Alexis Tsipras ist eine erstaunliche Persönlichkeit. Als linksradikaler Oppositionsführer geißelte er die EU und die vorgeblich EU-hörigen Politiker aus PASOK und Nea Dimokratia. Das brachte ihm bei den letzten griechischen Wahlen eine solide relative Mehrheit, aus der er unter Zuhilfenahme der Rechtsaußen-Partei „Unabhängige Griechen“ (Anel) eine Regierungsmehrheit zimmerte. Es störte den jungen Ministerpräsidenten wenig, dass er damit all seine nicht minder linksradikalen Freunde in den anderen Euroländern kräftig vor den Kopf stieß – denn für diese war ein Zweckbündnis mit „Faschisten“ ungefähr so unvorstellbar wie für einen griechischen Reeder das Zahlen von Steuern.
Varoufakis – am Ende nur ein Intermezzo
Mit seinem intellektuellen Blendwerk namens Jannis Varoufakis machte sich der regierungsunerfahrene Grieche daran, die Europäische Union zu revolutionieren. Das damalige Ziel lautete: Griechenland kehrt zurück zum staatlichen Bürgersubventionismus und lässt sich dieses ohne Gegenleistung dauerhaft von den Kumpels aus der EU finanzieren. Dummerweise hatte der Spieltheoretiker Varoufakis die Rechnung ohne den Wirt gemacht – und während der Berufsprovokateur noch darüber jubelte, dass eine relative Mehrheit der griechischen Subventionsempfänger seine Idee vom europäischen Dauertropf guthieß, schienen sich beim Ministerpräsidenten erste Überlegungen Bahn zu brechen, dass die Übernahme eines Regierungsamtes doch mehr bedeutete, als lediglich seinem revolutionären Spieltrieb zu frönen.
Am Tag nach dem Referendum schickte er seinen Spielminister in die Wüste – und die Auguren suchen heute noch im Schafsgekröse nach der Beantwortung der Frage, ob dieses Folge der Mitteilung der verantwortlichen Resteuropäer war, sich mit dem volkswirtschaftlichen Selbstdarsteller nicht mehr an einen Tisch zu setzen, oder der inneren Einsicht des Tsipras geschuldet war, mit Varoufakis überzogen zu haben. Vielleicht auch war es die ungeliebte Erfahrung, dass Russlands vorgeblicher Griechenfreund Wladimir Putin am Ende eben auch nur ein Schaumschläger ist, der außer flotten Sprüchen wenig zu bieten hatte. Und die Chinesen, von manchen als griechischer Rettungsanker in der großen Not gedacht, bewegten sich derart rasant auf ihre eigene Wirtschafts- und Finanzkrise zu, dass ihnen die Gefährdung ihrer überlebenswichtigen Beziehungen zur EU wichtiger erschienen als ein kleiner Propagandaerfolg in der Ägäis.
Drachme oder das Unvermeidliche
Ohne seinen Spieltheoretiker zog Tsipras nun höchstselbst nach Brüssel – und musste einmal mehr feststellen, dass nicht nur der deutsche Finanzminister eine eisenharte Nuss ist, sondern auch zahlreiche andere EU-Verantwortliche keinerlei Lust verspürten, ihre eigenen Wirtschaftserfolge für staatsanarchistische Hellenen zu opfern. So stand der Radikallinke Tsipras vor der Frage: Drachme oder Unterwerfung. Spätestens diese Alternative ließ ihn vor dem unvermeidbaren, absoluten Chaos einer Rückkehr zur Dumpingwährung ein weiteres Mal pragmatisch werden. Bürgervotum und radikalsozialistische Weltrevolution hin oder her: Zähneknirschend fügte er sich in das Unvermeidliche und damit dem europäischen Diktat. Dabei kann er sich zugute halten, dass er für Griechenlands Staatsanarchismus immer noch deutlich mehr erreicht hatte als seine Vorgänger.
Der innenpolitische Preis dafür schien hoch. Die besonders radikalen seiner Radikalen verweigerten ihm die Gefolgschaft und er war unerwartet auf Gedeih und Verderb auf jene angewiesen, die er noch ein halbes Jahr zuvor quasi als Volksverräter geschmäht hatte. So gelang es immerhin, die notwendigen Parlamentsmehrheiten für das Rettungspaket 3 zusammen zu bekommen – aber nicht mehr, um mit eigener Mehrheit dauerhaft zu regieren. Die notwendige Konsequenz zog Tsipras dann am 20. August. Er trat zurück und ließ für den 20. September Neuwahlen ansetzen.
Wer sich nun jedoch der Hoffnung hingibt, den linken Sozialisten aus der Syriza damit los zu werden, der dürfte sich einer großen Selbsttäuschung hingeben. Ohne Zweifel: Tsipras hat von ihm verkündete Dogmen ein ums andere Mal gebrochen – gegen die Grundüberzeugungen der europäischen Linken, gegen den Willen der Mehrheit seiner Wahlbürger und zuletzt gegen jene, die ihn in seiner eigenen Partei großgemacht hatten. Eigentlich sollte man meinen: Wer so agiert, der hat verspielt.
Andererseits aber liegt darin ein System, welches einen großen Politiker ausmacht. Denn Tsipras‘ Verhalten ist geprägt von einem schier unüberbietbaren Selbsterhaltungs- und Machttrieb. Ohne die rechte Morgenröte wäre er nicht Ministerpräsident geworden. Ohne die Spielchen mit Europa hätte er sich seinem Volk niemals als echter Grieche präsentieren können. Ohne das radikale Umkippen wäre er bereits im Juli als Gescheiterter in die politischen Jagdgründe eingezogen.
An Machttrieb mangelt es Tsipras nicht
Eine Rückkehr zur Drachme – auch das hatte das Referendum gezeigt – hätten ihm seine Griechen niemals verziehen. Den Staat und seine Institutionen hingegen als Instrument persönlicher Karriere- und Zukunftspläne zu missbrauchen – das hat in Griechenland Tradition selbst beim geringsten Schafhirten. Ob Byzanz oder Istanbul – der Staat war den Griechen seit der Antike immer etwas, dem man möglichst wenig gab und von dem man möglichst viel erwartete. Ließ der Staat das mit sich machen – nun gut. Und wenn nicht? Dann sorgte man dafür, dass er zumindest möglichst wenig bekam.
Dieser Staat – das jedoch waren in der Krise nicht mehr die Verantwortlichen in Athen, sondern jene bösen, selbstgefälligen Sultane in Brüssel und vor allem in Deutschland. Alles hat Tradition in der vorgeblich ältesten Demokratie der Welt, die weder die älteste war noch demokratischer als zahlreiche andere Gemeinschaften der Zeit. Doch die Hellenismus-Idealisierung, die vor allem im künftigen Neu-Istanbul namens Berlin im 19. Jahrhundert hoch im Kurs stand und bis heute nachwirkt, soll an dieser Stelle ausgeblendet bleiben. Denn hier geht es nicht um Urteile und Vorurteile der Europäer, sondern um die Sicht der Griechen. Und bei der steht politischer Erfolg erst an hinterer Stelle. Wichtiger ist die Bindung zum Gewählten – und dass jener die griechischen Tugenden, die dem Staat möglichst wenig und sich und seiner Familie möglichst viel gönnen, offensiv vertreten hat.
Tsipras ist deshalb schon heute ein griechischer Held. Anders als seine Vorgänger Samaras, Papandreou und Karamanlis ist er wie einst Jason gegen die Hydra ausgezogen, um das Goldene Vlies zu erobern. Und es gelang – auch wenn es einige hässliche Stellen hat, deren unangenehme Auswirkungen jedoch kaum vor dem 20. September zu spüren sein werden.
Doch es ist nicht nur seine Heldenrolle, die Tsipras bei den Neuwahlen eine große Zustimmung sichern wird. Es ist auch die personelle Entleerung der Konkurrenz. Die Vertreter der Vor-Tsipras-Zeit brauchen nicht mehr anzutreten. Sie haben jegliche Reputation verloren. Präsentabler Nachwuchs aber ist in den familiär geführten Parteien weit und breit nicht zu sehen. Und insofern spricht vieles, wenn nicht alles dafür, dass Tsipras am 20. September seine Heldenrolle mit dem Zug auf den Olymp krönen wird. Egal, mit welcher Partei er antritt – egal, wer den Versuch unternehmen sollte, ihm seinen Triumphzug streitig zu machen.
Von Jason zum Herkules
Europa wird sich darauf einstellen dürfen, viele weitere Jahre mit Tsipras zu tun zu haben. Und vielleicht ist das nicht einmal die schlechteste Lösung. Denn zum einen hat er deutlich bewiesen, dass ihm politischer Pragmatismus über ideologische Wunschbilder geht. Und zum anderen könnte es sogar sein, dass sich aus dem Jason ein Herkules entwickelt, der die Kraft aufbringt, den griechischen Augiasstall zu reinigen und alle sonstigen sagenhaften Unbilden griechischer Gegenwartsmythologie zu bezwingen. Sein politisches Talent ist unbestreitbar. Die Zustimmung seines Volkes könnte unanfechtbar werden. Und den Willen, etwas zu bewegen, kann ihm niemand absprechen.
Mehr noch als all das aber zählt, dass er aus keiner der griechischen Nepokratien entstammt, die das Land seit Jahrzehnten systematisch aufgebeutet haben. So hätte er am Ende vielleicht das Zeug, als Alexis der Große in die Geschichte Griechenlands einzugehen. Auch wenn er dann vermutlich seinen urlinken Überzeugungen noch des Öfteren eine nicht weniger radikale Absage erteilen muss, als er es in den vergangenen Monaten getan hat. Aber auch das muss erst recht kein Schaden sein, wenn in Athen endlich jemand die Zügel in die Hand nimmt, der seinem Volk in das Bewusstsein prägt, was Kennedy einst seinen Bürgern zurief: „Frage nicht was dein Land für Dich tun kann, sondern was Du für dein Land tun kannst.“
Denn wenn es etwas gibt, an dem dieses Land krankt, dann ist es das traditionelle Nichtverhältnis seiner Bürger zu ihrem Staat. Solange die Griechen ihren Staat lediglich als kostenlose Sozialstation betrachten, wird Griechenland mental in der Dritten Welt verharren. Tsipras aber könnte es sein, der Ihnen erklärt, dass ein moderner Staat andere Anforderungen an seine Bürger stellt als jene traditionellen Verhaltensmuster byzantinisch-osmanischen Ursprungs. Geben wir ihn diese Chance.