Inspirierend ist der SPIEGEL in den letzten Wochen nicht gewesen. Auch das Heft 49 läuft – was die Politik anbetrifft – der Aktualität der Tagesmedien hinterher. Aber: Es gab schon uninteressantere SPIEGEL-Ausgaben.
Erregungsgewinn für Karl Lauterbach
Dass die Neulauflage der Groko eine Allianz der Verlierer wäre, verkünden die Medien seit dem Platzen von Jamaika. Die Titelgeschichte „Die Paläo-Koalition“ perpetuiert längst Geschriebenes und wärmt nach bewährter Manier alte SPIEGEL-Artikel auf. Wer vom tagtäglichen Getöse um das Groko-Gerangel in Berlin noch nicht die Nase voll hat, findet Bestätigung und – noch mehr – Spekulation, aber eher keine neuen Erkenntnisse. Aber ein Magazin dieser Sorte ist auch etwas für Leser, die den täglichen Nachrichtenstrom nicht verfolgen, und sich einmal à Jour bringen lassen wollen. Das gelingt.
Das Wahlergebnis hat ein Gutes: Unübersehbar treten die Risse in der Patina der Berliner Politik zutage. Davon ist keine Partei ausgenommen. Der Lack ist ab. Die Sondierungsverhandlungen zeigen deutlicher als der Wahlkampf selbst die innere Verfassung der Parteien, und sie zeigen endlich einmal die Themen, um die es ihnen geht. Was im Wahlkampf wolkig vernebelt wurde, nur damit man sich nicht zu deutlich mit konkreten Themen auseinandersetzen musste, bekommt jetzt Konturen. Allein unter diesem Aspekt wären Neuwahlen eine sehr interessante Option. Ob dann die Wähler das Festhalten der Kanzlerin an der Macht und die Eintrittsgelder der SPD – Abschaffung der Privatversicherungen und einer weiteren teuren und von zukünftigen Generationen zu bezahlenden Rentenerhöhung – für eine Groko goutieren, ist lang nicht ausgemacht. Es ist eher das Rezept der SPD-Linken, den Umverteilungsstaat noch etwas auszudehnen. Völlig verloren geht die Tatsache, dass privat Versicherte nicht nur zusätzliches Zahlvieh sind – sondern auch Leistungen beanspruchen. Ihre Aufnahme in die Gesetzliche dürfte in den allermeisten Fällen keinen Mehrertrag bringen, außer Erregungsgewinn für den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach.
Von Angela Merkel wissen wir, dass sie bereits kurz nach der Wahl eisern an daran festhielt, sich keines Fehlers bewusst zu sei. Und Martin Schulz? Im SPIEGEL-Gespräch mit Markus Feldenkirchen und Veit Medick erklärt er: „Ich bin aus hartem Holz“. Das klingt nicht nach Einsicht. Andererseits nehme ich es ihm noch nicht einmal ab, das harte Holz. Außerdem: Welch ein Duo! Die „eiserne“ Kanzlerin und der „hölzerne“ Vize!
Halbherzige Nachfragen wegen zu großer Nähe?
Während Siemens und ThyssenKrupp, zwei der stolzesten deutschen Technikkonzerne sich selbst zerlegen, will Schulz den Kapitalismus zähmen – in Europa. Da zeigt einer verbal die Zähne und kneift dann doch wieder einmal die Lippen zusammen. Eines führenden Nachrichtenmagazins nicht würdig ist, dass die Redakteure beim Interview mit dem SPD-Parteivorsitzenden nicht hart nachfragen. An dieser Stelle wäre meine Empfehlung, bei den Interviews mit Martin Schulz den Schoßhund Feldenkirchen außen vor zu lassen. Sein Problem ist mit „Stockholm-Syndrom“ zu beschreiben: Zu große Nähe erzeugt Verständnis; selbst Geiseln der RAF in Stockholm verteidigten ihre Peiniger. Journalisten brauchen aber kritische Distanz. Das Spiel zwischen Nähe und Distanz ist die eigentliche Kunst. Der SPIEGEL selbst beklagt immer wieder lautstark die Scheu vor allem der Bundeskanzlerin, konkret zu werden – und betreibt das Geschäft selbst, indem bei den neuralgischen Punkten in Schulz-Gesprächen Nachfragen halbherzig vorgetragen oder Themen gar nicht erst angesprochen werden. Während die Bevölkerung die Themen Zuwanderung. Integration und Sicherheit umtreiben, kann der SPD-Vorsitzende froh sein, dass er nicht mit ,Schmuddelthemen‘ behelligt wird.
Falsch liegen nicht nur Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende, wenn sie vermeintlich falsche Entscheidungen verhüten wollen. Falsch liegen sie auch, wenn sie das Richtige unterlassen. Staaträson hin, Staatsräson her: Neuwahlen sind ein scharfes Schwert. Wenn man es nicht ziehen will, dann ist ein Austausch des handelnden Personals das Gebot der Stunde.
Peter Müller und Christian Reiermann sehen in „Brüsseler Egotrip“ den Vorschlag für eine Europäische Verteidigungsunion als eine historische Chance. Aber welches EU-Mitglied wird sich mit ein- oder zweistelligen Euro-Milliarden an der Finanzierung einer gemeinsamen Armee beteiligen?
Kohls schwarze Kassen
Die heimlichen Spender der CDU hat es nie gegeben. Alles Bluff, ist die Überzeugung von Markus Dettmer und Sven Röbel in „Das Ehrenwort“. Die Redakteure haben zusammen mit dem SWR Helmut Kohls Vermächtnis durchleuchtet und kommen zu dem Ergebnis, dass es sich schlicht um schwarze Kassen gehandelt habe.
Die Münchner Polizei hat eine kroatische Roma-Bande ausgehoben, die europaweit für Einbrüche verantwortlich ist. Jörg Diehl und andere beschreiben anschaulich eine kriminelle Parallelgesellschaft, zu lesen in „Die Spur der Prinzessin“.
Weitere Themen diktiert der Terminkalender für Dezember:
Ein Jahr nach dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz berichten Britta Stuff und Wolf Wiedmann- Schmidt in „Die Vergessenen“ über die Enttäuschung vieler Opfer. Der SPIEGEL veröffentlicht deren offenen Brief an die Bundeskanzlerin.
Am 8. Dezember wird im Düsseldorfer Kongress Center das Gerichtsverfahren zur Loveparade-Katastrophe eröffnet. Es ist der Hartnäckigkeit der Düsseldorfer Kanzlei Baum Reiter & Collegen zu verdanken, dass die Verantwortlichen sich einem Verfahren stellen müssen. Wobei die obersten Spitzen – Veranstalter, Oberbürgermeister und Polizei inklusive dem damaligen NRW-Innenminister Jäger – nicht vor Gericht stehen. In „Hoffentlich geht alles gut!“ zeichnen Martin Hesse, Julia Jüttner und Sven Röbel nach, warum die Katastrophe absehbar war. Eine sehr private Anmerkung: Ich bin bis heute dankbar, dass meine Kinder mir genau für diesen Tag Karten für ein Wader/Wacker-Konzert in Mainz geschenkt hatten, zu dem wir als große Familie fuhren. Sie wären ansonsten auch in Duisburg auf der Loveparade gewesen. Ich mag es mir nicht vorstellen.
Ab dem 21. Dezember wird Sergej W. vor Gericht stehen. Er wird beschuldigt, am 11. April den Anschlag auf den BVB-Bus verübt zu haben. „Der Mann von Zimmer 402“ zeichnet ein vielschichtiges Portrait eines Deutschrussen, der vermutlich nie wirklich angekommen ist.