Tichys Einblick
Einschnitt

Und denk´ ich an Deutschland in der Nacht

Besteht ein Zusammenhang zwischen der Qualität der Bundestagsdebatten und der Politikverdrossenheit? Über die Taktik zwischen CSU und CDU.

© Christof Stache/AFP/Getty Images

Es ist etwas ureigen Menschliches: Wir sind immer besser darin, unsere Stärken herauszustellen als uns mit unseren Schwächen auseinanderzusetzen. Bisweilen ist es sogar so, dass wir eher dazu neigen, unsere Stärken zu überschätzen – und unsere Schwächen zu unterschätzen.

Woher kommt unsere unweigerliche Abneigung gegenüber „Schwäche“? Ist es schlecht, wenn man nicht in jedem Bereich „stark“ ist, ist es eine Untugend, sich einzugestehen, dass man etwas nicht oder nicht so gut wie ein anderer kann? Ist es womöglich ein Nachteil, zu seinen eigenen Schwächen, wenn man sich ihnen gewahr ist, offen zu stehen?

Eigentlich nicht, müsste man sagen. Es kann auch eine große Stärke sein, seine Schwächen zu kennen. Denn wenn ich doch meine Schwächen kenne, dann weiß ich, wo ich fehlbar bin, was ich nicht kann – und kann mich dafür umso mehr auf das fokussieren, was ich besonders gut kann. Ganz nach dem Prinzip „Schwächen schwächen und Stärken stärken“.

Wo aber liegt nun das Problem in dieser doch eigentlich sinnigen Überlegung? Es liegt vor allem darin, dass wir, das Deutschland des 21. Jahrhunderts, die industrialisierte und digitalisierte Welt der Schnelllebigkeit, die Weltwirtschaftsgemeinschaft als ubiquitärer Wettbewerb – dass wir uns in einer Zeit befinden, in der die Gesellschaft von einem derartigen Agon, einem Wettstreit geradezu besessen scheint, der es uns gar nicht mehr erlaubt, in auch nur einem einzigen Punkt Schwäche zu zeigen.

Dies lernen bereits die Kinder in der Schule: Sei ehrgeizig, strenge dich an für deinen Erfolg. Das lernen sie auch auf dem Weg ins Berufsleben: Beim Vorstellungsgespräch nur keine Schwächen zeigen, sonst ist sofort ein anderer vor Ort, der besser ist und dann den Job bekommt. Es setzt sich fort im Berufsleben, aber auch im Privaten, denn zu Zeiten von Tinder, Facebook und Co. weiß man, dass die Konkurrenz nie schläft und dass es da draußen sowohl für Singles als auch für (glücklich) Vergebene immer noch jemanden gibt, der als potenzieller Partner in Betracht kommt. Und diese Person ist nicht mehr in so weiter Ferne wie das vor 50 Jahren noch der Fall war, sie ist heute tatsächlich auf eine gewisse Art und Weise erreichbar.

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Dem Menschen ist es aus diesem Grund ein Anliegen, sich so perfekt wie möglich für seine Außenwelt zu präsentieren. Dass eine Vielzahl von Menschen hinsichtlich ihrer Außenwirkung Perfektion anstrebt, sieht man bereits daran, wie viele verschiedenen Filterfunktionen und Bildbearbeitungsprogramme inzwischen zur Verfügung stehen und verwendet werden, um ein Bild und sonstige Inhalte, die man mit seinen „Freunden“ oder Followern teilen möchte, aufzuwerten.

Daneben macht sich ein weiterer Aspekt bemerkbar, nämlich der, dass die Menschen mittlerweile gewissen Idealen hinterherlaufen, die sie bereits aufgrund ihrer Lebensumstände gar nicht erreichen können. Und das führt zwangsläufig dazu, dass sie langfristig unglücklich und frustriert werden. Denn Schwäche zeigen, ist ja wie bereits gesehen, keine Option.

Schwächen haben und Schwächen zeigen, ist also gewissermaßen „unchic“. Es schickt sich einfach nicht, wenn man in einer wetteifernden Gesellschaft Schwächen hat und Schwäche zeigt. Und doch haben wir sie. Alle kollektiv wie wir auf diesem Planeten wandeln. Jeder Mensch hat Schwächen! Aber nicht nur der Einzelne ist mit dem Stärke-Schwäche-Dilemma konfrontiert. Auch in der Politik ist es inzwischen offenbar zu einem No-Go geworden, Schwächen zu haben und Schwächen zu zeigen.

Nach einer Legislatur großer Koalition und einem Kabinett Merkel III haben wir in den vergangenen Monaten einen Zustand beobachten dürfen, der in Fachkreisen „Wahlkampf“ genannt wird, bei dem aber spätestens am Abend des Fernsehduells der Spitzenkandidaten klar wurde, dass es allenfalls ein Sturm im Wasserglas mit gewaltig viel Wattebäuschen und Gummi in der Kriegsführung und Gummi in der Gesprächsführung war.

So recht in den Wahlkampfmodus wollten vor allem die etablierten Bundestagsparteien nie so recht kommen, bis sie in den letzten paar Wochen insbesondere von zwei scheinbar kleinen Lichtern doch noch dazu genötigt worden waren. Von einer Alternative für Deutschland oft mit Provokation und Posse, von energiegeladenen Freien Demokraten mit modernem Auftritt und Pose.

Das doch sehr erschreckende an diesem Wahlkampf: Betrachtet man sich einmal die Kriegskassen von SPD und Union, dann ist das Endprodukt doch ziemlich kümmerlich. „Zeit für mehr Gerechtigkeit“, bei einem Reinvermögen von über 100 Mio. Euro? „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, vom Generalsekretär mit der fabulösen Bezeichnung #fedidwgugl abgekürzt und medial in Szene gesetzt – bei einem Reinvermögen von über 130 Mio. Euro.

Es konnte bisweilen der Eindruck entstehen, die großen Parteien wüssten selbst nicht so recht, wie sie sich für diese Bundestagswahl präsentieren sollten. Aber was war das Problem gewesen?

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In der Union brodelte es seit 2015, genauer seit dem September 2015 als die Kanzlerin kurzer Hand entschied, einer riesigen Zahl von Menschen Zugang nach Deutschland zu gewähren. Diese Entscheidung traf vor allem Bayern als erstes und am härtesten. Was die Entscheidung der Kanzlerin zur Folge hatte, konnte man daran erkennen, dass sich der Ton aus Bayern in der Folge massiv verändert hat und ihr nun ein frostiger Wind namens Seehofer entgegenschlug.

Dennoch hat die Kanzlerin unbeirrt an ihrer Entscheidung festgehalten, war der steten Meinung „Wir schaffen das“ und hat es vermieden, auch nur einen Ansatz von Schwäche erkennen zu lassen. In Zeiten der Unruhe und Instabilität schickt sich das einfach nicht. Auch die kleine Schwester hatte ein großes Interesse daran, im entstandenen Konflikt Stärke zu zeigen, denn für einen mächtigen bayerischen Ministerpräsidenten geziemt es sich in Zeiten der Krise nicht, Schwäche zu zeigen. Die Zuspitzung des Familienkonflikts konnte man am Parteitag der Christsozialen erleben, die Gedanken beider Parteivorsitzenden nur erahnen, als Angela Merkel neben Horst Seehofer vor den Augen mehrerer Tausend Parteimitglieder und Journalisten düpiert wurde. Stärke zeigen kann so aussehen, muss es aber nicht.

Was allerdings dann folgte, war ein unglaubwürdiges Schauspiel der ganz anderen Art, als sich die Unionsspitzen nach dem Jahreswechsel zum großen Versöhnungsgipfel in München zeigten – und zwar mit teils ganz neuer Rollenverteilung. Jedenfalls Seehofer hat an diesem Tag eines verloren: seine Glaubwürdigkeit. War er zuvor noch mit Äußerungen vorgeprescht, die bereits das Ende der Koalition CDU/CSU einläuten konnten, wurden dieser Tage ganz andere Töne angeschlagen und von den einst so harschen Forderungen der CSU war bei der gemeinsamen Pressekonferenz der Parteivorsitzenden nicht mehr viel zu hören.

Lediglich die lautstarke Forderung nach einem eigenen Bayernplan, in dem die CSU ihre von der CDU abweichenden Forderungen bündeln und dann natürlich allesamt in Berlin durchsetzen wollte, war im Nachgang allseits präsent.

Was war aber noch geschehen? Seehofer hatte Schwäche gezeigt. Und das womöglich zum falschen Zeitpunkt. Er hat mit seinem Nachgeben im eigens von ihm angezettelten Unionsstreit ein Signal des Unterlegenseins gesendet, indem er – aus Angst um seine 2018 in Bayern zu verteidigende absolute Mehrheit – zur Geschlossenheit mit der Kanzlerin zurückkehren und den Schulterschluss für die Bundestagswahl suchen wollte.

Warum? Weil die Kanzlerin eine Form von Schwäche zum richtigen Zeitpunkt gezeigt hat, nämlich am Parteitag der CSU. Sie stand neben Seehofer auf der Bühne und hat in Anbetracht der ihr zuteil gewordenen Behandlung dennoch keine Miene verzogen und mit aller Form staatsmännischer Fassung die Veranstaltung verlassen.

Nachträgliche Stellungnahme, nein. Ausfallende Worte nach Bayern, nein. Im Gegenteil hat sie in dieser langanhaltenden Situation, in der die vermeintlich schwache Kanzlerin den kritischen Worten des CSU-Chefs unterlegen schien, eine neue Form der Stärke an den Tag gelegt, als sie klar zum Ausdruck brachte: Ich stehe zu meiner Entscheidung und ich gebe den Forderungen aus Bayern nicht nach, weil das nicht meine Überzeugung ist.

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Stark? In gewisser Weise ja, denn sie blieb in allen Situationen stets die Dame, die Höfliche, die Friedvolle, die Stetige, die Empathische. Er, der Haudegen, der sich an ihr die Zähne ausbeißen sollte, stand nun in einem recht schlechten Licht da. Der Angreifer, der am Ende seine Niederlage eingestehen und auf den Schoss von „Mutti“ zurückkehren musste. Der zähneknirschend seine so sehr herbeigesehnte Obergrenze und Wende in der Flüchtlingsfrage nun in einen Bayernplan als Annex verschieben musste. Es liegt auf der Hand, wer von beiden die bessere Ausgangsposition hatte, seine Partei in den Bundestagswahlkampf zu führen.

Wollte Seehofer diese Schwäche zeigen? Sicherlich nicht, aber er musste. Und siehe da, die Umfragewerte sprachen eine recht deutliche Sprache als die Union kurzer Hand wieder bei der 40%-Marke spielte. Bis nach langem Hin und Her ein Martin Schulz auf die Bildfläche trat und die politische Stimmung allen voran in der SPD, dann in Rest-Deutschland ein wenig umwirbelte.

100% Zustimmung erfuhr dieser Mann bei seiner Kür zum Parteivorsitzenden einer einst stolzen, nun bei 25% sich bewegenden Volkspartei. Viele waren tatsächlich beseelt von dem Gedanken, dieser Schulz könne die ewige Kanzlerin nun endlich ablösen – auch wenn sich nicht jeder nach einer SPD-geführten Regierung sehnte, nach frischem Wind in der Demokratie aber allemal. Und dies stellte Martin Schulz in vielversprechender Weise zunächst in Aussicht. Leider aber eben nur zunächst, denn in der Folge blieben die ebenfalls ersehnten Inhalte aus.

Wo waren die Inhalte? Vielerseits hörte man aus SPD-Kreisen, man habe seine Grundwerte der Sozialdemokratie, die es zu verteidigen und neu zu beleben gelten sollte. Soziale Gerechtigkeit sei das zentrale Thema. Zudem habe man trotz großer Koalition fast alles verwirklichen können, was man 2013 versprochen hatte und sogar überobligatorisch geliefert, was etwa Vorschussgelder für alleinerziehende Eltern betraf. Dennoch entstand alsbald der Eindruck, Martin Schulz wüsste in seiner medialen Omnipräsenz nie so recht, konkret zu werden. Er blieb schwammig, seine Aussagen beinhalteten viel Gummi und waren an den wichtigen Stellen noch sehr ausfüllungsbedürftig.

Da ich bin, bin ich
Ach wie schön ist Jamaika
Diese Lücken wusste zwar Thomas Oppermann gekonnt zu füllen, wenn man ihn denn ließ. Ein Sigmar Gabriel, der in der ganzen Gemengelage eine Rochade der anderen Art präsentierte, hatte sich rechtszeitig aus der Schusslinie genommen und agierte nun auf einem ganz anderen Level, auf dem ihn Wahlkampf weit weniger und seine Reputation gerade im Ausland weit mehr zu interessieren schien. Nun ging es aber gerade um den Mann, der der SPD nach dem Umfragetief neues Leben einhauchen sollte und der brauchte endlich vernünftige Inhalte, mit denen man Wähler zurückgewinnen und ein Land regieren konnte. Doch wo waren nun die Inhalte?

Bei Angela Merkel. Der mächtigsten Frau der Welt, der letzten Verteidigerin der westlichen Werte, der europäischen Staatsfrau, der Person also, mit der Martin Schulz konkurrieren wollte.

Das ist aber nicht einfach, wenn man gegen eine Kanzlerin antritt, die es nicht nur auf dem internationalen Parkett wie kaum ein anderer versteht, sich zu behaupten; die sich in einer Männer-Domaine mitunter als weit männlicher erwiesen hat; die es wie keine andere versteht, nationale politische Mächte zu bündeln und strategisch zielsicher ihre Gegner auszuboten, indem sie ihnen die Themen aus der Hand schlägt und einfach zur Chefsache macht.

Atompolitik, Ehe für alle, soziale Gerechtigkeit, Flüchtlingswelle – Angela Merkel war die bessere Katrin Göring-Eckardt, sie war der bessere Sigmar Gabriel, sie war nicht mehr nur CDU – sie war eben die Mutti der Deutschen. Sie schaffte es, einen Politikstil im noch verdutzten Berlin zu etablieren, der es nahezu jedem unmöglich machte, klar zu definieren, wofür diese Frau eigentlich steht und wofür nicht.

Am Ende des Tages war jedenfalls eines klar: Merkel würde die Agendasetterin sein. In schwierigen Zeiten würde sie sich nicht scheuen, das Zepter in die Hand zu nehmen (notfalls auch vorbei am Bundestag, der doch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die für die Demokratie und die Grundrechte der Bürger wesentlichen Fragen selbst zu entscheiden hat). In wichtigen Zukunftsfragen sollte man lieber keine Experimente machen und einer Mutti vertrauen, die man kennt.
Das war es mit Inhalten für die anderen. Merkel war und ist nicht nur Christdemokratin, sie kann auch grün und sozialdemokratisch. Sie ist zum Inbegriff von Stärke mutiert, da ihr höchstes Ziel nicht nur dasjenige ist, ihre Politik durchzusetzen, sondern auch diejenige Kraft zu sein, gegen die nicht regiert werden kann.

Neue Inhalte hat aber trotz dieser scheinbar von Merkel aufgesogenen politischen Debatte einer gefunden, der es nicht nur verstanden hat, aus einem Rückschlag zu lernen. Sondern einer, der durch solide Diskussion und Auseinandersetzung auch mit einem wabernden rechten Rand den Weg zurück auf das politische Parkett gefunden hat: Christian Lindner. Ein eifriger, zielstrebiger und engagierter Politiker, der etwas hatte, mit dem er in der so müde gewordenen politischen Klasse auftrumpfen konnte. Der etwas mitbrachte, was all die etablierten Parteien nicht bieten können: junge Dynamik und frischen Wind. Diese beiden Attribute verknüpfte Lindner mit einer Mischung aus intelligenten Inhalten, einem starken medialen Konzept und einer unheimlich kompetenten Gesprächsführung. Erklärungsnot bei Lindner? In keiner Situation. Schlagfertig, direkt, angriffslustig. Einer der nicht viel zu verlieren, sondern eigentlich nur zu gewinnen hatte. Denn schlimmer als 2013 ging es ohnehin nicht.

Leider war es aber auch für ihn schwierig, sich als „One Man-Show“ gegenüber einer neuen Kraft zu behaupten. Einer neuen Rechten, die für sich in Anspruch nahm, die Repräsentanz der vom Establishment Frustrierten und von der Politik Merkels und Seehofers sowie eigentlich der Politik insgesamt Enttäuschten zu übernehmen. Rechts von der CSU war entgegen der vielgepriesenen Forderung eines Franz Josef Strauß doch eine Partei entstanden, die es zu verstehen schien, die Ängste der Leute wahrzunehmen und all den Vergessenen nunmehr eine Stimme zu verleihen.

Kampfbegriff schadet der politischen Kultur
Abschied vom Populismus
Das klingt zunächst schön und danach, neuen Wind in eine Demokratie zu bringen, deren Ziel es doch sein sollte, dass alle in ihr vertretenen Kräfte auch eine Abbildung im zentralen Vertretungsorgan der Bürger finden. Es wurde aber zunehmend hässlicher als man merkte, dass es dieser Partei namens AfD nicht zuvörderst darum ging, ehrliche Politik für ehrliche Bürger zu machen. Vornehmlich machte man Schlagzeilen mit parteiinternen Intrigen, Machtkämpfen um die Parteispitze, Auseinanderbrechen in stark gespaltene Flügel und fragwürdige Äußerungen bis hin zu schmutzigen und verachtenswerten Parolen.

Eine neue Stärke? Nein! Doch was tun mit einer Bewegung solchen Ausmaßes, einem Sammelbecken von Leuten, die offenbar von einem Gedankengut nicht abgeschreckt wurde, das unsere Demokratie beschädigen, die gesellschaftliche Atmosphäre vergiften und zu einer Spaltung im Land führen konnte?

Keiner war sich recht sicher, wie ein solcher Umgang aussehen sollte – also probierte man sich verschiedentlich mit seinen für gut befundenen Methoden. Die Kanzlerin in der ihr eigentümlichen Manier bevorzugte das Beobachten, das Abwarten und die vornehme Ignoranz. Andere hingegen wollten die Partei als eine Chimäre des Fremdenhasses, der Intoleranz, des Nationalsozialismus und Rechtspopulismus entlarven, die die Bezeichnung als Partei eigentlich nicht verdiene.

Verbot von Verbrennungsmotoren
Angela „Grüne“ Merkel
Wieder andere wollten das Übel nicht nur an der Wurzel packen, sondern gleich die Symptome mit beseitigen und richteten sich direkt an die immer zahlreicher werdenden Unterstützer, indem sie sie in die rechte Ecke stellten. Es gab indes auch solche, die versuchten, gewisse Aspekte des Protestes aufzugreifen und selbst in einem gediegeneren Maß zu vertreten. Das dominierende Thema dieser Partei war seit der Debatte um den Euro die Flüchtlingsproblematik. Also ein recht kleines Fragment müsste man meinen. Doch dieser eigentlich einzige Inhalt, wenn man ihn in diesem Zusammenhang so nennen möchte, wurde zum alles dominierenden Überthema stigmatisiert. Man konnte kaum mehr einen Ort aufsuchen, an dem nicht über Flüchtlinge diskutiert wurde. Und das nicht nur von ohnehin politisch Interessierten; auch zum Teil völlig apolitische Bürger mischten sich nunmehr in die Debatte ein, hatten etwas zu sagen und beizutragen.

Kurzum: So schlimm die Thematik auch war, so belebend war sie für die Gesprächsführung in der Demokratie der Bundesrepublik. Weil das Thema die Deutschen an einem entscheidenden Punkt packte – sie wurden emotional berührt! Sie waren auf einmal nicht mehr nur Betrachter, die den Großkopfaten der Politik bei ihrem machtpolitischen Treiben im entfernten Berlin, Brüssel und sonst so auf der Welt zuschauten. Jeder fühlte sich auf einmal selbst betroffen und hatte dann auch eine eigene Meinung, die er mit jedem diskutieren wollte.

Was aber lief bis heute schief? Warum hat es nun eine Partei in unser Parlament geschafft, die nicht vielmehr zu bieten zu haben scheint, als ein paar provozierende Sprüche? Ein Parteiprogramm hat man sich zwar objektiv gegeben, ist aber scheinbar nicht in der Lage, dieses solide nach außen zu kommunizieren, geschweige denn vernünftige Positionen in die Debatte einzubringen, mit denen man die Programmpunkte auch tatsächlich zur Umsetzung bringen könnte. Dennoch findet man bei dieser Partei im Kollektiv ein äußerst starkes Auftreten, die Vertreter der AfD verkörpern eine ihrer Sache scheinbar innewohnende Überlegenheit. Man hat sich die Deutungshoheit über das Flüchtlingsproblem attestiert ebenso wie die Kompetenz, als einzige Partei in Deutschland in der Lage zu sein, die Sorgen der Leute tatsächlich im gebührenden Maße zu artikulieren. Die AfD hat sich zudem bescheinigt, die einzige Partei zu sein, die die Ära Merkel beenden kann, zumindest aber sie für die ewige Kanzlerin um ein Vielfaches ungemütlicher machen und damit endlich zu einem von vielen lang ersehnten Machtwechsel beitragen kann.

Was also war der Fehler im Umgang mit dieser Partei und wo haben die demokratischen Kräfte scheinbar versagt, damit es zu einem derartigen Erstarken einer Partei kommen konnte, die der Zukunft unseres Landes doch scheinbar kaum das zu bieten hat, was die etablierten Parteien ihren Wählern seit Jahren als bekannt und bewährt servieren?

Ein großer Fehler liegt hier bei den Medien, beim Journalismus und bei den Vertretern der Politik. Das ist ein ganz klares Statement, das auch ohne Wenn und Aber beim Namen genannt werden muss. Denn wie gezeigt, ist es auch eine Tugend, zur rechten Zeit Schwäche zu zeigen. Und die Schwäche, die hier zu Tage tritt, ist die Ratlosigkeit einer Gesellschaft, mit einer mehr oder weniger großen öffentlichen Meinung sachlich umzugehen und miteinander zu sprechen, Lösungen zu erarbeiten und diese auch einer vernünftigen und praktikablen Verwirklichung zuzuführen.

Natürlich ist es demgegenüber wesentlich leichter, jemanden aus einem großen Kollektiv heraus als Rechtspopulisten zu bezeichnen und eine aufkeimende Diskussion sofort im Ansatz zu beenden. Aber daran zeigt sich auch die neue politische Bequemlichkeit, die wir nach vier Jahren GroKo, zwölf Jahren Merkel und festgefahrenem Parteienestablishment seit der Wiedervereinigung in unserem Land erleben. Wir sind zu bequem geworden, uns mit unbequemen Dingen ehrlich auseinanderzusetzen. Wir sind zufrieden, wenn wir nicht oder nicht viel diskutieren müssen.

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Und wir sind inzwischen sehr gut darin geworden, uns über alles und jeden zu empören, ohne aber in der Lage zu sein, eine eigene Position dem entgegenzustellen und auf sachliche Art vorzutragen. Wenn also eine AfD fortan die Bundeskanzlerin und das Parteien-Establishment „jagen“ will, ist das Kollektiv einmal mehr empört und fühlt sich einmal mehr bestätigt darin, dass dieser Zusammenschluss, der sich Partei nennt, eine Schande für unsere Demokratie ist.
Wenn ich mich aber in einer Zeit bewege, in der die wichtigen Dinge diejenigen sind, wie viele Follower ich für mich und meine Sache habe, dann werden aus diesen Followern womöglich auch bald Verfolger und der Verfolgte irgendwann zum Gejagten. Das ist kein rechtspopulistischer Fachjargon, sondern einfach nur feine und fortgeführte Etymologie, die von findigen Rednern bewusst an den Rand der Grenzwertigkeit getrieben wird.

Vielleicht auch, damit die maulfaule Gesellschaft endlich wieder einmal einen Anreiz findet, sich selbst zu artikulieren, die eigene Meinung kundzutun und am demokratischen Diskurs zumindest auf irgendeine Art wieder teilzunehmen?! Vergleicht man die Debatten im Bundestag heute mit denen aus den Anfängen der Bundesrepublik, kann man nicht nur deutliche Unterschiede in der Debattenführung feststellen, sondern vor allem die Tatsache, dass überhaupt eine Debatte im Bundestag und vor den Augen der Bevölkerung geführt wurde.

Heute scheint sich die Riege der Politiker in Berlin zu fein oder zu schade für solche Debatten zu sein, die doch nicht nur dem Austausch politischer Argumente der unterschiedlichen Parteien dienen sollen, sondern vornehmlich auch zur Meinungsbildung in der Gesellschaft beitragen müssen. Wurde über die großen Fragen der Flüchtlingsproblematik, die Schuldenkrise Griechenlands, den Ausstieg aus der Atomenergie, die Vorkommnisse zur Krim-Annexion und die nachfolgende Russlandpolitik und vieles mehr ausreichend in unserem Bundestag diskutiert?
Man muss sich nur einmal die Besetzung des Parlamentes ansehen, die je nach Thema und Tageszeit auffallend stagniert. Einen vollen Bundestag erlebt man eigentlich selten. Setzt man nun einmal die Qualität der Debattenführung im Bundestag mit der immer zunehmenden Politikverdrossenheit in unserem Land ins Verhältnis, ist man mehr als nur geneigt, daraus gewisse Erkenntnisse ziehen zu können.

Betrachtet man zudem die mediale Berichterstattung, fällt die Kritik nicht großartig anders aus. Die Begleitung des Wahlkampfes gerade durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten war gelinde gesagt ein Witz. Wie kann es sein, dass ein jeder Rundfunkbeiträge bezahlt und dann mit Formaten zur Bundestagswahl zufrieden sein soll, bei denen nicht einmal ansatzweise genügend Zeit bleibt, alle Inhalte der verschiedenen Bewerber ausreichend zu beleuchten? Und selbst in der kurzen verbleibenden Zeit wurde eine Moderation an den Tag gelegt, die bei Weitem nicht das geleistet hat, was fundierter Journalismus eigentlich leisten sollte. Nämlich einen Beitrag zur Meinungsbildung in alle Richtungen und nicht in eine schon von Anfang an vorgegebene Richtung.

Wir, die deutsche Gesellschaft, aber auch die Politik, das sogenannte Establishment, wir haben am gestrigen Abend eine Antwort auf die Verhältnisse der vergangenen Jahre erhalten. Die vornehmste Aufgabe insbesondere von Politik, Medien, Wirtschaft und Interessenvertretern ist es nun, einmal mehr aus dem Stärke-Schwäche-Modell auszubrechen und die gestrigen Ergebnisse ehrlich und selbstreflektiert zu analysieren, dann aber auch zu den so gewonnenen Ergebnissen zu stehen und unausweichliche Konsequenzen zu ziehen. Sowohl personell, als auch strukturell und inhaltlich.

Es muss eines klar sein, gerade für die alten Eliten, die sogenannten Partei-Granden: Ohne Nachwuchs und ohne junges dynamisches Talent wird unser Land nicht in eine erfolgreiche Zukunft geführt werden können. Es wird nicht die Seniorität sein, die in den nächsten Jahren gestalten wird, sondern eine neue junge Elite, die nicht nur in Deutschland in den Starlöchern steht. Man braucht nur einen Blick nach Frankreich, Österreich oder etwa auch nach Kanada zu werfen, damit man alsbald feststellt, dass die Politik jünger werden wird und notfalls auch gegen den Willen der Amtierenden einer drastischen Verjüngungskur unterzogen wird.

Die großen Erfolge der FDP, aber insbesondere auch der Grünen, kommen nicht von ungefähr. Hier finden sich viele Wählerstimmen gerade der jüngeren Gruppen, der Studenten und Auszubildenden, die sich gerade im Wahlkampf bei Themen wie Bildung, Digitalisierung und Wirtschaft 4.0 von den großen Parteien nicht mehr repräsentiert fühlten und daher den kleineren und eben auch jüngeren Kräften ihre Stimme gaben, damit diese ihre Themen nunmehr artikulieren. Daher plädiere ich schon seit längerer Zeit entschieden für mehr Kooperation zwischen den Erfahrungsträgern des politischen Geschäfts und den Entscheidern von morgen. Es muss eines der großen Anliegen der Alteingesessenen sein, seine Kernkompetenzen an den Nachwuchs zu vermitteln, gutes junges Personal politikfähig zu machen, zu gegebener Zeit einen geordneten Machtwechsel herbeiführen zu können und zu wissen, wann es für einen solchen an der Zeit ist.

Was aber auch seit gestern klar sein muss: Die Deutschen fühlen sich von den Volksparteien nicht mehr ausreichend repräsentiert. Es reicht daher nicht aus, sich in einer Talk-Show damit profilieren zu wollen, was man doch alles getan hat. Es bedarf auch des Eingeständnisses gerade von Union und SPD, dass man bei vielen entscheidenden Punkten nicht in der Lage war, das Volk ausreichend anzusprechen.

Unsere Demokratie hat gestern ein neues Kapitel aufgeschlagen. Dieses gilt es jetzt zu schreiben und auf eine Art und Weise zu gestalten, die der Demokratie, wie sie aktuell ist, nicht das Ausruhen auf dem Status Quo gestattet. Es zeugt nicht von Stärke, immer nur das bleiben zu wollen, was man ist. Stärke liegt gerade in Zeiten wie diesen auch darin, seine Schwächen effektiv auszuloten, mit ihnen zu kalkulieren, sie durch Stärken zu kompensieren und eine Entwicklung einzuschlagen, die nicht nur gesund, sondern auch stabil und tragfähig für die Zukunft ist.

Stabilität und Tragfähigkeit resultieren dabei aber gerade nicht aus einem Zustand des statisch Unveränderten und des immer gleich Bleibenden. Sondern aus einer maßvollen Dynamik, aus neuen Impulsen, aus einer Kombination von Erfahrung und Innovation, aus einem Zusammenwirken von Jung und Alt und aus einer offenen Gesellschaft, die vereint ihren Weg in die Zukunft beschreiten will.

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