Tichys Einblick
Vom Kopf auf die Beine stellen

Wie ernst meinen wir es mit der Selbstbestimmung?

Macron hat recht: Europa muss neu gedacht werden. Aber nicht so, wie er es sich in französischer Tradition vorstellt, sondern wirklich demokratisch, aufgebaut von der Basis zur Spitze – und nicht umgekehrt.

Safin Hamed/AFP/Getty Images

Als es zum Ende des ersten Waffengangs der europäischen Imperialmächte im 20. Jahrhundert daran ging, den Verlierer Deutschland zu reduzieren, stand die Losung des Selbststimmungsrechts der Völker ganz oben auf der Agenda. In zahlreichen Regionen des Reichs wurden von den Siegermächten Referenden darüber abgehalten, zu welchem Staat die Bürger künftig gehören möchten. In anderen Regionen wie dem Elsass setzten die Siegermächte hingegen einen durchaus fragwürdigen, angeblich historischen Anspruch ohne Volksbefragung durch.

Dennoch und auch wenn manche der Ergebnisse der damaligen Referenden bereits im Vorhinein festzustehen schienen: Der Ansatz des damals in Gründung befindlichen Völkerbundes, die Einzelnen selbst darüber entscheiden zu lassen, wie und in welchem Staat sie künftig leben wollten, ist grundsätzlich richtig. Er ist richtig auch dann, wenn es den bisherigen Herren oder den Nachbarn vielleicht nicht gefallen mag.

Zwei explosive Referenden

Zwei solche Referenden prägen gegenwärtig die internationale Politik. Das eine ist scheinbar weit weg, das andere liegt nicht nur vor unserer Haustür – es geht sozusagen um die Frage, ob in unserer gemeinsamen Wohnung ein Mieter sein eigenes Zimmer bekommen darf – oder weiterhin in der Familienbude leben muss, die ihm nicht mehr gefällt.

Schauen wir zuerst in die Ferne. Dort, im „wilden Kurdistan“, umzingelt von Türken, Persern und Arabern, hat ein Volk, dem bereits vor hundert Jahren die Abstimmung über ihre Zukunft zugesagt worden war, nun die Angelegenheit selbst in die Hand genommen. In „Herema Kurdestane“, der Autonomen Kurdenregion im zerrütteten Irak, wurde die Bevölkerung zur Abstimmung darüber aufgerufen, ob sie künftig in einem unabhängigen Staat leben möchten. An dem Ergebnis gibt es nichts zu rütteln.

Krisenherd Kurdistan

Doch prompt und wie zu erwarten ging unmittelbar das Trommelfeuer los. Die schiitisch-arabisch geprägte Zentralregierung in Bagdad läuft Amok, erklärt das Referendum für ungültig, fordert die umgehende Übergabe der Flughäfen an irakische Sicherheitskräfte. Die nördlich gelegene Türkei lässt die Muskeln spielen und Panzer an der Grenze auffahren. Die Übergänge zum Kurdenstaat sollen geschlossen, die Wirtschaft der Region abgewürgt werden. Die irakische Zentralregierung und die Türkei – sonst eher in einem Zustand ständigen, gegenseitigen Belauerns – planen gemeinsame Militärmanöver gegen die Kurden.

Der von einem reaktionär-schiitischen Klerus in mittelalterlicher Unterdrückung regierte Iran fällt ein in die Drohungen – Demokratie ist ohnehin deren Ding nicht und ein demokratisches Kurdistan könnte ihre eigene Macht auch ohne Separatismus ins Wanken bringen. Doch auch die angeblich so freiheitlichen, auf Selbstbestimmung pochenden Mächte der europäischen Zivilisationen stimmen ein in das Wutgeheul. Selbst der UN-Chef, der doch qua Amt der erste Verfechter autonomer Entscheidungen der Völker sein müsste, stimmt unqualifiziert ein. Warum?

Die Angst der Mächtigen

In den unmittelbaren Anrainerstaaten liegt die Vehemenz der Ablehnung auf der Hand. Die Kurden werden seit Generation im Osmanischen Reich und Nachfolger Türkei, in Persien wie im Kunstprodukt Irak als separatistische Terroristen betrachtet. Ihre Autonomie würde nicht nur im konkreten Fall den ohnehin kaum abwendbaren Zerfall des Irak beschleunigen – die Gefahr, dass die Kurden der Türkei ebenso wie die Kurden des Iran und in Syrien dem Beispiel ihrer irakischen Verwandten folgen wollen, ist offenkundig. Das aber kann weder der türk-islamische Nationalist Erdogan noch der schiitische Klerus des Iran zulassen. Also werden sie mit allen Mitteln versuchen, ein unabhängiges Kurdistan zu verhindern. Dabei gilt – wie immer in der Region – die alte Formel des „Der Feind meines Feindes ist mein Freund!“.

Ankara, Bagdad und Teheran werden eng zusammenrücken. Zumindest so lange, bis ein unabhängiges Kurdistan aus der Welt ist. Und sie werden bereit sein, dieses Volk wie in der Vergangenheit im Zweifel auch mit Bomben daran zu hindern, über sich selbst zu bestimmen.

Nur schnelle Verhandlungen verhindern die Katastrophe

Dabei – betrachtet man die Situation sachgerecht – ist bislang ein unabhängiger Kurdenstaat trotz Referendum noch längst nicht auf dem Weg. Kurdenchef Barsani hat deutlich darauf hingewiesen: Das Referendum soll erst einmal nichts anderes sein als eine Willensbekundung. Der sollen Verhandlungen mit Bagdad folgen darüber, wie die Zukunft gestaltet werden kann. Ein unabhängiges Kurdistan ist deshalb noch längst keine ausgemachte Sache – auch für die Kurden nicht. Lassen sich Wege finden, wie die Selbstbestimmung der Kurden in einer übergeordneten Regelung garantiert werden kann, wird Barsani zu Kompromissen bereit sein. Ob dieses als Teil eines wirklich föderativen Irak oder vielleicht auch nur in einem Staatenbund nach europäischem Muster erfolgen kann – darüber wäre zu verhandeln.

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Doch es ist mehr als fraglich, ob die Iraker dazu bereit sein werden. Als ausgeschlossen gelten kann dieses für die Türkei. Erdogan hat den Weg zu einer föderativen Türkei, in der Türken und Kurden – und andere Minderheiten – gedeihlich miteinander leben können, längst mit einem lauten Knall zugeschlagen. Dabei hätte es insbesondere die Türkei sein können, die von der kurdischen Autonomie hätte profitieren können. Wäre sie den Weg zu einer Einigung mit den eigenen Kurden gegangen; hätten die Kurden gemeinsam mit den Türken einen modus vivendi des Gemeinsamen gefunden – was hätte die irakischen, aber auch die syrischen Kurden daran hindern sollen, sich auf Grundlage einer solchen, föderativen Autonomie ebenfalls einer modernen, demokratischen Türkei anzuschließen? Was hätte vielleicht sogar die Tür dazu aufmachen können, gemeinsam mit den gebeutelten irakischen Arabern ein supranationales Modell zu entwerfen, in dem die Völker des Nahen Osten endlich die Ruhe und den Frieden finden könnten, der sie zu gleichwertigen Partnern in der Welt hätte machen können?
Kleingeist statt Ideen

Doch der Kleingeist, der die Köpfe der Agierenden verseucht, wird nun eine andere Lösung anstreben. Eine Lösung, die keine ist. Sollten Türken und Araber und Perser tatsächlich meinen, sie könnten den Freiheitswillen der Kurden mit Waffengewalt vernichten, werden sie heute mehr denn je auf Menschen treffen, die nicht nur mit allen Mitteln ihre Unabhängigkeit verteidigen werden, sondern die nicht zuletzt in ihrem erfolgreichen Kampf gegen den Islamischen Staat gelernt haben, wie man Feinde niederringt. Die Kurden – und nicht nur die im Irak – sind im Kampfmodus. Sie sind dieses, weil sie gelernt haben, dass sie sich anders nicht behaupten können. Und sie sind nicht länger bereit, sich den Forderungen ihrer Unterdrücker zu unterwerfen – gleich, wie viele Opfer ihnen das abverlangen wird.

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Wird die Türkei nicht umgehend an die Kette gelegt und die Regierung in Bagdad zu einem Weg der Vernunft gezwungen, stehen der Welt Auseinandersetzungen bevor, an deren Ende angesichts der Opfer alle nur noch beschämt zu Boden schauen werden. Beschämend allerdings ist das Verhalten „der Welt“ schon jetzt. Vor allem die USA, die bislang in den Kurden die einzigen, wirklichen Verbündeten in den Konflikten der Region hatten – aber auch die Bundesrepublik, die im Falle eines offen ausgetragenen Konfliktes zwischen Türken und Kurden angesichts von zwei Millionen Türken und einer Million Kurden in Deutschland selbst zum Kampfgebiet werden kann, sollten umgehend ihren Einfluss auf alle Beteiligten geltend machen und die Parteien an den Verhandlungstisch bringen. Sie hätten es schon längst tun müssen – doch noch ist es nicht zu spät. Drohungen, die nun einseitig gegen die Kurden ausgesprochen werden, sind jedoch alles andere als hilfreich. Sie gießen Öl ins Feuer – und werden die immer wieder betrogenen Kurden in eine Bunkermentalität zwingen, die das explosive Fass zum Bersten bringt.

Es ist dringend an der Zeit, Lösungen für die einstmals osmanischen Gebiete, die von den Siegermächten 1920 künstlich ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Begebenheiten neu geschnitten wurden, zu entwickeln. Dazu gehören neben den unmittelbar Betroffenen auch die Türken und die Perser mit an den Tisch – weshalb die Rhetorik des US-Präsidenten Trump gegen die Führung in Teheran alles andere als hilfreich ist. Gelingt es jedoch nicht, die Gegensätze einvernehmlich zu regeln, wird der ewige Krieg zwischen Schwarzem Meer und Persischem Golf einfach nur in die nächste Runde gehen. Und er wird am Ende Opfer fordern können, gegen die sich die Toten in Syrien nur als Fußnote ausnehmen.

Neues Denken auch für Europa

Fast gleiches gilt aber nicht nur im Nahen Osten – auch in Europa selbst ist neues Denken angesagt. Es spielt keine Rolle, ob der Unabhängigkeitsanspruch der Katalanen tatsächlich gerechtfertigt ist oder nicht. Wenn die Katalanen ein Referendum über ihren eigenen Status abhalten wollen, dann kann ihnen das kein spanisches Verfassungsgericht verbieten. Statt nun aber mit den nach Unabhängigkeit strebenden Katalanen gemeinsam nach einem Weg aus dem Dilemma zu suchen, agiert Spaniens Regierungschef wie der Schiit in Bagdad und der Muslimbruder in Ankara. Ob Verhaftung von katalanischen Beamten, die Unterstellung der Polizei unter die Zentralregierung, das Verhindern der Abstimmung um jeden Preis – Rajoy gießt Öl ins Feuer, statt die Wogen zu glätten.

Es gibt viele gute Gründe für die Katalanen, sich von Madrid loszusagen. Und es werden täglich mehr. Es gäbe aber auch viele gute Gründe für die Katalanen, ihr Verhältnis mit der Zentralregierung neu zu verhandeln, ohne einen eigenen Staat zu schaffen.

Verhandlungen unter neutraler Leitung wären auch hier der richtige Weg. Nicht der nun eingeschlagene, der an die gewaltsame Unterdrückung der Völker durch zentralistische Despoten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit erinnert.

Statt über einen Über-Euro nachzudenken oder weit entfernte EU-Visionen zu entwickeln, sollten Junker und Macron lieber in aller Eile nach Barcelona und Madrid eilen, um unter dem Dach der EU Lösungen zu entwickeln, die den Bruch und die daraus folgenden Konsequenzen vermeiden lassen. Denn es kann doch auch daran kein Zweifel herrschen: Unterdrückt Madrid gewaltsam den Willen der Katalanen, dann werden sich dort frustrierte Heißsporne finden, die sich radikalisieren und in den Untergrund gehen. Hat Spanien den ewigen Krieg im Baskenland schon vergessen?

Macron ist gefragt

Vor allem Macron ist es, der nun gefordert ist. Juncker ist verbraucht und zu neuem Denken unfähig. Merkel ist mit sich selbst beschäftigt – und das mit dem neuen Denken ist ihre Sache ohnehin nicht. Also ist es die Aufgabe des Franzosen, den sich anbahnenden, heißen Konflikt südlich der Pyrenäen zu entschärfen. Vor allem anderen sind im Moment hier Visionen gefragt. Denn zerbricht Spanien in Kampf oder Unterdrückung, dann wird die europäische Idee abschließend zur Farce.

Doch wie im Irak blicken die Verantwortlichen nur wie das Kaninchen auf die Schlange. In der Angst, dass das Virus der Unabhängigkeit auch in ihren eigenen, zentralstaatlichen Strukturen wuchern könnte, wird nicht gedacht, sondern abgelehnt.

Unterschätzte alte Volksgruppen
Ignorierte nationale Minderheiten – Krux der EU
Am Ende aber kann der Weg so oder so nur über Verhandlungen führen. Verhandlungen, in denen die Gesellschaftsverträge der Nationen neu gedacht werden müssen. Das Stichwort liegt mit einen Europa der Regionen längst auf dem Tisch. Er bedeutet aber auch, dass Europas Politiker endlich zur Kenntnis nehmen, dass die nationale Identität weder von gestern noch ein Auslaufmodell ist. Und dass Nation vor allem nichts mit Rassismus und „Nazitum“ zu tun hat, sondern schlicht und einfach nur mit der Selbsteinordnung von Menschen in ihre gewachsenen, traditionellen Identitäten.

Der Wunsch der Nationen, den Anspruch auf Selbstbestimmung erfüllt zu sehen; dabei gleichzeitig die Erkenntnis, dass die Zukunft nur in überstaatlichen Verbünden liegen kann, in denen die Nationen – gleich ob Katalanen, Korsen, Schotten und im Zweifel sogar Bayern – oberhalb der Ebene ihrer regionalen Identität gemeinsam an einem Strang ziehen, weil sie andernfalls chancenlos in dieser aus den Fugen geratenden Welt sind – das ist der richtige und der einzige Weg in dieses 21. Jahrhundert. Wer jedoch an den Mustern des zentral organisierten Obrigkeitsstaats hängt, der wird nicht nur die Zukunft nicht finden können – er wird seine Völker auch in das Chaos führen.

Macron hat recht: Europa muss neu gedacht werden. Aber nicht, so, wie er es sich in französischer Tradition vorstellt, sondern wirklich demokratisch, aufgebaut von der Basis zur Spitze – und nicht umgekehrt. Nur dann, wenn die Nationen Europas sich in diesem europäischen Überbau selbstbewusst wiederfinden, werden sie bereit sein, Europäer und nicht nur Katalanen oder Schotten oder Ungarn zu sein. Und dieses, was für Europa gilt, gilt nicht minder für den anderen Krisenherd, in den Europa längst untrennbar verwoben ist – und in dem es derzeit ebenfalls alles falsch macht, was nur falsch zu machen ist.

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