Immer öfter schreiben Leser, sie wollten nichts mehr über Merkel lesen und keine Fotos von ihr sehen. Diesem Wunsch können wir nicht nachkommen, solange Angela Dorothea Merkel geschäftsführend oder wiedergewählt im Amt ist. Aber vielleicht haben wir anderen Trost.
„Eine strategische Grundausrichtung“ von Angela Merkel beschreibt Stefan Braun von der Süddeutschen Zeitung. Was Braun da in der Zeitung, die ihr nicht Holde im Internet gerne Alpen-Prawda nennen, schreibt, lässt mich fragen: Kündigt die Süddeutsche Merkel die Gefolgschaft?
Nach Brauns Befund lautet diese „strategische Grundausrichtung“: „Wo ich bin, ist die Mitte – egal, wohin diese gerade wandert. Mitte ist Mitte, ganz gleich, ob die SPD, die CSU oder die Grünen diese mal eben besonders stark in eine Richtung verschoben haben. Dass Merkel diese Mitte so gut wie nie selbst definiert, hat sie in zwölf Jahren Kanzlerschaft nicht wirklich gestört. Ihre Strategie war wichtiger als ihre Überzeugung. Ganz nüchtern beschrieben.“
Erst mal konstatiere ich die im polit-medialen wie im polit-wissenschaftlichen Raum ebenso übliche wie (sich selbst) irreführende Verwechslung von Strategie und Taktik. Merkel hat keine Strategie. Was Braun beschreibt, ist pure Taktik. Der nächste Absatz von Braun belegt das, die Verwechslung scheint ihm nicht aufzufallen, kein Wunder, wer sich täglich im engen Raumschiff Berlin-Mitte bewegt, kann sich der dortigen leichten Politsprache auf die Dauer schwer entziehen:
„Man kann das klug nennen, weil das Merkel’sche Prinzip mehr als zehn Jahre gut funktioniert hat. Man kann es als liberalen Pragmatismus beschreiben; immerhin bleibt sie auf Abstand zu allem, was extrem aussieht. Aber man kann das auch problematisch finden, weil es immer um das Ausbalancieren anderer Kräfte geht und nur selten um das eigene Bekenntnis; weil es clever wirkt, aber das Publikum nicht nachhaltig an einen bindet; und weil sich über die Zeit das Profil der eigenen Partei und der eigenen Person auflöst.“
Von Theo Schiller, der im Zorn die FDP verließ wie viele andere, als diese 1982 den Koalitionspartner wechselte, stammt die schöne Feststellung: „Die mitteste Mitte ist der nullste Nullpunkt.“
Stefan Braun erklärt Merkel im nullsten Nullpunkt so: „Zwei Jahre lang hatte sie mit Verve für große Reformen geworben; seit dem Spätsommer 2003 war sie sehr entschieden und sehr deutlich für einen Umbau des Gesundheits- und des Steuersystems eingetreten. Doch obwohl sie noch wenige Wochen vor dem Wahltag bei fast 48 Prozent Zustimmung gelegen hatte, stürzte sie bis zu jenem 18. September 2005 auf 35 Prozent ab – und konnte sich nur mit größter Mühe in eine große Koalition retten.“
Diese Erfahrung, schlussfolgert Braun, habe Merkels Politik beliebig gemacht: „Merkel und ihre Getreuen schworen sich …, dass sie ein derartiges Risiko nie wieder eingehen würden. So begann das neue Denken. Die Idee des Austarierens. Die Strategie: Lass andere vorpreschen, du wirst den Mittelweg durchsetzen. Merkel agierte nicht als Ideengeberin, sie passte sich den Winden und Ideen anderer an. Und sie tat das immer nur dann, wenn es in die Stimmung passte – oder unbedingt sein musste.“
Schade, dass Braun nicht erwähnt, wer entscheidet, wann etwas „in die Stimmung passte – oder unbedingt sein musste.“ Das ist seine Zunft, die Medien. Und er übersieht: Merkel hat auch vor der Wahlkatastrophe 2005 nichts anderes getan als das, was sie für medienpopulär hielt.
Abschaffung – Aussetzung – der Wehrpflicht, Atomausstieg, Energiewende, die de facto Öffnung für grenzenlose, unkontrollierte Einwanderung und so weiter, alles habe Merkel nicht aus Überzeugung getan, sondern weil es medien-populär war, zählt Braun auf und stellt fest: „Das Merkel’sche System der Stimmungspolitikerin hatte einen Höhepunkt erklommen.“
Die abschließenden Fragen von Braun kann er nur rhetorisch meinen, was sein letzter Satz dokumentiert: „Und was will die Kanzlerin? In der Sache? Hat sie ein Ziel, eine Richtung, eine Überschrift für dieses schwere Bündnis? Kann sie sagen, wie sie auf Frankreichs Emmanuel Macron reagieren möchte? Wird sie erklären, was es für sie und ihre Politik bedeutet, dass jetzt in Österreich eine neue Regierung im Amt ist? Kann sie einfach so tun, als sei nichts passiert, obwohl damit eine weitere Regierung in der EU ihre Flüchtlingspolitik komplett ablehnt? Auch danach wird sie ab sofort vermehrt gefragt werden. Gesagt hat sie dazu bis heute herzlich wenig. Dieses ‚wenig‘ kann sehr schnell zu wenig werden, um der CDU und sich selbst noch einmal Kraft und Richtung zu geben.“
Nun, „Richtung“ hat Frau Merkel noch niemandem gegeben, es sei denn sich selbst: Richtung Amt & Macht. Sie folgt immer nur den Richtungen anderer, die in den Medien populär sind. Im Moment stehen sich nur zwei Richtungen gegenüber, die beide keine Zukunft haben: das Merkel’sche weiter so und die durch alle anderen im Bundestag isolierte AfD mit zurück auf Anfang vor Merkels Beginn – eigentlich vor den Anschluss der DDR an die Bonner Republik. Die Person in der deutschen Politik, die das Zeug hat, eine neue, selbstbewusste Richtung einzuschlagen, ist noch nicht in Sicht. Um die Medien bräuchte sich diese Person nicht zu kümmern. Die folgen der Macht, die sich über sie hinwegsetzt. Nichts imponiert ihnen mehr.
Eines ist der Artikel von Stefan Braun ganz sicher, ein Indiz für die Absetz-Bewegung jener Medien von Merkel, die sie lange fast unbegrenzt unterstützten. Gleich mehrere „Wirtschaftslenker“ lässt das Handelsblatt mit dem massiven Titel „Wirtschaft auf Distanz zu Merkel“ los. Es ist wie bei dem von Schäuble einst bemühten Bild vom Phänomen der Lawine. Ist sie einmal ausgelöst, kommt sie nicht mehr zum Stillstand. 2018, das Jahr der Lawine?