Heute halten viele Menschen die Aufklärung des 18. Jahrhunderts für eine aufregende Epoche der Vernunft. Ein unerwartetes Ereignis, das neue Energien freisetzte und die frühneuzeitliche Welt auf den Kopf stellte – dank mutiger Kritiker, die Macht, Stolz und Vorurteil verurteilten, die urplötzlich anders dachten, sich eine kühne Zukunft vorzustellen wagten und die ihre Mitbürger anhielten, sich für diese Zukunft einzusetzen und sie zu verwirklichen.
Diese Auffassung ist leider eine starke Vereinfachung. In Wahrheit war der intellektuelle Umbruch, der im Nachhinein Aufklärung genannt wurde (bei diesem Ausdruck handelt es sich hauptsächlich um einen Neologismus aus dem 19. Jahrhundert, üblicherweise verbreitet von ihren Gegnern), eine viel chaotischere Angelegenheit. Historiker, Philosophen und politische Denker warnen uns vor einer übermäßig optimistischen und deterministischen Interpretation dieser Ära. Großspurige Lobgesänge der „Aufklärung“ sind aus guten Gründen völlig aus der Mode.
„Die radikalsten Denker der Aufklärung rebellierten gegen das allgemeine Elend. Sie prangerten die pessimistischen Stimmen in den eigenen Reihen lautstark an.“
Die meisten Gelehrten, die sich mit der Aufklärung beschäftigen, bevorzugen es, von mehreren Aufklärungen zu sprechen, da unterschiedliche intellektuelle und literarische Strömungen existierten, die ihren Fokus auf viele verschiedene Themen legten. Zur Anschauung ein paar Beispiele: Theodor Adorno, Max Horkheimer und Michel Foucault vertraten die Auffassung, dass der Vernunftfetisch des 18. Jahrhunderts mit seinem unbedingten Willen zum lückenlosen Wissen, zur Vermessung und Beherrschung der Welt, die Voraussetzung für bürokratische Unvernunft, für Inhaftierung und totalitäre Herrschaft geschaffen habe. Isaiah Berlin erinnerte daran, dass die Gruppe der Aufklärungsgegner („Gegenaufklärung“ genannt) Denker, Dichter, Maler und Schriftsteller umfasste, die sich für Pluralismus einsetzten, die die Rede von der „Natur“ anzweifelten und den blinden Glauben an wissenschaftlichen Fortschritt angriffen, weil sie annahmen, der Lauf der Welt würde nicht durch Naturgesetze, sondern durch historische Kontingenz bestimmt. Dann gibt es noch die einflussreiche Buchreihe von Jonathan Israel, in der er gezeigt hat, dass es innerhalb dessen, was Aufklärung genannt wird, mannigfaltige, miteinander in Konflikt stehende Stränge gab. Ihm zufolge waren jene Denker der Aufklärung, die sich für den Ausbau der Bürgerrechte, für soziale Gerechtigkeit und demokratische Repräsentation einsetzten, lediglich eine Minderheit, eine wichtige, aber schwergeprüfte Fraktion einer viel größeren und selbstwidersprüchlicheren Bewegung.
Rebellion gegen Elend und Tyrannei
Diese Auffassung Israels ist treffend und sollte weiterentwickelt werden, um den bemerkenswertesten Durchbruch der Aufklärung zu verstehen: ihr scharfes Bewusstsein für Unglück, Versagung und Elend, welche die von bevormundenden, nicht-legitimierten, Institutionen zermürbten Menschen erleiden mussten. Die radikalsten Denker der Aufklärung rebellierten gegen das allgemeine Elend. Sie prangerten die pessimistischen Stimmen in den eigenen Reihen lautstark an. Anfangs wurde das alte französische Wort miserie (ursprünglich vom lateinischen miseria stammend, von miser, „minderwertig“, und miserari, „jemanden bemitleiden“) genutzt, um eine neues Verständnis dieses Elends zu entwickeln. Hunger, Erniedrigung und Elend wurden als Schandflecken auf dem Gesicht der Erde verurteilt. Elend wurde nicht mehr als gottgegeben oder als Teil der natürlichen Ordnung betrachtet. Man verstand es als behebbar, ob durch Meinungswandel, starke soziale, juristische oder politischen Reformen oder notfalls sogar durch das Mittel der Revolution.
Thomas Paine war wohl einer der größten Verfechter dieses neuen Elendsbegriffs. Als Autor der drei meistverkauften Bücher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, „Common Sense“ (dt. Gesunder Menschenverstand; 1776), „Rights of Man“ (dt.: Die Rechte des Menschen; 1791) und „The Age of Reason“ (dt.: Das Zeitalter der Vernunft; 1794), gilt Paine immer noch als der größte englische Verteidiger offenen und bescheidenen Regierens. Für seine lebenslange Hingabe an die Sache der universalen Freiheit, für seine beherzte Opposition zur Lüge, seine tief verwurzelte Antipathie gegenüber Monarchie und priesterlicher Tyrannei, schließlich für seine gewagte öffentliche Kritik der Doppelmoral und der Überheblichkeit amerikanischer und französischer Revolutionäre sollte man ihn stets in Erinnerung behalten. Am meisten überzeugte Paines brennendes Verlangen, seinen Gegnern nicht mit Schießpulver oder Schwert oder arroganter Bitterkeit zu begegnen, sondern mit Vernunft und den besseren Argumenten.
„In schnaubendem Stil parodierte Paine die korrumpierenden Effekte politischer Macht, die sich nicht verantworten muss.“
Für seine durchdachte Kühnheit wurde Paine schwer bestraft: Aus seinem heimatlichen England ins Exil getrieben, eine Weile in Paris eingekerkert, nur knapp der Guillotine entronnen, in den Medien von seinen kampfeslustigen Feinden befehdet.Seine Gegner waren eine seltsame Truppe: Toupierte und gepuderte Unterstützer des verrückten Königs George III. sowie die jakobinischen terroristesund bäuerische Evangelikale in Amerika.Sie alle taten ihr Bestes, ihn zu verdammen und ihn aus der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen, indem sie ihn beispielsweise einen „kleinen dreckigen Atheisten“ (Teddy Roosevelt) nannten, oder auf seine miese Grammatik und angebliche Konfabulation hinwiesen (George Chalmers, sein launischer erster Biograph, klagte, dass Paine fälschlicherweise seinem Nachnamen ein „e“ angehängt hätte).
In jedem Fall bestand das Ziel darin, jede Erinnerung an Paine auszulöschen, was auch seine Gebeine umfasste, die tatsächlich verschollen sind. Auch wenn Paine keine letzte Ruhestätte fand, haben dank seiner Freunde und Unterstützer die Erinnerungen an seine politischen Kämpfe überlebt, beginnend mit dem ersten uns bekannten Eindruck seiner literarischen Fähigkeiten, ein einschüchterndes Epitaph für eine Krähe:
Here lies the body of John Crow,
Who once was high but now is low;
Ye brother Crows take warning all,
For as you rise, so must you fall.”
For as you rise, so must you fall“:
Mit diesen Worten, im zarten Alter von nur acht Jahren geschrieben, ließ der Junge aus Norfolk seine lebenslange Verachtung für Wichtigtuerei und Überheblichkeit erkennen. In einer Zeit korrupter Obrigkeiten brachte Paine genug Mut auf, George III. als „king or madjesty“ zu bezeichnen und sogar in einem Brief an den Innenminister zu verlauten: „Ich, Mr. Dundas, bin nicht ihr demütiger und gehorsamer Diener.“ In schnaubendem Stil parodierte Paine die korrumpierenden Effekte politischer Macht, die sich nicht verantworten muss. Er tat alles in seiner Macht Liegende, um bürgerliche Rechte vor Missbrauch durch die Reichen und Mächtigen zu schützen. Er schrieb energisch gegen falsche Kriege, uneingeschränkte Märkte und gierige Banken an. Paine denunzierte alle Formen organisierter Religion als „nichts anderes als menschliche Erfindungen zur Terrorisierung und Versklavung der Menschheit, zur Monopolisierung von Macht und Profit“. Er rief zu Gastfreundlichkeit auf, plädierte dafür, allen Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, mit großherziger Offenheit zu begegnen, so auch in dem bekannten Austausch mit seinem Freund Benjamin Franklin: „Wo Freiheit herrscht, da ist mein Land“, soll Franklin gesagt haben. „Wo Unfreiheit herrscht, da ist mein Land“, witzelte Paine zurück.
Nach Paine hatten Menschen aller Nationen die Pflicht, sich für die Missgeschicke anderer zu interessieren. Paine war gegen Not und Elend, egal wo, egal welcher Form. Seine im 18. Jahrhundert formulierte aufklärerische Vision eines würdigen Lebens für jedermann hat noch immer Relevanz. Seine prinzipielle Ablehnung des politischen Despotismus und der sozialen Ungleichheit ging weiter als etwa die von Karl Marx. Paines praktische Vorschläge schafften es, atemberaubenden Weitblick, bescheidenen Respekt für das einfache Volk und nüchterne Anerkennung der Komplexität menschlicher Angelegenheiten zu kombinieren. Paine stand für eine starke und effektive Regierung ein, aber ebenso dafür, die Reichweite des Staates zu begrenzen und ihn zur Rechenschaft gegenüber den Bürgern zu verpflichten. Er befürwortete die unbeschränkte Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber nicht deren zügellosen Missbrauch. Er bevorzugte Privateigentum und marktwirtschaftlichen Wettbewerb, kämpfte aber für die Idee eines garantierten Grundeinkommens und andere steuerfinanzierte öffentliche Maßnahmen zur Verhinderung der grausamen gesellschaftlichen Spaltung in Reich und Arm.
Armut ist behebbar
„Agrarian Justice“ (erstmals 1795 auf Französisch veröffentlicht; dt. Agrar-Gerechtigkeit) geht näher auf diese Themen ein. Verfasst als Antwort auf eine Predigt des Bischofs von Llandaff, der die Teilung in Arm und Reich als Zeichen für Gottes Weisheit lobpries, nahm diese bemerkenswerte Abhandlung Thomas Paines die Klasse der nouveau riches ins Visier, die damals als herrschendes Element des postjakobinischen Frankreichs entstand.Man bemerke die Parallelen zu heute. Im Gegensatz zur jakobinischen Diktatur, die Austerität propagierte, hatten laut Paine die neuen Thermidorianer ihren Gefallen am Marktwesen und neue private Freiheiten entdeckt. Die bürgerliche Gesellschaft erlebte eine Wiedergeburt, doch die Rückkehr zum Laissez-faire teilte sie in Arm und Reich.Paine hielt die sich vergrößernde Ungleichheit für schändlich und verglich die Teilung in Arm und Reich mit „aneinander geketteten toten und lebenden Körpern“. Im Gegensatz zu den Apologeten der Armut beharrte er auf der Behebbarkeit des Problems. Armut geschieht nicht nach Gottes Willen, behauptete er. Sie ist ein künstlicher, menschengemachter Schandfleck.„Zu behaupten, Gott hätte Arm und Reich erschaffen, ist eine Lüge“, schrieb Paine, „er schuf lediglich Mann und Frau; und er gab ihnen die Erde als Hinterlassenschaft“. Dieses Prinzip, demzufolge die Erde „das gemeinsame Eigentum der menschlichen Gattung“ sei, bedeute, dass die Reichen in der Pflicht stünden, den Armen zu helfen. Nicht nur mittels Almosen, sondern durch Akzeptanz eines staatlich verwalteten Erbsteuersystems zur Verteilung und Nivellierung von Einkommen.
Paines Appell, die Armut zu überwinden, gab keine Auskunft darüber, wie mit widerspenstigen Grundeigentümern, die weder das Recht auf Gemeinschaftseigentum anerkannten, noch ihren Anteil an der Erbschaftssteuer bezahlten, zu verfahren sei. Das Problem, dass sich die Wohlhabenden Umverteilungsrichtlinien widersetzten, musste von späteren Sozialreformern angegangen werden.Stattdessen verfasste Paine einen Plan zur Errichtung eines Nationalfonds, mit dessen Mitteln jedem Mann und jeder Frau bei Erreichen des 21. Lebensjahres einmalig £15 gezahlt würden, und jede Person ab 50 Jahren eine jährliche Bürgerrente von £10 bekäme.Er betonte, dass die Zahlungen auf einem beständigen ethischen Prinzip fußen würden: „Wenn in irgendeinem Land davon die Rede sein könne, dass ‚meine Armen glücklich sind; weder Dummheit noch Not unter ihnen vorherrschen; in meinen Gefängnissen keine Gefangenen und in meinen Straßen keine Bettler anzutreffen sind; es den Alten an nichts mangelt und die Steuern nicht erdrückend sind; die rationale Welt mein Freund ist, weil ich ein Freund ihres Glücks bin.‘ Wenn diese Dinge gesagt werden können, dann soll dieses Land sich seiner Verfassung und seiner Regierung rühmen.“
Welches Land der Welt würde heute diesen Test bestehen?
John Keane ist Politikprofessor an der Universität Sydney und am Wissenschaftszentrum Berlin. 1989 gründete er das Centre for the Study of Democracy (CSD) in London.
Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe Nr. 123 – 1/2017 sowie auf Novo Argumente erschienen.