„Wo wir schon dabei sind, es gibt rassistische und sexistische und homophobische Momente in Filmklassikern, die nicht mehr Klassiker sein sollten.“ Dieser Tweet des prominenten US-Filmproduzenten John Levenstein („Silicon Valley“) im Zuge der Debatte um die Konföderierten-Denkmäler in den USA schlug neulich hohe Wellen. Als wenig später Kinobetreiber im US-Bundesstaat Tennessee eine Vorführung des Kultstreifens „Vom Winde verweht“ absagten, war für viele klar: Erst die Statuen herunterreissen, dann die Filme zensurieren. Filmklassiker stellen heute einen weiteren Zankapfel dar im Ringen um die Political Correctness.
Die Kontroverse schwelt schon länger. Angefacht wurde sie von linksliberalen Kreisen in den USA, die fordern: Filmklassiker mit „rassistisch gefärbtem Inhalt“ sollten nicht länger als Klassiker eingestuft und am besten ganz aus den Kinosälen verbannt werden. Vermehrt melden sich namhafte Exponenten zu Wort, wie eben Levenstein, der meinte, gewisse Filme würde er sich nicht einmal mehr ansehen, aus Angst, sie heute schlecht zu finden.
Wie soll man eine solche Aussage einordnen? Versuchen wir es mal so: Die moralische Höherstellung heutiger Standards offenbart eine Arroganz gegenüber früheren Gesellschaften. Und ein Unvermögen, Geschichte so akzeptieren, wie sie sich eben ereignete. Während man bei den Statuen immerhin diskutieren kann, ob sich angesichts der gesellschaftlichen Spannungen ihre Verlagerung von öffentlichen Plätzen Museen nicht als bessere Lösung erweist, ist es beim Genre Film eher eindeutig: Meisterwerke, die vor 50, 80 oder 100 Jahren produziert wurden, heute zu degradieren und von Listen oder Lichtspielhäusern zu entfernen, weil deren Inhalt problematisch ist und Gefühle verletzen könnte, ist naiv und falsch. Und: Es ist eine Art der Zensur. Denn sie wissen nicht, was sie tun.
Nehmen wir drei Werke, die, gemessen an heutigen Standards, besonders stark in der Kritik stehen.
Prominentestes Beispiel ist das Südstaaten-Epos „Vom Winde verweht“ (1939). Der Film spielt während des amerikanischen Sezessionskrieges und endet mit dem Untergang der Konföderierten. Er ergründet die romantischen Verstrickungen der Scarlett O’Hara mit Rhett Butler und ihrem Jugendfreund Ashley Wilkes und ist eine der wuchtigsten Darbietungen von den Facetten der Liebe, die je verfilmt wurden.
Manche sehen es anders: Ein Artikel von Spiegel Online von 2014 beschreibt die „Schwulstoper“ (SPON) als eines der rassistischsten Machwerke Hollywoods: „Amerikas Rassismus lebt weiter fort – und wer wissen will, wie das passieren kann, der muss sich nur ‚Vom Winde verweht‘ antun, jene Ode an die gute alte Sklavenzeit.“ Gemäss der britischen Zeitung The Independent sagte das Kultkino Orpheum in Memphis, Tennessee, jüngst ein Screening des Klassikers ab: „Das Orpheum kann keinen Film zeigen, der gegenüber einem grossen Teil seiner lokalen Bevölkerung unsensibel ist“, so die Betreiber. Denn sie wissen nicht, was sie tun.
Ja, die Botschaft des Films ist rassistisch gefärbt. Und ja, er glorifiziert die Sklaverei. Er bildet ein Stück Geschichte ab, die entmenschlichend war, abscheulich, derer wir uns heute zu recht schämen. Auslöschen können wir sie nicht. Der Film ist dennoch in seinem Plot, der Umsetzung und der technischen Machart von historischer Bedeutung, wird von Millionen Menschen verehrt und – auch nach der dreissigsten Wiederholung – gerne gesehen. Und: Er ermöglichte afro-amerikanischen Schauspielern das Mitwirken im Filmgeschäft – von insgesamt zehn Oscars ging einer an Hattie McDaniel als beste Nebendarstellerin. Damit war sie die erste schwarze Schauspielerin, die den Goldburschen je gewann.
Den Vorwurf der rassistischen Untertöne sowie der ethnischen Stereotypisierung muss sich auch „Breakfast at Tiffany’s“ (1961) gefallen lassen. Wegen dem von Mickey Rooney mit getapten Augenliedern, Hasenzähnen und einem überzogenen Akzent gespielten Charakter eines Japaners fordern Aktivisten regelmässig, den Streifen von der Liste der Klassiker zu kippen. Erfolglos – in der AMC-Auflistung „The 50 Greatest Romantic Movies“ rangiert er auf Rang 7. Die anhaltenden Diskussionen aber warfen einen kleinen Schatten über Rooneys lange, erfolgreiche Filmkarriere.
Als der wohl rassistische amerikanische Film, der je produziert wurde, gilt „The Birth of a Nation“ aus dem Jahr 1915. Der über dreistündige Stummfilm erzählt das Leben während des amerikanischen Bürgerkriegs und in der Zeit des Wiederaufbaus in den Südstaaten anhand zweier Familien. Der Stoff stösst einem beim Gucken ziemlich sauer auf, er ist definitiv nichts für empfindliche Gemüter: Die weissen Südstaatler werden in „The Birth of a Nation“ als Opfer dargestellt, unterdrückt und gedemütigt von der erstarkenden schwarzen Bevölkerung während der Wiederaufbau-Zeit, der Ku-Klux-Klan als erlösende Truppe, die die Weissen vor den wilden, vergewaltigenden und mordenden Schwarzen rettet. Es wird noch grotesker: Weisse werden durchs Band intelligent gezeichnet, sympathisch und gut, Schwarze und Mulatten dümmlich, unsympathisch und bösartig. Schwarz geschminkte Weisse spielen die Rollen schwarzer Hauptdarsteller (Blackfacing). Der Tiefpunkt: Der Film wurde einst vom Ku-Klux-Klan als Anwerbung für Mitglieder benützt.
Trotz oder gerade wegen der grossen öffentlichen Debatte – es gab Proteste und in einigen US-Staaten war seine Freigabe verboten worden – war das Epos ein riesiger finanzieller Erfolg. Filmwissenschaftler beschreiben seine künstlerischen und filmtechnischen Innovationen als bahnbrechend und den Film deswegen als das „vielleicht bedeutendste und einflussreichste Werk der amerikanischen Filmgeschichte“. 1998 wurde „The Birth of a Nation“ vom American Film Institute in die „Top 100 American Films“ gewählt.
Alle drei Beispiele (und es gäbe noch zahlreiche andere) haben eines gemeinsam: Sie sind in einer Zeit produziert worden, wo andere moralische Standards und auch eine andere Art von Humor herrschten als heute. Es ist anzunehmen, dass die Filmemacher mit ihren Werken keine schlechten Absichten verfolgten. Sie waren keine Rassisten. Meisterwerke, die in einer anderen Epoche erschaffen wurde, aus dem Kontext der damaligen Zeit zu nehmen und gemäss heutigen Moralstandards zu beurteilen, ist nicht nur als Einwand gegen die künstlerische Freiheit zu werten, sondern auch als Akt moralischer Überheblichkeit. Denn Moral ist nicht universell, sie ist gebunden an eine Zeit – was heute moralisch verwerflich ist, war es damals nicht, oder nicht im gleichen Masse. Was eine Gesellschaft in hundert Jahren für verwerflich hält, ist es für uns heute vielleicht nicht.
Geschichte wird durch Filme weitererzählt und auch interpretiert. Sie sind ein Instrument, das uns zeigt, wie es früher war und wie die Gesellschaft sich geändert hat. Das heisst nicht, dass wir diese Streifen nicht kritisch beurteilen dürfen, Filme können, ja sollten kontroverse Debatten auslösen, eine Herausforderung für den Zuschauer sein. Aber Rassismus oder Sexismus anzuprangern in jahrzehntealten Werken und sie aus der Öffentlichkeit zu verbannen, ist eine ungeeignete Form der Geschichtsaufarbeitung – wer die Vergangenheit auslöschen will, lernt nichts für die Zukunft.
Und, ganz nebenbei: Es ist doch vor allem das Publikum mit seinen Kinoticket- und DVD-Käufen, das entscheidet, welches Werk zum Klassiker wird und welchen Film es in den Lichtspieltheatern dieser Welt sehen möchte.
Der Beitrag erschien in kürzerer Version in der Zürcher Weltwoche.