Tichys Einblick
Persönliche Irritationen

Moral und Ethik: Warum ich auch als Sozialliberaler konservativ bin

Die Sprache macht die wichtige Differenzierung unmittelbar und intuitiv deutlich: Wir sagen Dorfgemeinschaft und Ehegemeinschaft ... und Aktiengesellschaft. Aktiengemeinschaft oder Ehegesellschaft ist dem Sprachsinn zuwider – wir spüren warum.

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Es war eine der vielen Beraterfahrten durch Norddeutschland: Anreise an einem herbstlichen Vorabend. Nebel, leicht beschlagene Seitenfenster, Dunkelheit immer wieder durchbrochen durch die immer zahlreicher erscheinenden Werbeplakate und Leuchtreklamen mittelständischer Betriebe direkt an der Autobahn. Deutsche Industrieromantik bei ausgeschaltetem, wie heißt es, Infotainmentterminal des Wagens. Der Weg führte nach Wolfsburg. Wolfsburg. Ich erinnerte mich an ferne Gespräche und daran, dass mein Vater vor fast 50 Jahren genau hier angekommen sein musste, damals als „Gastarbeiter“ aus Italien. Es galt VWs zusammenzubauen.

Er erzählte, dass er sich vor allem um die Felgen kümmern musste, die – hatte man den Bogen erst einmal raus – sich schnell bearbeiten ließen, was „im Akkord“ den Stundenlohn in die Höhe trieb. Tagsüber bis spät abends gab es nur Felgen, abends zurück ins Wohnheim, Etagenbetten, Pasta aus der Gemeinschaftsküche mit täglich wechselnden Köchen, je nachdem, wessen Schicht bereits beendet war. Oft Streit unter den Arbeitern: Zu viele Männer auf engem Raum. Kurz danach „genug“ und

Umzug nach Hamburg, gleich am nächsten Tag eine Arbeitsstelle: Elektriker waren schließlich gefragt. Freizeit. Kennenlernen meiner Mutter, einer Deutschen. Wohnungssuche? Schwierig, aber: „Ah, wie sich sehe sind Sie Beamtin und Ihr Verlobter … (Stille) … kriegen wir hin.“ Die 1970er Jahre: Keine Zucchini beim Gemüsehändler, Nudeln von „Drei Glocken“, in der Pizzeria sitzen kaum Deutsche, Salami ist „Eselswurst“ und Cappuccino ein kompliziertes Fremdwort. Die deutsche Familie manchmal überfordert … meine Mutter hält zu dem Mann „aus der Sonne“ und freut sich über Urlaube am Meer – trotz unendlich langer Bahnfahrten von Hamburg nach Genua (Passkontrolle bei Chiasso). Heirat (der Vater der Braut verweigert die Anwesenheit …). Ich.

Bei dem Blick in die Wolfsburger Dunkelheit kam mir der Gedanke, wieviel Kraft und Mut es benötigt, dieses Ungewisse als Lebensoption anzunehmen: Nichts war vorgezeichnet, ein Scheitern möglich. Hilfe erwuchs allein aus der Fähigkeit, seine Talente und Arbeitskraft einzubringen. Es ist gelungen. Und plötzlich war ich sehr stolz auf meinen Vater und dieses Land … in diesem Auto, im Nebel, bei ausgeschalteter, wie heißt es, Infotainmentanlage.

Anhand meiner Biografie wird exemplarisch deutlich, was gesellschaftliche Veränderung bedeutet: Die Tatsache, dass der „Wille“ zum persönlichen Wandel nicht nur den einzelnen erfüllen kann, sondern ein Gemeinwesen. Mein Vater kam als Mann, der leisten wollte, gestalten, der seine persönlichen Wünsche erfüllte, es aber immer in den Kontext des Bestehenden rückte und es anbot, ohne auf seine Durchsetzung zu bestehen. Die Umgebung reagiert zunächst kritisch und unsicher und bekam mit, dass der „Italiener“ doch ganz nett war und jeden sofort in die heimische Küche zum Mitessen einlud (zum Verdruss meiner Mutter). Irgendwann kam ein Brief vom Bürgermeister: Man lud ihn ein „Deutscher“ zu werden … wir sprachen nur kurz darüber und dann sagte er: „Weißt Du, ich bin Italiener und werde immer Italiener bleiben …, ich war immer ein stolzer Italiener, aber ich bin ein deutscher Italiener geworden … das ist gut so und dafür benötigte ich keinen Ausweis.“

Kultur wird nicht beschlossen, sie wird

Dieser anekdotische Vorlauf ist wichtig, um zu verstehen, warum diese Erfahrungen hochpolitisch sind: Sie beschreiben einen Sachverhalt, der vielfach in einem „progressiven“ politischen Lager kaum noch vorkommt: das Entwickeln, das Hineinwachsen, das Werden. Analog zum Kommunikationsgewitter und einer ungebremsten Beschleunigung in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen wird nur zu oft postuliert, „Kultur“ sei per Verordnung steuerbar. Oder gar: In einer globalen Welt seien Unterschiede nicht mehr relevant, schließlich „gäbe es viel mehr, was uns verbindet, denn was uns trennt.“ Kultur ist demnach eine Chiffre für all die Dinge, die zwar bestehen, ohne dass sie wirklich Relevanz hätten bzw. vielleicht nur noch zu Weihnachten oder beim Winzerfest aufträten.

In einer soziologischen Perspektive bedeutet Kultur: Alles von Menschen gemachte, örtlich und ganz eigen-artig, für Andere also erst einmal fremd. In diesen Zusammenhängen wächst der einzelne auf, wird zum sozialen Wesen: In der Kultur seiner Familie, seiner Region, seiner Stadt, seines Landes, seines sozialen Milieus. Ein Patchwork aus Bestandteilen, die unser Wesen bedingen. Nicht besser oder schlechter, sondern gesetzt. Der Gründervater der deutschen Soziologie, der Holsteiner Ferdinand Tönnies, ein aufrechter Sozialdemokrat und Ehrenmitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, dem als Greis von den Nazis nach der Machtergreifung seine Pension gestrichen wurde, bezeichnete dieses Lebensumfeld als Gemeinschaft. Gemeinschaft sind die Strukturen die uns unbewusst prägen, die keine Logik kennen und kein „Warum“. Als Gegenpol dazu entwickelte er den Idealtypus der Gesellschaft. Gesellschaften sind geprägt von Zielorientierung, von Zweckmäßigkeit, von rationalen Entscheidungsgrundlagen. Die deutsche Sprache macht diese wichtige Differenzierung unmittelbar und intuitiv deutlich: Wir sprechen von Dorfgemeinschaften und einer Ehegemeinschaft … und von Aktiengesellschaften. Eine Aktiengemeinschaft oder eine Ehegesellschaft ist dem Sprachsinn zuwider – wir spüren warum.

Eingedenk dieses Hintergrundes bekommt die fortlaufende Debatte um „Kultur“ eine andere Dynamik. Das Handeln von Gruppen, egal ob Familie oder Nation, pendelt stets zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Triebkräften. Dabei gibt es Strukturen, die eher gemeinschaftlich geprägt sind (Familie) oder gesellschaftlich (Firma). Zu meinen, dass „gemeinschaftliche“ Faktoren heutzutage keine Rolle mehr spielten, ist ein Trugschluss. Die Vorstellung eines „rationaleren, vernünftigeren“ Menschen durch Erziehung und Bildung (gesellschaftliche Strukturen) trifft immer nur die Oberfläche, die gesellschaftliche Seite, aber nie seinen Kern, sein gemeinschaftlich geprägtes ICH.

Je mehr Globalisierung desto wichtiger der Ort

Die „Globalisierung“, d.h. Homogenisierung unseres Alltags von den üblichen Konsum- und Kulturprodukten (von der Zahncreme bis zur Musik) hat den Wunsch nach Differenzierung und Unterschied nicht verringert. Im Gegenteil: Je mehr Globalisierung, desto wichtiger wird der Ort (wobei der Ort in einem soziologischen Verständnis eine übergreifende und nicht nur eine geografische Kategorie sein muss. Sicherlich ist der geografische Ort aber das prägendste Umfeld) – gerade weil alles immer gleicher wird, zieht sich der Mensch in Bereiche zurück, die nicht kopierbar sind. Wir leben nur einmal und möchten als einmalig erkannt werden.

Warum ist die erste Frage, die wir einem Fremden im Flugzeug stellen immer noch: „Woher kommen Sie?“, weil wir mit Hilfe dieser Aussage Orientierung erhalten, den anderen einschätzen können und möchten – auch weil wir selber „erkannt“ werden wollen … als Deutscher, Bayer oder Hamburger. All das mag gesellschaftspolitisch unerbittlich sein, aber es ist ein sozialer Sachverhalt, der sich nicht qua Gesetz abschaffen lässt. Sitten lassen sich nicht per Parlamentsbeschluss ändern, Gesetze schon. In den letzten 100 Jahren bestanden sechs deutsche Staaten (Gesellschaft), aber immer nur ein Deutschland (Gemeinschaft). Gemeinschaften sind und waren schon immer viel stabiler als Gesellschaften. Dabei hat sich das, was Gemeinschaft ist, durchaus verändert: Die Bedeutung von Religionsgemeinschaften hat sicherlich abgenommen und wurde durch Freunde oder Interessensgruppen ersetzt. Das Bedürfnis bleibt, die Träger ändern sich.

Gemeinschaft und Toleranz

Was bedeutet dies für eine politische Betrachtung in Bezug auf das Themenfeld „Toleranz“. Der marxistische Philosoph Slavoj Zizek stellte bereits 2015 in seinem Buch „Der neue Klassenkampf“ die (durchaus unausgewogene) Gretchenfrage: „Die Flüchtlinge wollen ein Stück vom Kuchen abhaben – sie erwarten im Grunde genommen, die Vorzüge der westlichen Wohlfahrtsstaaten nutzen zu können, ohne ihren eigenen Lebensstil zu ändern, dessen Grundzüge jedoch teilweise nicht mit den ideologischen Grundlagen westlicher Sozialstaaten vereinbar sind. Deutschland betont immer wieder gerne, wie überaus wichtig es sei, die Flüchtlinge kulturell und gesellschaftlich zu integrieren. Dabei stellt sich freilich die Frage – die an einem weiteren Tabu rüttelt – ,wie viele von ihnen tatsächlich integriert werden wollen? Was ist, wenn das Hindernis der Integration gar nicht nur der westliche Rassismus ist.“

Schließlich mündeten die Überlegungen Zizeks in der nachfolgenden Aufforderung: „Ein weiteres Tabu, das es zu verwerfen gilt, ist die Vorstellung, der Schutz der eigenen Lebensweise sei an sich profaschistisch oder rassistisch. […] Jedoch kann den Sorgen der einfachen Leute, die um die Bedrohung der eigenen Lebensweise kreisen, auch von einem linksliberalen Standpunkt aus begegnet werden – Bernie Sanders ist ein lebender Beweis dafür! Die wahre Bedrohung für unsere westliche Lebensweise sind nicht die Immigranten, sondern es ist die Dynamik des globalen Kapitalismus: Allein in den USA haben die jüngsten wirtschaftlichen Veränderungen in kleineren Städten eine größere Zerstörung des Gemeinschaftslebens bewirkt als sämtliche Immigranten zusammen!“

Klar ist: In der Frage von „Toleranz“ und „Bewahrung“ wird ein übergreifender Antagonismus deutlich, nämlich der zwischen Ethik und Moral. Auch hier tut wissenschaftlicher Abstand gut: Im Alltag werden diese beiden Begriffe oftmals gleichgesetzt, obwohl sie etwas vollständig gegenteiliges beschreiben. Moral beschreibt immer den Lebenszusammenhang einer Gemeinschaft, bspw. Die Moral der Truppe. Moralisch ist, was die Gemeinschaft zusammenhält. In der Gemeinschaft wirken Triebkräfte wie Ehre, Stolz und Tradition. Es ist – wieder idealtypisch betrachtet – ein Bündnis mit denen, die man nicht in Frage stellt.

Ethik dagegen ist immer unmoralisch. Der Gestaltsoziologe Alexander Deichsel formulierte einmal: „Ethik ist ein Bündnis mit anderen – sogar 
an sich Fremden. Ethik ist das gedachte Bündnis mit der Menschheit. Nicht die in einer historischen Örtlichkeit, in einem gemeinschaftlichen Umfeld, sondern die Brüderschaft mit allen Gleichen des Menschengeschlechtes drängt zu ethischem Handeln. Nicht nur alle 
Heutigen, auch alle noch nicht Geborenen gehören diesem Bündnis an. 
Mit Blick auf die Zukunft sollten wir dies und jenes heute nicht tun – 
so spricht die Ethik. Moral muss man uns nicht predigen, wir leben sie täglich. Ethik 
bedarf der ständigen Beschwörung. „Wir werden, wir wollen“ so 
spricht die Moral; „Wir müssten, wir sollten“ formuliert die Ethik.“

Ausgestattet mit diesen Begrifflichkeiten wird deutlich, dass die aktuelle politische Debatte die entscheidenden Dimensionen sozialen Wandels verkennt bzw. nicht wahrhaben möchte. Das Leben besteht aus ethischen und moralischen Bestandteilen. In einem Wechselspiel pendeln wir als Menschen, die  im Tagesverlauf unzählige „soziale Kreise“ (nach Georg Simmel) durchlaufen immer zwischen ihnen. Ein moralisches Gemeinwesen ohne Ethik ist fundamentalistisch. Ein ethisches Gemeinwesen ohne Moral vergeht in der Beliebigkeit.

Vielleicht ist in Zeiten in denen alles „gleich gültig“ ist, aber eben doch nicht gleichgültig (nach Ralf Dahrendorf) geistige Demut angebracht. Vielleicht kann es in der heutigen Situation nur noch darum gehen, einen inhaltlichen Mindeststandard festzulegen. Ich versuche ihn für mich folgendermaßen zu formulieren: Jeden in seinem Wesen anzuerkennen, ihn nicht erziehen zu wollen, sondern in seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu fördern und zu unterstützen – unabhängig von seiner Herkunft und Position. Das ist wahrscheinlich sozialliberal aus konservativer Verwurzelung. Mein Herr Vater hatte das seinerzeit prägnanter zusammengefasst: „Weißt Du, ich bin Italiener und werde immer Italiener bleiben …, ich war immer ein stolzer Italiener, aber ich bin ein deutscher Italiener geworden … das ist gut so und dafür benötigte ich keinen Ausweis.“

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