Irgendetwas musste nicht gestimmt haben mit der Bertelsmann Stiftung. Ganze drei Wochen hat Deutschlands oberste Statistik- und Polit-Gouvernante doch tatsächlich keine „Studie“ unters Volk gebracht. Aber nun darf man beruhigt sein. Bertelsmann ist wieder da, diesmal mit einer „Studie“ zur Ganztagsschule. Getreu ihrem missionarischen Eifer, eine andere Republik herbeischreiben zu wollen, macht die „Stiftung“ erneut auf Bildung, diesmal auf „Ganztagsschule“.
Der Grundtenor der Bertelsmänner und ihres Hofschreibers, des linken Erziehungswissenschaftlers Klaus Klemm, ist einmal mehr: Deutschland fällt zurück, wenn es nicht mehr Ganztagsschulen kriegt. Bereits im Vorwort der „Studie“ mit dem Titel „Gute Ganztagsschule für alle“ heißt es: „Wenn wir unsere Ambition als Bildungsrepublik ernst nehmen und allen Kindern und Jugendlichen ganztägiges Lernen mit Blick auf eine größere Leistungsfähigkeit und Chancengerechtigkeit des Schulsystems ermöglichen wollen, dann braucht es eine neue Offensive für gute Ganztagsschulen in Deutschland.“ Alles für alle – allein darüber ließe sich in Zeiten einer Ersatzreligion des Egalitarismus trefflich streiten. Siehe Ehe für alle, (adoptierte) Kinder für alle, Abitur für alle …
Also geht es wohl doch um Ideologie – um einen Umbau der Gesellschaft und um eine totale Verstaatlichung von Erziehung. Ja, totale (!) Verstaatlichung von Erziehung, denn Bertelsmann will die Ganztagsschule „für alle“. Dumm nur, dass das nicht alle Eltern wollen. Der Bedarf an Ganztagsschule ist schlicht und einfach gesättigt. Es gibt Millionen von Eltern, die keine Ganztagsschule brauchen und wollen. Zwar tauchen immer wieder „Befragungen“ auf, denen zufolge 70 Prozent der Eltern mehr Ganztagsschulen wünschen, aber nur 28 Prozent angaben, ihr Kind mit Sicherheit in eine solche einschulen zu wollen.
Man hätte außerdem spätestens den Pisa-Studien entnehmen können, dass Ganztagsschule nicht mit besserer Schulleistung einhergeht. Schließlich gibt es international Länder, die Ganztagsschulländer sind, mit guten und mit schlechten Pisa-Rangplätzen. Eine Korrelation mit guten Schulleistungen wäre innerdeutsch etwa nur erkennbar, wenn Bayern mit seinem geringen Ganztagsschulanteil bei Pisa weit hinten und Berlin, Brandenburg oder Hamburg bei Pisa weit oben lägen.
Ja, selbst die Aussagen über angebliche Gewinne an sozialem Lernen müssen relativiert werden. Kerstin Rabenstein, Professorin an der Universität Göttingen, beobachtete, dass die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern in Ganztagsschulen anfälliger für Konflikte sind. Frau Rabenstein sagte das anlässlich einer Anhörung im Hessischen Landtag am 24. Juli 2015. Eingeladen war sie übrigens als Expertin der Fraktion „Die Linke“. Wörtlich: „In diesen informalisierten Umgangsweisen gibt es auch die etwas größer werdende Gefahr für Entgleisungen in den Sozialbeziehungen, dass, umgangssprachlich gesprochen, übergriffiges Handeln leichter zunehmen kann.“ Die Odenwaldschule lässt grüßen.
„Schule total“ qua Ganztagsbetreuung schränkt jedenfalls das Spektrum kindlicher Erfahrungen ein. Nur Schule oder gar Schule total – das wäre eine drastische Verarmung der Entwicklungschancen unserer Kinder. Und als Staatsbürger sollte man etwas gegen eine weitere Verstaatlichung, gegen ein weiteres „Outsourcing“ der Erziehung haben. Nein, Deutschland darf kein totaler Erziehungsstaat sein.
Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.