsforschung misst Meinungen. Ob diese Meinungen durch Propaganda, einseitige Medienberichterstattung oder informierte Prozesse der Meinungsbildung zustande gekommen sind, ist eine zweite Frage, die jedoch in der Regel nicht Thema von Umfragen ist. Umfragen messen Ergebnisse von Meinungsbildungsprozessen. Natürlich kann ich der Ansicht sein, wie Fritz Goergen sie vertritt, dass sich Menschen Meinungen bilden, ohne alle relevanten Tatsachen zur Kenntnis genommen zu haben. Das ist sogar meistens so. Es kann auch durchaus sein, dass sie zu anderen Meinungen kommen würden, wenn sie andere Informationen zur Verfügung hätten. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Aber das ist eine ganz andere Fragestellung, die nichts mit der Ermittlung des Meinungsbildes zu tun hat, sondern mit der Analyse, wie dieses zustande kommt. Goergen schreibt: „Meinungs-Umfragen, so wie sie hierzulande im Auftrag von Medien durchgeführt werden, sind kein Mittel zu erkennen, was ‚die Deutschen denken’, sondern in welchem Umfang bei ihnen angekommen ist, was sie denken sollen: Propaganda-Wirkungskontrolle, in der heutigen Terminologie öffentliche PR-Wirkungskontrolle und damit selbst PR.“ Ich führe dieses Argument auf den Kern zurück: Goergen meint, die Bürger seien durch die Medien manipuliert. Und die Umfragen würden nur das Ergebnis dieser Manipulation messen. Folgen wir ihm einen Moment bei dieser Argumentation: Ist es nicht zuerst die Aufgabe der Meinungsforschung, zu messen, was bzw. wie die Befragten denken, unabhängig davon, wie das zustande kommt und ob es richtig oder falsch ist? Was wäre denn die Alternative? Zu messen, wie die Menschen denken sollten? Das hätte allerdings mit Meinungsforschung nicht mehr das Geringste zu tun.