In Alexander Kisslers Buch geht es um die Herausforderung des Westens durch die Aufgabe seiner eigenen Werte im Angesicht eines offensiven bis extremistischen Islam. Kisslers Feststellung wird in ihrem Selbstverständnis politisch höchst verschiedenen Zeitgenossen nicht gefallen: „Der die Städte des Westens heimsuchende Radikalislam ruht auf einem beänstigend stabilen Antisemitismus.“
Mit dem Terrormord an den Redakteuren der Satirezeitschrift Charlie Hebdo beginnt Alexander Kisslers neues Buch: „Ich sehe die Welt mit anderen Augen seit dem 7. Januar 2015 … Der Terror, zunächst noch ohne Adjektiv, hatte das Herz des alten Kontinents erreicht: Paris, die Metropole der Freiheit.“ Von da geht Kisslers Blick zu „9/11“; zum zweiten Anschlag gegen den jüdischen Lebensmittelladen in Paris am Tag nach Charlie Hebdo mit vier erschossenen Kunden und einem muslimischen Polizisten; zum Mord an vier Menschen im Jüdischen Museum Brüssel 2014 und zwei Toten bei der Geiselnahme in Sydney im Zeichen des Islam; zum Attentat auf die Konferenzteilnehmer „Meinungsfreiheit und Blasphemie“ in Kopenhagen, bei dem der Dokumentarfilmer Finn Nørgaard ermordet wurde, wonach der selbe Terrorist ins Jüdische Gemeindezentrum eindrang und den jüdischen Wachmann Dan Uznan, der ihn aufhielt, tötete, bevor der Attentäter selbst erschossen wurde.
Kissler: „Dem Westen also und den Juden als dessen Exponenten ist der Krieg erklärt worden – nur von einer kleinen Minderheit der Muslime, aber in einem Tonfall der Rechtfertigung und der Anklage, der Brücken baut zum Mehrheitsislam … Um die Welt und mich ein wenig besser zu verstehen, um jene Sorge zu durchdringen, die mich seit dem 7. Januar 2015 nicht verlässt, musste ich genau wissen, was das Feindbild des militanten Islam auszeichnet, den Westen.“
Toleranz ist ohne Haltung nicht zu haben
Kissler weiter: „Die geistigen Gründungsurkunden las ich, befragte Voltaire und John Locke nach ihrem Bild von Toleranz, aber auch die Bibel. Ich ging in die Schule bei Rémi Brague, Phillippe Nemo und Heinrich August Winkler, drei großen Denkern des westlichen Selbstverständnisses unserer Tage. Wohin ich mich auch wendete, überall wurde mir Toleranz als eine Übung in Standhaftigkeit nähergebracht und gerade nicht als gleichförmiges Desinteresse. So aber hat sich der Westen in weiten Teilen in den letzten Jahren entwickelt: zur Vereinigung der Menschen, denen alles egal ist, solange sie niemand beim Lebensgenuss und dessen Verdauung stört. Toleranz aber ist ohne Haltung nicht zu haben.“ (alle Hervorhebungen in der ganzen Rezension von mir, F.G.)
Damit ist Kisslers Buch-Thema klar, die Adresse folgt: „Das Verhalten von Politik, Medien und Kirchen legt davon ein trauriges Zeugnis ab. Es ist viel zu oft die pure Halt- und Haltungslosigkeit. Aus Angst wie aus Bequemlichkeit, regiert in Ansehung des militanten Islam das große Appeasement.“ Wie sich diese Beschwichtigungshaltung zeigt, findet sich auf vielen Seiten von Kisslers Buch. Wie sehr dieses Appeasement bereits zur Selbstzensur führt, beobachtet nicht nur unser Autor an vielen Stellen. Wie das funktioniert, nennt er „das Perfide am Terrorismus: Es kriecht als momentane Sorge in uns hinein und triumphiert als ewige Drohung.“
Wenn Weltlinge die Welt verachten
In zehn Kapiteln dekliniert Kissler durch, wer mit welchen Aussagen Antworten auf seine Fragen gibt, die ihn überzeugen. Beim Historiker Niall Ferguson fehlt ihm der Fokus auf der Freiheit. Den findet er beim Philosophen und Psychologen Carlo Sprenger, der an „wahrheitsunempfindlichen Kulturrelativisten“ beobachtet, dass sie „fremde Bräuche und unbegriffene Religionen unbesehen respektieren“. Den Schriftsteller und Philosophen Gilbert Keith Chesterton greift Kissler immer wieder auf, der mit 26 Jahren in „The Defendant“ üblicherweise nicht Verteidigtes verteidigte: „Ich habe begriffen, dass ein Verteidiger besonders dann vonnöten ist, wenn Weltlinge die Welt verachten.“
Chesterton habe die „Selbstaufgabe des Westens im Angesicht des Islam … bereits 1914 in einem Roman durchgespielt, „100 Jahre vor Michel Houellebecq, dessen Roman „Unterwerfung“ magischerweise am 7. Januar 2015 erschien. In Chestertons Zukunftsgroteske „Das fliegende Wirtshaus“ herrscht der „Chrislam“, „eine angeblich menschenfreundliche Verbindung von Christentum und Islam unter muslimischer Oberherrschaft.“ Bei Houellebecq sind die französischen Medien von „Verschweigen und Abwiegeln“ geprägt, bei Chesterton bringt „ein Journalist durch breit getretene Belanglosigkeiten ‚die Gehirne aller Zeitgenossen in Unordnung'“. „Letztlich“, schreibt Kissler, „sind sich Chesterton und Houellebecq mit Nietzsche einig: Der Islam ist eine Religion der Männer.“ Von da ist es nicht weit zu Dan Diners „Konzept der im und durch den Islam ‚versiegelten Zeit‘ … in der Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, zur Zeit der ersten Muslime zwischen 622 und 661“.
Den Aussagen westlicher Politiker, die Terroranschläge hätten nichts mit dem Islam zu tun, hält Kissler etwa Ayaan Hirsi Ali entgegen, „die die Abkehr von der Religion ihrer Familie fast mit dem Leben bezahlt hätte: ‚Wir müssen den Islam für die Taten seiner gewalttätigen Anhänger verantwortlich machen.'“ Wäre er Franzose, sagt Kissler, hätte er Charlie Hebdo nicht gekauft: „Das derbe Wüten gegen alle Religionen“ und Obszönitäten stießen ihn ab. Aber, macht er aufmerksam, die Frage des Religions-Philosophen Jonannes Hoff in der Zeitschrift Communio 2/2015 sei keine rhetorische: „Muss das Entsetzen über einen menschenverachtenden islamistischen Anschlag sich denn notwendigerweise darin Ausdruck verschaffen, dass man sich mit der säkularistischen Ideologie von Islamhassern identifiziert?“
Ein Zitat von Henryk M. Broder illustriert die Kritik, bei der Kissler kaum eine Ecke der Gesellschaft im Westen und den arabischen Ländern auslässt: „Deutschlands politische Klasse und die mit ihr verbandelte Kulturelite verbeugen sich umso tiefer vor der ‚Religion des Friedens‘, je mehr Verbrechen in deren Namen begangen werden.“ Der Philosoph Slavoj Žižek schließt an: „Je mehr man den Islam toleriert, desto stärker scheint der Druck zu werden, den er auf einen ausübt.“ Wie sehr die Meinungen kreuz und quer gehen, findet sich in Kisslers Kapitel „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“.
An Voltaire führt kein Weg vorbei
Um das verminte Gelände von Homosexualität und Religionen, „Regenbogenfamilie“, „Zoophilie“, Kundgebungen und Mahnwachen, wie Fernsehen und Printmedien damit umgehen, geht es im Kapitel „Alles so schön tolerant hier“. Kissler formuliert das nicht so, aber den roten Faden darf ich wohl öffentliche Naivität nennen. Im nächsten Kapitel „Wechselseitig unsere Dummheiten verzeihen“ signalisiert schon der Untertitel scharfe Klarstellungen: „An Voltaire führt kein Weg vorbei“.
Kissler erinnert an den Grundsatz von Roms Senat und Volk: „Beleidigungen, die den Göttern widerfahren, müssen die Götter rächen.“ Was der Atheist Voltaire dazu sagt, zur Toleranz in der jüdischen Geschichte und anderer Religionsbetrachtung, hat Kissler hier zusammengetragen: „Voltaire will die Geschichte der Menschheit als eine Abfolge von Epochen vorführen, in der trotz brutaler und brutalster Widerwärtigkeiten die Flamme der Toleranz nie verlosch und nie ganz unbekannt war.“ Ein Schnellkurs in Voltaire und doch mit Tiefgang kulminiert im Satz des zu tausend Peitschenhieben und zehn Jahren Haft verurteilten saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi: „Meinungsfreiheit ist die Luft, die jeder Denker zum Atmen braucht, der Zündstoff für das Feuer seiner Ideen.“ Gegen das „Fundamentalismusfieber“ des Wahabismus schrieb Badawi. Kissler merkt an, der Wahabismus sei sicher auch verantwortlich für das Verbrechen an dem Blogger: „Prinzipiell aber ist die duldende Toleranz für Andersmeinende, Andersglaubende im Islam theoretisch schwierig und praktisch sehr selten.“
John Locke mit seinem „Brief über Toleranz “ von 1689 steht im Zentrum des Kapitels „Ketzer müssen sein“. Kissler verweist auf Lockes Mahnung, jede Kirche sei „sich selbst orthodox, anderen irrgläubig oder ketzerisch“, die Gläubigen sollten sich also nicht zuviel auf den eigenen Glauben einbilden und mit jenem der anderen pfleglich umgehen. Der Staat aber dürfe weder über Glaubensfragen entscheiden, noch das Glaubensleben seiner Bürger reglementieren. Ein Schnellkurs in Locke, der auch alle Stichworte liefert, die Bismarck später gegen die Katolische Kirche brauchte. „Toleranz ohne Grenzen“, sagt Kissler, „ist und bleibt nur Ignoranz“ und weiß da Lockes Forderung nach einem definierten Bezugsrahmen an seiner Seite. Auf das Naturrecht berufen sich Locke und Voltaire wie zuvor schon Cicero, den Kissler hier mit ins Spiel bringt und aus „De republica“ zitiert, was seiner Meinung nach auch ein Papst unseres Jahrhunderts nicht schöner sagen könnte: „Wer ihm (Gott) nicht gehorcht, wird vor sich selbst auf der Flucht sein, da er die menschliche Natur verleugnet, eben dafür schwerste Buße bezahlen, auch wenn er allen übrigen vermeintlichen Strafen entronnen ist.“
Der Koran als das authentische Alte und Neue Testament
„Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ skandierten Muslime auf einer Demonstration in Gelsenkirchen im Sommer 2014. Um den muslimischen Antisemitismus geht es im Kapitel „Jude, Jude, feiges Schwein“, wie in Berlin gerufen wurde. Wie sich der Antisemitismus seit 1945 neu ausbreitete, wie groß der muslimische Anteil daran ist, wie wenig überzeugend dagegen angetreten wird, braucht für eine nicht vollständige Darstellung trotzdem 30 Seiten. Ob sich Islam, Judentum und Christentum überhaupt auf Augenhöhe begegnen können, ist zu bezweifeln, wenn der festverwurzelte Glaube des Islam gilt: „nach dem die originalen Offenbarungen des Alten und Neuen Testaments authentisch seien, sie aber systematisch von unwürdigen Sachwaltern (jüdischen und christlichen) deformiert worden seien. Dahr mussten die biblischen Schriften vom Koran abgelöst werden.“ Kissler nennt das die Korruptionsthese: „Mohammed kam demnach in die Welt, um den Juden und Christen eine Lektion in Texttreue zu erteilen, sie vom Joch verderbter Überlieferung zu befreien. Darum wird er auch das Siegel der Propheten genannt. Er hat in allem das letzte, authentische Wort.“
Ohne Blick in die Antike kein Verstehen der Geschichte
Kisslers Kapitel „Abendland, abgebrannt?“ beginnt mit Goethe: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Goethe, sagt Kissler, „wirbt für jenen ebenso schöpferischen wie hartnäckigen Umgang mit der Vergangenheit, der die Souveränität oder Selbstvergessenheit einer Zivilisation ausmacht.“ Was ist der Westen anderes, fragt unser Autor und antwortet mit dem Historiker Fernand Braudel: „vor allem ein Raum, ein kultureller Bereich“. Westeuropa hat „gemeinsame sprachliche Wurzeln im Lateinischen und Griechischen und eine auf den ‚Lehren eines Juden aus Nazareth‘ beruhende Religion sowie Mathematik, Astronomie, Technologie ‚aus dem Orient'“, fasst Kissler Ferguson zusammen: „Westen hieß also Aneignung, Anverwandlung.“ Um was ist der Westen geht es in diesem Teil des Buches.
Kissler: Mit dem Privatrecht schufen die Römer zugleich das Individuum, „ein Entwicklungsschritt, den der Islam nicht nachvollzog“. Er zitiert den Philosophen Phillippe Nemo: „Als später die politischen Philosophen Englands die Ausdrücke der Einzigartigkeit des Westens government of law, not of men und rule of law prägen, formulieren sie das alte staatsbürgerliche Ideal Griechenlands lediglich in ihrer eigenen Sprache neu.“ Und: „Der Fortschritt, den Rom dem Recht zugedeihen ließ, hat die Menschheit endgültig aus dem Stammesdenken befreit. Der Westen wird diese Errungenschaft zur gleichen Zeit aufnehmen wie das griechische Verständnis vom Bürger. Der Osten indes wird sie ignorieren.“
Der Westen ein Prinzip, der Islam eine Ideologie
Intellektuellen Pluralismus, so die Conclusio Kisslers aus einer Galerie von Denkern, gibt es nur im Westen: „Es gab eine indische, chinesische, japanische und arabische Wissenschaft. Doch das Fehlen einer wirklichen Freiheit zur Kritik war für sie fatal.“ Von dem „im besten Fall symphonischen Zusammenklang von Wissenschaft, Rechtsstaat, Privateigentum, Demokratie, Geistesfreiheit und Rationalität“ – dieser „Einzigartigkeit des Westens“ müsse „jeder heute so beliebte Kulturrelativismus abprallen“ ist Kisslers Credo: „Der Westen ist ein Prinzip, der Islam erscheint als Ideologie.“
Warum war es nach dem Jahr 1000 so schnell vorbei mit der islamischen Blüte? Der theologische Schultyp der Madrasa breitete sich aus, ihr Lehrplan der „Wissenschaft vom Wort“ oder der „Beweisführung“ (Ilm al-kalam) dient dazu, „den Glauben vor allen wissenschaftlichen und philosophischen Übergriffen zu schützen. Damit setzte die entschlossenen Wendung nach innen ein, von der sich die arabische Welt in mehrerlei Hinsicht nie wieder erholen sollte“, lässt Kissler den Kulturhistoriker Peter Watson sagen und fügt an: „Es war eine Selbstabschottung auf Überfremdungsangst, die einer islamischen Aufklärung das Licht ausblies.“ Bekanntlich ist es seither nicht mehr angegangen.
Als weiteres Fundament der westlichen Zivilisation nennt Kissler den Schlusspunkt von Augustinus 426 mit „De civitate Dei“, indem er „das göttliche vom irdischen Reich, die Civitas Dei von der Civitas terrena schied, zog er auch eine scharfe Trennlinie zum einstigen römischen Staatskirchentum ebenso wie zur Kirche des Ostens.“ Damit war der Schritt zur wahren Trennung noch lange nicht vollzogen. Im 50-jährigen Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser hätte es sonst eine Theokratie oder ein byzantinisches Staatskirchentum gegeben. Kissler zitiert Winkler: „Der historische Kompromiss aber … setzte die Kräfte frei, die Europa und den Westen dauerhaft prägen sollten.“ Durch die Magna Charta von 1215 setzte sich die Teilung der Gewalten fort „von fürstlicher und ständischer Gewalt, wobei die letztere in der Folgezeit von Adel, Geistlichkeit und städtischem Bürgertum ausgeübt wurde.“
Hic Rhodus, hic salta! First things first
Die großen Revolutionen von 1776 und 1789 sind der vierte Baustein „der abendländischen Zivilisation neben griechischer Polis, römischem Recht und biblischer Eschatologie“. Beschleunigt sieht Kissler die Entwicklung durch die amerikanische Eigenentwicklung. Die Virginia Declaration of Rights 1776 ist nach Winkler „die erste Menschenrechtserklärung der Geschichte“.
Kissler: „Ein knappes halbes Jahrhundert, nachdem das Morgenländische Schisma 1054 die religiöse Spaltung Europas in eine Kirche des Westens und eine des Ostens vollendet hatte, sorgten die Entdeckungen neuer innerer und äußerer Welten und sogar einer buchstäblich neuen Welt jenseits des Ozeans für den Aufbruch eines noch weitgehend mit Europa identischen Westens in eine globale Ära.“ Winkler, sagt unser Autor, greift aus diesem Anlass zur Fanfare: Nur im Westen habe sich das für jede Innovation unerlässliche „Klima des bohrenden Fragens“ entwickelt, nur im Westen wurde der Grund gelegt „für das, was wir Pluralismus und Zivilgesellschaft nennen.“
Kissler berichtet von einem virtuellen Streit zwischen Hans Magnus Enzensberger und Heinrich Aufust Winkler. Winkler glaube fest an die ungebrochene subversive Kraft der Ideen von 1776 und 1789. Ihr normativer Prozess sei nicht vollendet, solange die Menschenrechte nicht weltweit umfassend verwirklicht sind. Kissler: „Demnach ist der Westen ein universales Unterfangen. Seine Mission muss es sein, auf friedlichem Weg den Menschenrechten, die eben keine Rechte nur des westlichen Menschen sind, global Geltung zu verschaffen.“ Nicht so Enzensberger: „Der Universalismus kennt keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und abstrakt … Darin zeigt sich ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierungen überstanden hat … Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter … dann erweist sich der Universalismus als moralische Falle.“
Kisslers Fazit liegt wie eine Grundschicht unter der darauf liegenden Konfliktschicht mit dem Islam: „Enzensbergers Aufruf, ’sich von moralischen Allmachtsphantasien zu verabschieden‘, steht quer zur Hoffnung des Westens, seine Prinzipien gerieten schlichtweg allen Menschen zum Besten. Der Westen muss, da hat Winkler Recht, von dieser Überzeugung getragen sein, sonst ist er deren Anwalt auch nicht mehr im eigenen Haus. Und diese Selbstaustreibung ist weit fortgeschritten. Der Westen exorziert gerade die westlichen Werte, er schrumpft sich selbst retour vom Prinzip zur Region.“ Wiederfinden des Westens bedeutet Eintreten für universale Menschenrechte.
Am eigenen Schopf aus der Misere ziehen
„Wie der Westen sich selbst abschafft“ handelt Kissler im Kapitel „Schere im Kopf, Messer am Hals“ ab. Daraus nur das Leitmotiv: „Generell ist erstaunlich, wie viel Toleranz die westliche Zivilisation ihren erklärten Feinden entgegenbringt – sei es in vorauseilender Selbstzensur, sei es im ostentativen Desinteresse.“ Das nächste Kapitel formuliert der Autor „Dschihad unser“, im Untertitel „Die Kirchen und andere Virtuosen der westlichen Selbstzerknirschung“. Kostprobe: „Dass Toleranz auch repressiv sein und Autorität im Gewand des Antiautoritären daherkommen kann, weiß vermutlich niemand besser als die milde Mehrheitskirche des Westens … Fast ebenso weit fortgeschritten ist die Verwechslung von Toleranz mit Standpunktlosigkeit …“.
Im vorletzten Kapitel, „Nur durch die Macht der Scharia“, heißt der Untertitel spannend: „Warum es bis heute keine islamischen Menschenrechte gibt und das Gegenteil aber auch stimmt“. Wohin das zielt, ahnen wir bei Chestertons Behauptung, der Islam verkünde die „Gleichheit der Menschen, aber es handelt sich nur um Gleichheit für das männliche Geschlecht“. Kissler meint: „Die entscheidende Frage für alle, denen an einer friedlichen Koexistenz der Religionen gelegen ist, an Frieden überhaupt, lautet: Können die Menschenechte, dieser unaufgebbare Kern des westlichen Prinzips, auch islamisch hergeleitet werden? Oder müssen Muslime auf einen Teil ihrer Tradition verzichten, um sich ganz der freiheitlichen Zivilisation des 21. Jahrhunderts anzuschließen? Die zweite Variante hat die größere Wahrscheinlichkeit für sich.“ Lesen Sie selbst, was Kissler zu dieser Annahme führt. Und lesen Sie auch, was er in seinem kurzen Schlusskapitel „Das neue Band“ zu sagen hat. So viel sei verraten: Peter Sloterdijk erhoffe sich eine „Weltkultur“, Ayaan Hirsi Ali einen Wendepunkt des Westens und sich selbst heißt Alexander Kissler hoffen.
Auf Heinrich August Winkler und seine „Geschichte des Westens“ wies Kissler weiter vorne hin und sagte, Winklers Abendland sei zuzutrauen, „dass es sich am eigenen Schopf aus der Misere zieht.“ Hoffen wir das Beste, liebe Leser.
Alexander Kissler, Keine Toleranz den Intoleranten, Warum der Westen seine Werte verteidigen muss. Gütersloher Verlagshaus 2015. 184 Seiten.