Der Spiegel schon am Dienstag mit Hausnummer 39a, kein Hinterhaus, sondern eine verfrühte Ausgabe mit umfangreicher Wahlnachlese. Das Titelbild in Zentralperspektive und eingefärbt als blaue Stunde: Alice Weidel und Alexander Gauland schweben über einer zerknirschten Angela Merkel. Und weil immer mehr Ex-TAZ-Mitarbeiter beim Spiegel arbeiten, sind auch die Headlines gerne mal TAZig: „Sie sind da“ in Anlehnung an – na klar – die Hitlerparodie „Er ist wieder da“. Die AfD-Spitzenkandidaten als Renaissance-Nazis. Untertitel: „Nach der Wahl: Die AfD überrollt die Volksparteien.“ Panzer gegen Pflugscharen also. Na ja, nun ist nicht alles Stahl was glänzt, aber blättern wir mal rein, hinweg über die Norwegische-Erdgas-Werbung von Statoil und eine „klimaeffiziente und kostenwirksame Antwort auf Deutschlands Energiefragen“.
Gleich im Leitartikel hält Klaus Brinkbäumer die Kanzlerin für eine Heuchlerin, „miserabler wurde in der Politik selten geheuchelt“ und Alexander Gauland würde sich anmaßen, Besitzer des Volkes zu sein, wenn er sich unser Land und unser Volk zurückholen will. Fazit des gerade 50 Jahre alt gewordenen Chefredakteurs: „(E)infach wird das nicht, aber nicht weniger braucht die deutsche Demokratie.“
Nach dem Leitartikel die Meinung. Jakob Augstein hat eine. Und weil er nie bei der TAZ war, sagt er es direkter: „Nazis drin“. Weil er es wohl selbst kaum glauben mag, widerholt er es Mantra-artig: „Nazis. Drittstärkste Kraft. Im Bundestag.“ Upps. „Upps“ steht da nicht, könnte aber. Denn Augsteins „Upps“ ist Gaulands „Heil“. Der hätte doch die Leistung der deutschen Soldaten bestolzt. Augstein zitiert Sigmar Gabriel, dessen Vater Nazi war. Augsteins Ziehvater war Soldat. Erst verteidigte er gezwungenermaßen das Vaterland, dann aus Überzeugung die Pressefreiheit. Was verteidigt Sohn Jakob eigentlich? Im Moment das Recht, AfD-Politiker als Nazis zu bezeichnen, schreibt er alarmistisch. Unter seinem Meinungsartikel die Nacht der langen Messer: eine Werbung für ein quietschbuntes „King-Messerset in Magnetbox mit antibakterieller Ausstattung“ für Spiegel-Neuleser. Wer es braucht.
Die Titelstory erzählt die Stunden vor der Bekanntgabe des Wahlergebnisses mit Blick auf Angela Merkel. Die Kanzlerin sei schuld an der AfD, weil sie die CDU in zwölf Jahren immer weiter nach links gerückt hätte, bis sich „rechts von der Union eine neue Partei etablieren“ konnte. Im Prinzip eine Nacherzählung von elf Autoren über ein dutzend Seiten, offensichtlich für die, die am Wahlabend und am Tag danach noch nicht ausreichend TV geschaut haben: „Der kleinste gemeinsame Nenner der AfD-Wähler ist der Ärger über Merkel.“, klingt wie hundert Mal gehört.
Fazit der Spiegelautoren: „Es war richtig, dass sich die SPD entschieden hat, in die Opposition zu gehen. Nur dort kann sie einen Gegenpol zur Union bilden, die zu einem Rechtsruck gezwungen wird, auch wenn sie mit den Grünen regieren sollte. Das ist auch gut so.“ Kita-Plätze, Frauenförderung, auch die faktische Abschaffung der Wehrpflicht – all das wären keine Opfer, die man dem Zeitgeist bringen musste, sondern schlicht und einfach notwendige Reformen gewesen. Die Kanzlerin wird es freuen.
Beeindruckend die einseitige Fotografie von Martin Schulz. Spiegel 39a will sagen: So sehen Verlierer aus. Selten sah der Ex-Bürgermeister von Wesel – quatsch: Würselen! – so authentisch aus.
Es folgen Momentaufnahmen aus der Republik: „Deutsche Erde, Vaterland“. Sogar Götz Kubitschek darf sich äußern: „Ich bin skeptisch. Aber hoffnungsvoll. Jetzt beginnt das Spiel.“ Gab es bei Kubitscheks wahrscheinlich den unvermeidbaren selbstgemachten Ziegenkäse, begrüßt Rentnerin Bärbel die Redakteure mit einem „Futschi“, ein Wahlschnäpschen und stellt ihre Handtasche neben die Deutschlandfahne. Über ihr hängt ein Kneipenspruch, bemerkt von den Redakteuren: „Ich denke, also bin ich hier falsch.“ Dankbar nehmen die Spiegelleute das auf und gehen dann weiter zum Afghanen, dessen Frau weiß, was Nazis sind. Wie Augstein? Nö, nur „schon mal gehört“, den Begriff.
Ein Deutschtürke sitzt in einem Wettbüro, möchte aber mit Fremden nicht über Politik reden. Aber über Galatasaray möchte er reden, die Spiegelleute aber nicht, die gehen nun weiter zu Christian Lindner. Der hätte die FDP genau studiert und der wusste, „dass die Partei durch Größenwahn klein wurde“. Schön, dass er nun das Gegenteil bewiesen hat mit dem charmantesten Größenwahn, den man sich vorstellen kann. Aber das schreiben andere. Dafür wird gekifft und Lindner warnt vor der Polizei. Steht da so.
Die Linkspartei ist für den Spiegel eine der Verliererinnen des Abends. Na klar, Oppositionsführung verloren. Das ist nicht neu, dafür schaut man bei Gysi vorbei, aber der sonst so redselige ist für den Moment sprachlos. Schade.
Paulus Biermanns letzte Worte zum Spiegel über Merkel: Sie sei „die kluge evangelische Physikerin aus der DDR.“ Aber die Provokation kommt nicht an. Der Spiegel bedankt sich artig und weitere Promis dürfen sich äußern, von Gottschalk (weiterblättern) bis Martin Walser (zum Familientreffen). Er hätte Merkel und Lindner gewählt. Ähm, beide? Also Erststimme und Zweitstimme? Wie das? Verwirrend, aber auch egal.
Vorgestellt werden jetzt noch die Neulinge im Parlament. Hier interessieren natürlich besonders die AfD-Novizen, aber die würden nicht gerne mit dem Spiegel reden, bedauert dieser. Kubitschek ist da ein paar Seiten zuvor deutlich empfänglicher. Viele Fotos, viel Personality. Vielleicht hätte man sich mit dem Klebebildermarktführer Panini zusammentun sollen, die Fotos weglassen und stattdessen gestrichelt, nummerierten Weißraum – aufzufüllen mit Bildchen aus Sammeltütchen. Aber jetzt bloß keine Geschäftsideen, die Schwundgazette braucht gerade jeden Cent und machen’s am Ende wirklich.
Der geschäftstüchtige Jean-Remy von Matt hat die Werbung für die CDU verantwortet. Er trifft am Wahlabend erst spät im Adenauerhaus ein, beobachtet der Spiegel. Dort trank er ein alkoholfreies Radeberger, dann verschwand er wieder in der Menge. Froh sei Matt gewesen, dass er eine private Party abgesagt hätte, die er ausrichten wollte: Eine Ü-40 mit „ausschließlich Drinks mit mindestens 40 Prozent Alkohol geben“. Nun muss es wohl 32 % Magenbitter sein.
Und weil Zuwanderung doch so ein überstrapaziertes Thema ist, das Wahlkämpfe total versaut, widmet sich der Spiegel der so sträflich vernachlässigten Digitalisierung, ohne freilich viel Neues zu erzählen. Da stehen tatsächlich Sätze wie dieser hier: „Die Digitalisierung durchdringt alle Sphären der Arbeitswelt. Erst hat sie das Geschäft von Buchhandlungen, Reisebüros, Banken und Medien revolutioniert.“ Wow!
Wir neigen uns dem Ende zu. Frauenrechte, dann noch Brexit and May, Beppo Grillo und seine Basisdemokratie in Italien – für den Spiegel Grund genug, seinen Lesern einen Besuch in Parma zu empfehlen, wegen des Schinkens und der leckeren Saubohnen.
Der Spiegel startet also mit Alexander Gauland auf dem Titel über Jakob Augstein, der Nazis im Bundestag sieht, aber offensichtlich nur Maulheld ist, sonst würde er die Justiz einschalten und endet mit Kurt Schrimm, der gerade bei Heyne seine Memoiren veröffentlicht hat, der viele Jahre seines Lebens damit verbracht hat, deutsche Nazitäter ausfindig zu machen, zu jagen und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Zu oft kam er leider zu spät.