Ludwig Stiegler war lange einer der bekanntesten „Linken“ in der SPD und hat in ihr so gut wie alle wichtigen Ämter ausgeübt; sein roter Pulli war Markenzeichen und Signalfarbe der Gesinnung. Am Flughafen konnte man ihn regelmäßig beobachten, wie er die Sicherheit-Leute mit einer Verordnung und dem Bundesgesetzblatt traktierte: Es ist nämlich erlaubt, kleine Messer mitzunehmen, auch wenn es keiner glaubt. Stiegler hatte immer ein Messer dabei, das ihm abgenommen werden sollte und für das er mit dem Gesetzestext und Millimetermaß kämpfte. Bei jedem Flug. Jedesmal aufs Neue.
Aber: „Ein Mann geht nicht ohne Messer aus dem Haus“, sagte der traditionsbewußte Oberpfälzer. Und wenn die Klinge nur so kurz ist, dass sie nicht mal im Flieger als Bedrohung gilt. Es geht um das Prinzip; Wehrhaftigkeit hat man es früher genannt.
Der Mann und sein Messer, eine lange Geschichte
Mein später angeheirateter Onkel Gilbert aus Reims in Frankreich benutzte nie das bei Tisch aufgelegte Besteck. Er hatte sein eigenes Messer dabei, immer. „Ein Mann gibt sein Messer nicht her, genauso wenig wie seine Frau“. Wahrscheinlich war es dieser Spruch, warum sich Tante Mizzy in München 1943 in den französischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen Gilbert verliebte und ihn bei sich versteckt hielt. Auch wenn sie wusste, dass Dachau darauf stand, und Dachau war kein Vorort, sondern ein KZ, das KZ für Frauen mit falschen Männern. Jedenfalls hat Gilbert 1946 seine deutsche Braut auch mit dem Messer gegen die verteidigt, die meinten, eine Frau aus Deutschland gehöre nicht nach Frankreich, und er hat weder seine Mizzy noch sein Messer jemals hergegeben, bis es ihm zuletzt aus der Hand genommen wurde.
Der Mann und das Messer, das ist ein lange Geschichte von Normalität wie Brutalität, Gewalt und wie Gesellschaften damit umgehen. Es ist ein langsamer Lernprozess.
Ludwig Thoma hat beschrieben, wie am Königlich Bayerischen Amtsgericht am Montag die sonntäglichen Wirtshausschlägereien verhandelt wurden. Ortsübliche Folklore waren solche Auseinandersetzungen, wenn die geprügelten Knechte und geknechteten Bauern die Knechte und Bauern der Nachbargemeinde verprügelten. Für auf dem Kopf zerschlagene Maßkrüge gab es kaum Strafe oder auch Strafnotwendigkeit; schließlich müssen die Bauernschädel hart sein wie ihr Leben, und die Klugheit der Steingut-Hersteller hat die Sollbruchstelle der Krüge so berechnet, dass sie schneller bersten als ein bayrischer Dickschädel. Aber beim Messer hörte der Spaß auf; mit Einstichtiefe in Zentimeter mal 3 ergibt Monate Gefängnis, so oder so ähnlich soll das Strafmaß ermittelt worden sein.
Innere Sicherheit legitimiert den Staat
Immer schon haben Gesellschaften Gewalttätigkeit im Inneren verfolgt und nach außen instrumentalisiert. Ian Morris hat dazu ein gewaltiges Werk vorgelegt mit dem Titel „Krieg: Wozu er gut ist“. In ermüdenden Tabellen weist er nach, dass in primitiven Gesellschaften die Todesart durch Gewalt am höchsten ist; ein Märchen, wer an die lieben Wilden glaubt und an ihre treuherzigen Blicke. Sie schlachteten sich gegenseitig ab und schlugen sich die Schädel ein. Jene Gruppen setzten sich durch, die untereinander besser zusammenhielten und schlauer waren; so entstanden größere Stämme, schließlich Städte mit Mauern und Freiheit nach Innen, und immer größere Staaten mit Grenzen und Frieden im Inneren. Kriege wurden geführt, aber es wurde trotz der immer größeren Kriege und immer größeren Armeen immer weniger durch Gewalt gestorben, denn nach Innen sorgten die Staaten für Sicherheit, übernahmen das Gewaltmonopol und die Sicherheit. Der Krieg war der brutale wie wirksame Mechanismus, der zu größeren Einheiten, mit Gewalt zu weniger Gewalt führte. Und wenn, wie in Deutschland, der große Staat fehlte, dann gehörten Kriege unter den kleinen Fürsten oder die Raubzüge der größeren Nachbarn zum bitteren Alltag, und so wurde gemordet und gemetzelt bis zu 30 verheerende Jahre lang, weil die starke Zentralmacht fehlte im zerfallenden Reich.
Aber wie beherrscht man die latente Gewalttätigkeit, die in uns lauernde Brutalität, die latente Bereitschaft zum Mord? Religion, Gesetze, Polizei, Strafen, Kultur – mit allen geistigen Gewürzen der Gesellschaften geht man dagegen vor. Es ist ein komplizierter Gesellschaftsvertrag, in dem die Bürger ihre Messer abgeben bis auf eine kurze Stiegler-Klinge und dafür Sicherheit vom Staat erhalten.
Abkehr von der Gewalt nach der Gewaltkatastrophe
Erziehung und Veränderung gehört dazu. Im 19. Jahrhundert trug man lange Gehstöcke bei sich, aber nicht zum Abstützen: Stockfechten war eine Kunst der Selbstverteidigung gegen ortsübliche Straßenräuber und Strauchdiebe, und dabei halfen entweder massive Griffe als Schlagwaffe oder lange Klingen, die im Stock verborgen waren; Stockdegen, heute natürlich verboten. Die Straßen und Städte wurden sicherer, die Gewaltbereitschaft nahm ab und wieder zu.
Und daher kam es zu Gewaltausbrüchen und lange war die Gewalttoleranz hoch, sehr hoch: Mit langen Stecken auf die hinzuhaltende Hand haben noch in den 60ern Lehrer ihrer Schüler bestraft; die Ärmel wurden hochgekrempelt und ein Ohrfeige, die den Kopf wegschnellen ließ, gehörte zum sadistischen Alltag. „Ja wenn die Fahrtenmesser blitzen und die Kommunisten flitzen…“, das Liedgut der HJ hielt sich lange in den braunen Winkeln, denn in „Flandern reitet der Tod“ und „Argonnerwald, bist ein stiller Friedhof bald“; die Wildgänse ziehen mit lautem Schrei nach Norden, denn die Welt ist voller Morden: Dass ein Lied von der Bündischen Jugend gesungen wurde, der Hitlerischen und der Sozialistischen Jugend, von der Fremdenlegion mit der 1. Strophe auf deutsch wie von den Marschkolonnen der jungen Bundeswehr zeigt, wie verbreitet über Staaten und Ideologien diese tiefsitzende Gewalterfahrung ist. Nur langsam und schrittweise entfernte sich dieses Land von der blutgrellen Alltagsgewalt und der düsteren Verherrlichung des Sterbens, ganz weg ist sie nie, aber das Entsetzen über die Gewaltexzesse der Eltern hat eine Generation geprägt, die Gewalt abzulehnen lernte.
Augen zu vor der Gewalt der anderen
Und jetzt ist sie wieder da, die Gewalt, und die Messer blitzen wieder. Klar, andere Gesellschaften haben ihre eigene Geschichte und vor allem Gegenwart aus Hass und Gewalt. Wer geschlagen wird, der schlägt zurück, wenn sich die Gelegenheit bietet und wo kein Recht ist, nimmt man es selbst in die Hand. Also zurück zu den Messern? Den Maßkrügen?
Das kann es nicht sein. Aber das erschütternde ist: Regierung und Rechtssystem schauen gerne weg. Wenn „Frauenschutzzonen“ eingerichtet werden, dann heißt es zweierlei: Außerhalb dieses engen Raums hat der Staat sein Sicherungsversprechen aufgegeben; und wer diese Zone verlässt ist selber schuld. Da wird Verantwortung unangemessen zurückverlagert, werden Frauen wieder ausgegrenzt. Und wo bleibt ihr Schutz? Gewalt hat es immer gegeben, aber die zunehmende neue wie alte Form der Gewalt wird verleugnet und verharmlost. Das ist kein einseitiger Vorwurf, aber Häufung und Muster dürfen nicht verharmlost werden. Sonst wird der Zusammenhalt einer Gesellschaft zerstört. Der Schutz nach Innen vor Gewalt ist die Logik seines Entstehens, nicht soziale Wohltaten, auch wenn diese bequemer erscheinen als die Herstellung von polizeilichem Schutz. Wenn wir aber wieder unsere Messer bräuchten, nicht nur zum Bratenzerteilen, dann hätte der Staat sein Recht verloren, denn das besteht nicht nur im Recht auf Steuern, sondern auch in der Pflicht zum Schutz seiner Bürger. Im Artikel 37 Grundgesetz ist geregelt, wie der Bund einspringt, wenn ein Land seine Aufgaben nicht erfüllt. Was aber, wenn weder Bund noch Land ihre Aufgaben noch zu erfüllen bereit sind? Denn in der Lage wären sie, Rekordeinnahmen und ein Haushaltsüberschuss von 14 Milliarden Euro zeigen, dass es nicht die materielle Not ist, sondern Unvermögen. Oder Unwillen?
Und genau vor dieser Frage stehen stehen wir: Erfüllt dieser Staat noch seine Kernaufgaben?