Ewig progressive Pädagogik ist manchmal nicht davor gefeit, zurück ins Mittelalter zu verfallen. So geschehen jetzt in 14 der vom Schulsenator 230 befragten Schulen in Hamburg. Zappelphilipp-Schüler sollen durch das Tragen einer – je nach Körperwuchs der Kinder – bis zu fünf Kilogramm schweren und 80 bis 170 Euro teuren Sandweste sediert werden. Immerhin nur mit der Zustimmung der Kinder und deren Eltern. Nein, es ist kein verfrühter Aprilscherz.
Die Sandwesten-Pädagogik gibt sich aus als „therapeutisches Angebot“, als „Instrument zur psychomotorischen Förderung“ und als „Alternative zur Medikamentenvergabe“. Und weiter in der pädagogischen Märchenstunde: Dadurch würden das Konzentrationsvermögen und die körpereigene Wahrnehmung gestärkt, sowie die „propriozeptive Stimulation und Tonusregulierung“ gefördert. Das versteht ja jeder!
Und woher kommt das alles? Die Idee wurde von einer Sonderpädagogin namens de Wall importiert. Sie war in den USA tätig gewesen – als Lehrerin, nicht als Aufseherin in einem Boot Camp für kriminelle Heranwachsende. Öffentlich wurde die Sandwesten-Pädagogik durch das „Hamburger Abendblatt“. Dort wird die Lehrerin mit ihren Erfahrungen aus den USA zitiert: Die Sandwesten „verteilen Gewicht und Druck gleichmäßig und flächendeckend auf die Muskel- und Belastungssensoren. Das steigert die kognitive Leistungsfähigkeit“, zitiert das „Hamburger Abendblatt“ die Sonderpädagogin der Harburger Schule Grumbrechtstraße.
Und der Hamburger Schulsenator? Er eiert herum: Ihm seien derzeit „keine wissenschaftlich umfassend abgesicherten Befunde bekannt, die die Wirksamkeit dieses Vorgehens valide bestätigen“. Allerdings gebe es aus der schulischen Praxis Berichte, die auf eine positive Wirkung des Einsatzes hindeuteten. Auch lägen aufgrund der bisherigen Erfahrungen keine möglichen negativen Folgen einer längerfristigen Anwendung vor. Und: Da es sich beim Einsatz der Westen um eine Entscheidung der Sorgeberechtigten handele, sei eine Evaluation durch die zuständige Schulbehörde nicht vorgesehen.
Ernsthaft wieder: Eines freilich kommt noch hinzu, und da ist die Schulpolitik nicht unschuldig: Viele Kinder werden im Zuge der Euphorie um „Inklusion“ in Regelklassen gesteckt, in denen sie überfordert sind, zu wenig individuell gefördert werden können und wo sie den ganzen Klassenrahmen sprengen. Hauptsache die Inklusionsquote stimmt. Zwangs-Quote, so könnte man sagen, ist das Ziel.
Da wäre doch tatsächlich einmal – wieder etwas Satire – darüber nachzudenken, ob man gewissen ewig-innovativen Lehrern, Bildungsforschern und Bildungspolitikern nicht auch eine Sandweste anlegen sollte, um sie in ihrem hyperaktiven Innovations- und Profilierungszwang zu bremsen.
Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.