Weil der Prinz das schlafende Dornröschen wachküsst, sei der Kuss nicht einvernehmlich. Und Märchen wie Dornröschen, wo Frauen im Tiefschlaf geküsst werden, würden den sexuellen Übergriff verherrlichen. Das äusserte eine besorgte Mutter neulich auf BBC. Es dauert einige Momente, bis man nach solchen Bemerkungen das Gleichgewicht wiederfindet.
„Ich denke, in Dornröschen geht es auch um sexuelles Verhalten und Zustimmung“, sagte sie weiter. „Diese Märchen sind bezeichnend dafür, wie tief verwurzelt dieses Verhalten in unserer Gesellschaft ist.“ Dornröschen sei frauenfeindlich und sexistisch, es gehöre nicht in Schulerziehung, Kinder müssten davor geschützt werden. Pädagoginnen und Feministinnen stimmen ihrer These zu. Persönlich denke ich, es sollte umgekehrt sein: Märchen sollten vor gewissen Eltern, Pädagoginnen und Feministinnen geschützt werden. Mit ihrer Ideologie vereinnahmen sie die Unbedarftheit der Erzählungen und interpretieren Dinge hinein, die absurd sind. Das Sexismus-Fieber grassiert und es ist im Begriff, nun auch die Märchen zu verhexen.
„Märchen transportieren patriarchale Geschlechterrollen, mit denen sich Kinder dann zu identifizieren versuchen“, erklärte eine Pädagogin zu der Debatte in der Gratiszeitung 20 Minuten. Auch Natalie Trummer von Terre des Femmes findet, dass „diese Stereotypen dann verantwortlich sind für die sexuelle Gewalt und Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft“. Eine Lehrerin müsse in der Schule kritische Fragen zu Märchen stellen, etwa, „warum nicht ein Prinz einen Prinzen küsst oder eine Magd eine Prinzessin.“
Tatsächlich küssten sich Prinzen nicht vor 200 Jahren, zur der Zeit, als zum Beispiel die Grimm-Märchen geschrieben wurden – zumindest nicht öffentlich. Es gab da auch noch keine 60 verschiedenen Geschlechts-Identitäten und keine Feminismus-Experten, die sich tiefgründig mit Prinzenküsschen und deren Auswirkungen auf schlafende Prinzessinnen auseinandersetzen. Aber es gab damals schon eine Art politische Korrektheit, zumindest, was berühmte Erzählungen der Gebrüder Grimm anging. Viele der von den Brüdern gesammelten und teilweise überarbeiteten Werke, die sie zwischen 1812 and 1858 herausgegeben hatten, drehen sich um Gewalt, Sex und Mord und waren ursprünglich auch nicht für Kinder, sondern für Erwachsene gedacht. Die Brüder selbst schrieben einige ihrer Märchen um, machten sie kindgerechter und somit auch erfolgreicher; in einer überarbeiteten Fassung wurde etwa aus Dornröschen „es“ statt „sie“.
Wie gesagt, das ist eine uralte Version. Die Empörung jener, die nun die Verbannung von Dornröschen aus Klassenzimmern fordern, bezieht sich auf zeitgenössische Fassungen, wie sie heute in Märchenbüchern anzutreffen sind, oder auf Disneys Sleeping Beauty von 1959. Auf Versionen, die in den vergangenen Jahrzehnten soweit von jeglicher Erotik und Gewalt entrümpelt wurden, dass man von ihnen sagt, die Grimm Brüder selbst würden ihr Werk kaum mehr wiedererkennen.
Der Auslegung von Pädagogen, dass gewisse Märchen zu grausam sind und nicht Teil der Kindererziehung sein sollten, widersprach der bedeutende Kinderpsychologe Bruno Bettelheim. Laut einem Spiegel-Artikel aus den 70iger Jahren nannte der verstorbene Autor von „Kinder brauchen Märchen“ (1977) diese „eine wichtige Lebenshilfe, um die chaotischen Spannungen ihres Unterbewusstseins zu bewältigen.“ Gemäß Bettelheim, der berühmt wurde durch seine Behandlung von psychisch kranken Kindern, „verführen die Märchenlösungen bei Kindern nicht dazu, sie auch im späteren Leben zu erwarten“. Er hält im Gegenteil die frühen Ausflüge in die Irrationalität für eine Voraussetzung, um zum „Realitätsprinzip“ zu gelangen. Da Märchen oftmals mehrschichtige Botschaften enthalten, eignen sie sich auch, dem Kind eine Gefahr aufzuzeigen, ohne sie ihm konkret erklären zu müssen.
Es ist klar, nicht alle Märchen sind für alle Kinder geeignet. Aber grundsätzlich wissen Kinder, dass Märchen Fantasie sind, das bestätigt auch die professionelle Märchen-Erzählerin Conchi Vega in 20 Minuten: „Sie sind in der Lage, zwischen Märchen und Realität zu unterscheiden.“
Es ist schlicht ermüdend, wenn von feministischen Kreisen heute permanent alles und jedes zum Sexismus erklärt wird, die Heldentat eines Prinzen, der seine Prinzessin rettet, als seine Stärke und ihre Schwäche ausgelegt wird. Das angeblich übermächtige Patriarchat scheint für sie die zeitgenössische Hexe zu sein, das verkörperte Böse, das sich als Ziel genommen hat, die Feen auf dieser Welt zu missbrauchen und auszubeuten und die kleinen Prinzen in lüsterne, unterdrückende Sexmonster zu verwandeln.
Manche Eltern lassen ihre Kinder nicht Mickey Mouse lesen, andere verhängen ein TV-Verbot oder Videospiele sind tabu. Jeder hat seine eigenen Ansichten von Moral – und das ist auch gut so. Wer aber seine Ideologie und persönlichen Ängste über Kulturgüter zu stülpen versucht, indem er deren Umschreibung oder gar Verbannung aus der öffentlichen Erziehung fordert, erklärt seine eigenen Moralvorstellungen zur allgemeinen Gültigkeit. Etwas mehr Gelassenheit ist angebracht.
Die Kurzversion des Beitrags erschien zuerst in der Basler Zeitung.