Tichys Einblick
Direktwahlrecht

Wolfgang Schäuble: Der Wahlrechtsänderer?

Die Verhältniswahl hat ausgedient. Sie führt nicht mehr zu stabilen Regierungs-Konstellationen.

© Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Wolfgang Schäuble hat schon vor seiner Wahl zum Bundestagspräsidenten bedauert: Der Bundestag sei zu groß geworden. Deshalb müsse man das Wahlrecht ändern. Das Echo in der Presse war mäßig, dann das hat vor ihm schon Norbert Lammert verlangt, ohne damit auch nur den geringsten Erfolg zu erzielen. Am Ende der vergangenen Legislaturperiode geisterte zwar noch die Parole durch die Gazetten, man müsse die Legislaturperiode auf fünf Jahre verlängern. Aber das war eine politische „Eintagsfliege“.

Anfang Dezember 2017 legte Schäuble nach und lud sogar die Fraktionschefs zum Gespräch über die Dringlichkeit einer Reform des Wahlrechts ein, mit dem man in seiner gegenwärtigen Fassung nicht in eine Neuwahl gehen könne. Kurz nach Weihnachten meldete sich Schäuble erneut zu Wort: Niemand halte ein Parlament mit 709 Abgeordneten für einen guten Zustand, sagte „der zweite Mann im Staat“ am 28.12.2017 dem Südwestdeutschen Rundfunk. Er werde sich daher mit Nachdruck für eine Wahrechtsreform einsetzen.

Gewiss, die Botschaft hört man gerne. „Allein, es fehlt der Glaube.“ Eine Vier-Parteien-Koalition kam nicht zustande, weil man sich auf die Lösung von Problem mit viel geringerem Gewicht nicht einigen konnte. Und Koalitionsgespräche mit der SPD über das Wahlrecht? Das wäre eine zusätzliche Sollbruchstelle für die Koalitionsverhandlungen, von denen es ohnehin genug gibt: Vermögensteuer, Bürgerversicherung, uferloser Familiennachzug auch für „Flüchtlinge“ ohne rechtlich anerkannten Asylanspruch, uferloser Finanzausgleich in ganz Europa etc. etc.

Niemand weiß, ob es zu Neuwahlen kommt. Aber auch wenn es nicht dazu käme, weil eine Minderheitsregierung entsteht wie in Norwegen, in Schweden, in den Niederlanden oder in Spanien, dann fehlt ihr die Mehrheit, um ein neues Wahlrecht zu beschließen. Man muss also Schäuble für den unerschütterlichen Optimismus bewundern, dass er nicht aufgibt, sondern Charakter zeigt und „am Ball bleibt“.

Ohne Druck gibt die Zitrone keinen Saft

Schäuble muss Druck machen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn er tatsächlich die Herkules-Aufgabe lösen will und sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als Architekt eines neuen Wahlrechts ohne Überhänge und ohne Ausgleichsmandate verewigen will, dann darf er nicht davor zurückschrecken, den gordischen Knoten mit dem Schwert zu durchtrennen. Er ist Jurist und kennt sich in der Materie aus. Deshalb braucht man ihn nicht daran zu erinnern, dass der Präsident des Deutschen Bundestages nach § 2, Absatz 4, Satz 2, WahlprüfG das Recht hat, von sich aus Einspruch gegen die Wahl einzulegen, wenn ihm in amtlicher Eigenschaft Umstände bekannt wurden, „die einen Wahlmangel begründen könnten“.

Niemand versteht das
Das Wahlrecht geht so lange „zum Brunnen“, bis es bricht
Wolfgang Schäuble ist der Hausherr des Deutschen Bundestages. Er hat dort für die gute Ordnung und Durchsetzung des Rechts zu sorgen. Im Gebäude des Bundestages übt er sogar die Polizeigewalt aus. Der Einspruch des Bundestagspräsidenten gegen Umstände, die einen Wahlmangel begründen könnten, ist auf einen Monat befristet. Schäuble bedauert, dass der Bundestag zu groß geworden ist. Es liegt also an ihm, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten dafür zu sorgen, dass der Missstand beendet und das Parlament verkleinert wird – 598 Volksvertreter sind genug!

Es kommt aber noch etwas hinzu. Dem Bundestag liegen zahlreiche Wahleinsprüche von wahlberechtigten Staatsbürgern vor. Dem 193. Wahleinspruch von Axel Schlicher und etwa 40 anderen Wahlberechtigten, die seinem Einspruch beitraten, wurde am 8.12.2017 vom Wahlprüfungsausschuss das Aktenzeichen WP 193/17 zugeteilt. Der Präsident des Bundestages kann also nicht glaubhaft machen, diesen Wahleinspruch nicht zu kennen. Er kann sich sehr leicht darüber informieren, welche Umstände es gibt, die einen Wahlfehler begründen könnten. Denn diese Wahlfehler sind in dem genannten Schriftsatz des Wahleinspruchs mit dem Aktenzeichen WP 193/17 mit großer Akribie aufgelistet. Der Schriftsatz ist auch im Internet zugänglich. Andere Quellen kommen hinzu.

Die Frist für einen Wahleinspruch des Bundestagspräsidenten würde – so gesehen – einen Monat nach Erteilung des Aktenzeichens auslaufen, und das wäre der 8. Januar 2018. Schäuble würde dem Staat schweren Schaden zufügen, wenn er auf diesen seinen Einspruch verzichten und es billigend in Kauf nehmen sollte, dass an der Wahl des Bundeskanzlers 410 von insgesamt 709 Abgeordnete teilnehmen, die nicht durch eine unmittelbare Wahl legitimiert sind, weil es nur 299 Wahlkreis gibt, in denen eine unmittelbare Wahl der Volksvertreter möglich ist, wie sie das Grundgesetz verlangt.

Erschwerend kommt hinzu: Unter den 410 über die Listen der Parteien – „contra constitutionem“, also gegen die Verfassung – nur mittelbar gewählten Abgeordneten sind 111 Mitglieder des Bundestages anzutreffen, die entweder ein allgemein missbilligtes Überhangmandat oder – noch schlimmer – ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden und im Bundestag schon deshalb nichts verloren haben. Beide Figuren des Wahlrechts gibt es sonst nirgendwo auf der ganzen Welt. Und es findet sich niemand, der dem ganzen Spuk ein Ende bereitet? – … auch Schäuble nicht?

Verlängerung des Wahlkampfs mit anderen Mitteln

Das Wahlrecht ist ein Kampfplatz der Politik. Dort versucht jede Partei einen Vorteil für sich zu ergattern. So ist es zu verstehen, dass es in der Bundesrepublik Deutschland in nur 19 Legislaturperioden 22 Wahlrechts-Änderungsgesetze gab. Und die sog. Verhältniswahl führt dazu, dass keine der Parteien die absolute Mehrheit der Mandate alleine erreichen kann. Tritt noch hinzu, dass eine der maßgebenden Parteien keine Koalition eingehen will oder nicht als Koalitionspartner akzeptiert wird, dann kommt keine handlungsfähige Regierung zustande.

Das ist der Pferdefuß der Verhältniswahl. Er wurde der Weimarer Republik zum Verhängnis und kann auch die Bundesrepublik Deutschland hart treffen: Die Koalitionsverhandlungen werden zur einer Verlängerung des Wahlkampfs mit anderen Mittel, wie das in der Weimarer Republik schon der Fall war. Nachdem die Koalition nicht der Weihnachtsmann brachte, dann ist es vielleicht der Osterhase, oder auch der nicht. Schuld daran ist, dass es für die Regierungsbildung keine Frist gibt.

Gäbe es eine Frist, weil der Bundespräsiden in der konstituierenden Sitzung des Bundestags seinen Vorschlag für die Wahl des Bundeskanzlers vorzulegen hat, dann würden die Kanzlerwahl ohne das übliche Tam-Tam über die Bühne gehen. Man kann das aber auch viel einfacher erreichen, indem man den Abgeordneten die Diäten erst nach der Kanzlerwahl auszahlt und dadurch verhindert, das sie für etwas bezahlt werden, was sie nicht liefern. Und wenn man die Wahlkostenerstattung auf ordentliche Wahlen beschränken würde, würde keine Partei an Neuwahlen denken.

Herbert Wehner und Helmut Schmidt waren dafür …

… es fehlt nur Martin Schulz. Die SPD steckt in einem Dilemma: Eine große Koalition bedeutet für sie jedenfalls auf längere Sicht das parteipolitische Ende als große Arbeiterpartei. Sie kann sich aber aus staatspolitischen Gründen einer Koalition nicht verschließen und wird vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auch entsprechend unter Druck gesetzt. Die SPD kann also nicht „ja“, aber auch nicht „nein“ zur „Großko“ sagen. In dieser Zerreißprobe bleibt ihr eigentlich nur einen sinnvoller Ausweg: Nämlich das Wahlrecht so zu ändern, dass es die Bildung von Koalitionen vermeidet, so gut es eben geht. Und das ist die uneingeschränkte Einführung der Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen. Sie findet in Deutschland schon jetzt bei 299 von 598 Volksverstretern statt. Denn sie werden nach dem allgemein bekannten „Westminster-Modell“ schon jetzt in 299 Wahlkreisen unmittelbar gewählt, so wie es das Grundgesetz verlangt.

„Ich bin für das unmanipulierte Mehrheits-Wahlrecht, also für das englische System, das relative Mehrheits-Wahlrecht.“ Berichtete Günter Gaus in seinen „Gesprächen mit Herbert Wehner“ aus dem Jahre 1966. Ähnlich wie Wehner trat auch Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt schon 1966 für die klassische Form der Direktwahl ein, und wiederholte das zuletzt in der Talkshow „bei Maischberger“ im Oktober 2012.

Die erste große Koalition wollte den Wechsel zur klassischen Direktwahl sogar im Grundgesetz verankern. In seiner Regierungserklärung vom 13.12.1966 hat Kurt Georg Kiesinger als Kanzler in enger Absprache, also mit Zustimmung der SPD diesen Wechsel zum Verfahren der Direktwahl angekündigt. Im Protokoll der damaligen Plenarsitzung ist festgehalten:

Bundeskanzler Kiesinger: „Die stärkste Absicherung gegen einen möglichen Missbrauch der Macht ist der feste Wille der Partner der Großen Koalition, diese nur auf Zeit, also nur bis zum Ende der Legislaturperiode fortzuführen.“

(Beifall bei den Regierungsparteien CDU, CSU und SPD)

Bundeskanzler Kiesinger: „Während dieser Zusammenarbeit soll nach Auffassung der Bundesregierung ein neues Wahlrecht grundgesetzlich verankert werden, das für künftige Wahlen zum deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht.”

(Beifall bei den Regierungsparteien CDU, CSU und SPD)

Bundeskanzler Kiesinger: „Dadurch wird ein institutioneller Zwang zur Beendigung der großen Koalition und eine institutionelle Abwehr der Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen überhaupt geschaffen. Die Möglichkeit für ein Übergangswahlrecht für die Bundestagswahl 1969 wird von der Bundesregierung geprüft.“

Herbert Wehner war dafür. Helmut Schmidt war dafür. Es fehlt eigentlich nur Martin Schulz. Die SPD muss die Notbremse ziehen, sich an die erste große Koalition zurückerinnern und der Union den Wechsel zur klassischen Direktwahl anbieten, um danach ohne weitere Koalitionsverhandlungen in Neuwahlen zu gehen.

Das Schöne an Wahlen ist, dass niemand weiß wer gewinnt

Die klassische Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen ist ein leicht verständliches Verfahren. Wer die meisten Stimmen erhält ist gewählt. Eine Sperrklausel gibt es nicht. Die auf die Parteien entfallenden Mandate, werden von den Wählern verteilt. Die komplizierten mathematischen Verfahren nach d’Hondt, Hare-Niemeyer, Sainte-Lague/Schepers oder Pukelsheim I, Pukelsheim II bzw. Pukelsheim III sind der Direktwahl fremd. Die einfache Mehrheit vereinfacht die Regierungsbildung. Das trifft zu. Sie vereinfacht aber auch den politischen Wechsel. Es herrscht Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition.

Die einfache Mehrheit bündelt auch die Kräfte der Opposition zu einer glaubwürdigen Alternative. Koalitionen sind selten. Für große Koalitionen besteht kein Bedarf. Kommt es zu einer Wechselstimmung, dann kann die SPD ihre Chance als Koalitionspartner nicht nutzen. „Gewiss, Opposition ist Mist“, sagte Franz Müntefering. Doch große Koalition ist großer Mist. Denn es gibt keine Chance auf einen politischen Wechsel.

Weil man alle 299 Wahlkreise halbieren muss, um ihre Zahl zu verdoppeln und so 598 Plätze im Bundestag überhaupt mit direkt gewählten Abgeordneten besetzen zu können, kann niemand vorhersagen, was bei einer klassischen Direktwahl in 598 erheblich verkleinerten Wahlkreisen am Ende passiert.

Das ist das Schöne am Fußball und an den Wahlen: Niemand weiß wirklich, wer gewinnt.


Dr. Manfred C. Hettlage lebt in München, ist als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist und Blogger hervorgetreten, auch hat er mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, zuletzt: „BWahlG – Gegen¬kommentar“, 2017, ISBN 978-3-96138-018-3. Mehr zur Person des Autor und zum Wahlrecht auf seiner Internetseite unter: https://www.manfredhettlage.de/ .

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