Lange galt Angela Merkel als Vorbild für einen neuen Politikertypus: Als Physikerin, so wurde immer wieder erzählt, denke sie vom Ende her und handle in kühler Rationalität. Das schuf Vertrauen in einer immer komplizierter erscheinenden Welt: „Mutti“ mit dem Verstand der rationalen Wissenschaftlerin passt schon auf, dass die Tassen im Schrank bleiben.
Wenn Historiker einmal mit Abstand auf die heutige Gegenwart der zurückblicken, werden sie eine andere Republik beschreiben: Längst verfolgt Merkel eine Politik des persönlichen Machterhalts. Diesem Ziel ordnet sie alles unter. Womit sie nicht allein ist: Im hoch subventionierten Raumschiff Berlin hat sich eine politische Kaste gebildet, die die Verbindung zur Erde abgebrochen hat.
Politik folgt fragwürdigen Umfrageergebnissen und vermuteten Stimmungen; Schlagworte diktieren die Gesetzgebung. Der Historiker und Buchautor Klaus-Rüdiger Mai („Gehört Luther zu Deutschland?“) über das Verschwinden der Realitätsbezüge aus der Politik:
„Parteipolitik, nicht einmal im engeren, sondern im engsten Sinne, ersetzt Politik. Statt Rationalität und Wirklichkeitsbewußtsein, statt Prinzipienfestigkeit und Pragmatismus zu folgen, bewegt sich die etablierte Politik im modus irrealis. Pathos und Phrasen setzen sich über jede Notwendigkeit der Begründung und Argumentation hinweg. Die Unangemessenheit der Rhetorik und ihre Grobheit belegt die mangelnde Rationalität, weist darauf hin, dass die Leerstelle fehlender Argumente durch die Sprache der Macht überdeckt wird. An die Stelle der Logik tritt die Verdächtigung. Der politische Rationalismus, wenn er denn käme, würde an der Tür zur Debattierstube der Deutschen Republik womöglich das Schild lesen: ‚Bitte nicht stören, wir träumen gerade so schön‘ und achselzuckend und auch ein wenig traurig weiterziehen.“
Ein kurzer Luftzug
Nur kurz hatte die Wirklichkeit eine Chance, die dumpfe Luft in den Hinterzimmern der Macht der Republik zu ventilieren – und zwar an jenem späten Sonntag, an dem FDP-Parteichef Christian Lindner die Gespräche über eine Jamaika-Koalition für gescheitert erklärte. Dass es besser ist, „nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“ war sein Fazit. Lindner ist noch nicht ganz Teil des Berliner Konsens allgemeiner Wirklichkeitsverweigerung.
Auch ein Lindner-Punkt: Der deutsche Fiskus erhöhte seine Einnahmen in den vergangenen zehn Jahren von 540 Milliarden Euro auf fast 760 Milliarden, und bis 2020 sollen weitere zusätzliche 150 Milliarden in seine Kassen fließen – doch für Schwarz wie Grün reicht es immer noch nicht. Gerade mickrige vier bis sechs Milliarden wollten sie für die langsame und schrittweise Reduzierung des als „Soli“ verniedlichten Solidaritätszuschlags spendieren – ein Steuerzuschlag von mittlerweile jährlich rund 20 Milliarden Euro, der 1991 zunächst für die Kosten des Golfkriegs und seit 1995 zur Finanzierung der Wiedervereinigung befristet bis 2019 erhoben wird.
Man muss diese Geschichte so detailgenau erzählen, um verständlich zu machen, in welche grenzdebile Kombination von Staatsgläubigkeit und Staatssozialismus sich Union und Grüne verstrickt haben: Die Golfkriegsfinanzierung wird als Bildungssoli neu verkauft – in einer Zeit der größten Geldschwemme aller Zeiten.
In der Jamaika-Koalition sollte diese Art Politik wie eine unendliche TV-Serie mit Angela Merkel bei zunehmender Ermüdung des Publikums fortgeschrieben werden. „Den Lindner machen wir auch noch zum Guido“, soll Merkel gesagt haben – die Fortsetzung ihrer gescheiterten Politik mit anderen Köpfen der Republik.
Von der GroKo zur SchrumpfKo
Lindner hat dieses deutsche Wolkenkuckucksheim romantischer Wirklichkeitsverdrängung kurz erschüttert. Beliebt hat es ihn nicht gemacht bei den journalismusschaffenden Gesinnungsfreunden, die deutsche Redaktionen bewohnen wie abgehauste Wohngemeinschaften der späten 70er. Aber lang durfte der frische Wind nicht durch die Straßen der verlotterten Hauptstadt wehen: Auf Druck des von der SPD gestellten Bundespräsidenten läuft alles auf eine Koalition zwischen CDU/CSU und SPD hinaus – „Große Koalition“ genannt, obwohl das Uraltpaar nach den verheerenden Wahlverlusten am 24. September von 80 auf gerade 54 Prozent Stimmenanteil im Bundestag gefallen ist – mehr eine Schrumpf- als eine Große Koalition.
Aber gelernt haben sie nichts. Zu beobachten ist vielmehr der sofortige Rückfall in die alten Muster der Politik: höhere Steuern, höhere Abgaben, mehr Sprüche – nur kein Rühren an Merkels dramatischen Fehlentscheidungen.
Sofort formulierten führende SPD- Politiker ihre Bedingungen für eine neue GroKo, nämlich eine Verwirklichung des Steuerkonzepts der SPD und die Einführung einer „Bürgerversicherung“. Für sogenannte „Besserverdiener“ bedeuten diese beiden Maßnahmen weitere erhebliche Mehrbelastungen. Sie werden kommen.
Verlockend auch die neuen fianziellen Spielräume für staatliche Umverteilung: Mit der Einheitskasse kann dann sukzessive die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden, um „soziale Gerechtigkeit“ herzustellen. Ergebnis: Selbstständige zahlen künftig viel mehr für weniger Leistungen.
In einer weiteren Phase ist dann zu erwarten, dass auch für weitere Einkünfte wie Mieteinnahmen und Einkünfte aus Kapitalvermögen Versicherungsbeiträge erhoben würden. Für Grüne, Linke und den linken Flügel der SPD ist es ein „Gebot der sozialen Gerechtigkeit“, auch Vermieter und Sparer zu zwingen, auf ihre Einkünfte Beiträge an die gesetzliche Krankenversicherung zu entrichten.
Gleichzeitig soll der Soli laut SPD zwar für Bürger, die bis 52.000 Euro zu versteuern haben, abgeschafft, für alle anderen aber weiter erhoben werden. Das heißt, dass jemand, der 76.000 Euro im Jahr zu versteuern hat (also gut 6.300 Euro im Monat), künftig in Wahrheit von der nächsten Gehaltserhöhung 47,5 Prozent Steuern zu bezahlen hat, da ja die 5,5 Prozent Soli noch auf die 45 Prozent aufgeschlagen werden. Darüber hinaus soll nach den Plänen der SPD, die sie jetzt als Grundlage für Verhandlungen über eine GroKo formuliert hat, die „Reichensteuer“ von derzeit 45 auf künftig 48 Prozent plus Soli angehoben werden – die Gesamtbelastung würde danach bei 50,64 Prozent liegen. Schöne neue Welt. Zudem will die SPD die Abgeltungsteuer abschaffen.
Wie sie das umsetzen will, ob nun nur für Zinseinkünfte oder auch für Dividenden, beantwortet die SPD lieber nicht, und sie weiß warum: Denn dann würde deutlich, dass künftig nicht nur höhere Steuern für Erträge von Sparbüchern, Bundesanleihen und Riester-Sparplänen gezahlt werden sollen, sondern dass Dividendenbezieher zweimal zahlen sollen. Auf Unternehmensebene und dann noch einmal mit dem vollen persönlichen Einkommensteuersatz auf privater Ebene.
Kapitalisten besteuern
Unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ verbirgt sich ein groteskes Abkassiermodell, das die Bürger noch stärker unter Knute und Kontrolle des Einheitsversorgungsstaats zwingen soll. Damit würden für Erträge von 100 Euro, die eine Kapitalgesellschaft erwirtschaftet, in der Spitze bei Ausschüttung über 65 Prozent an den Fiskus entrichtet werden müssen – ein enteignungsgleicher Vorgang. Es ist perfide, Anleger, die ohnehin unter der Niedrigzinspolitik leiden, durch Steuererhöhungen noch stärker zu schröpfen.
Wird sich die CDU/CSU gegen all das wehren? Das ist kaum zu erwarten. Nach dem Scheitern von Jamaika ist Merkel auf die SPD angewiesen. Neuwahlen fürchtet Merkel, denn die Union könnte unter die 30-Prozent-Marke fallen, was wohl sogar für Pattex-Merkel den Sturz vom Thron bedeuten würde. Ohnehin ist die Union in den vergangenen Jahren vergrünt und sozialdemokratisiert.
So wird wohl weiterregiert – am Wähler und seinen Interessen vorbei. Denn längst hat sich in der deutschen Republik ein Regierungsstil eingebürgert, den der Politikwissenschaftler Siegfried F. Franke („Die gefährdete Demokratie“) als den der „Neuen Autoritären“ bezeichnet: Der Einfluss der Parlamente wird beschnitten, indem Parteifunktionäre „Koalititionsverträge“ schließen, die dann nur noch abgenickt werden dürfen – eine eklatante Missachtung und Entmachtung des Souveräns.
Franke beklagt zu Recht auch, dass Entscheidungen in kleine, nicht transparente Gruppen außerhalb des Bundestags ausgelagert werden – in „Koalitionsrunden“, „Elefantenrunden“, „Steuerungsgruppen“, „runde Tische“: „Selbst Parteitagsbeschlüsse werden ignoriert oder nonchalant zur Seite gewischt, wenn es der Parteispitze nicht passt.“ Merkel hat dies zur Meisterschaft entwickelt: So fiel die Entscheidung für den Atomausstieg in einer von ihr berufenen „Ethikkommission“.
Politik wird damit zufällig: „Man verfolgt eine bestimmte Politik nicht deshalb, weil sie notwendig ist, sondern weil sie sich gerade anbietet, so wie man etwas kauft, nicht weil man es benötigt, sondern weil es gerade im Sonderangebot ist“, spottet Klaus-Rüdiger Mai.