Moral als Standortfaktor
Die grüne Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt bekennt sich in weltanschaulicher rührender Frömmigkeit dazu, nicht nur Deutschland, sondern ihre Herzens-Kräfte auch gegen das Elend in der ganzen Welt einzusetzen, um auch diese deutlich zu bessern. Sie sagt: „In einer Zeit der Erdogans, Putins und Trumps ist Moral ein echter Standortfaktor, dazu stehe ich auch.“ Sie will also vollkommen reinen Herzens Politik betreiben und Macht nur aufgrund ihrer moralischen Gesinnung anstreben. Und zwar „verdammt hart“ will sie dabei sein. Eine ostdeutsche Jeanne d’Arc. Um gegen Klimakatastrophe, Flüchtlingselend, Kinderarmut und Frauenunterdrückung anzukämpfen. Und so muskulös, wie ihre Stimme klang, wohl auch siegen. Moral als Standortfaktor? Da gerinnt das Wahre, Schöne, Gute zum Wahlplakat, Moral wird zur Sprechblase. Und Göring-Eckhardt merkt gar nicht, dass sie die Botschaft des ihr so verhaßten Neo-Liberalismus tief aufgesogen hat: Alle ist nutzbar, verwertbar, ökonomisierter, auch die Moral.
Die gesamte grüne Prominenz, von Frau Roth, Hofreiter bis zu Ströbele und Kretschmann saßen in den ersten Reihen und spendeten ihr großen Beifall. Auffällig auch, dass sie heute am Sonntag alle betont werktäglich gekleidet waren. Auch sie verstanden also Katrins Aussage als politisch-historische Kämpferinnen-Legende. Irgendwo zwischen Petra Kelly, Lady Di und Joan Baez, die kannten keine Sonntag beim Feldzug gegen das Böse.
Dann wollte sie noch polemisch werden, ohne Kenntnis davon, dass auch der geistige Kampfsport seine strengen Regeln hat und auf Fakten, und seine Angriffe nicht auf fakes gebaut sein dürfen. Christian Lindner, den sie attackierte, sagte nicht, was sie über ihn Falsches berichtete. Lindner sagte nicht zu einem armen Mann, der sich vor Altersarmut fürchtet und nur 900 € monatlich auf sein Konto bekommt, dann solle er eben sparen und etwas zurücklegen, damit er sich bald eine Eigentumswohnung kaufen könne.
Fake, Rote Karte für Katrin. So wahr ich im Wohnzimmer neben jenem Studio saß.
Und selbst diejenigen, die Lindner für einen verwöhnten, arroganten Luxusstenz halten, werden ihn nicht für so dumm und ahnungslos halten, wie Frau Katrin ihn hinstellen wollte. Das war plump von der sonst so reinen politischen Jungfrau. Polemik geht ganz anders. Moral sowieso. Aber so ist es halt im Moral-Krieg, da muss die Wahrheit als erstes sterben, für die Moral ist kein Opfer zu gering: Die Grünen und die FDP.
Gruß aus dem Silicon Valley
Lindner, smart und betont modern und jung dynamisch auftretend, in schickem Anzug, ohne konventionelle Krawatte, wirkte ein wenig wie ein Popstar vor seinem in seriösem Businessoutfit angetretenen Publikum, das alle Hoffnung auf ihn setzt. Mit heller Stimme rief er: „Wir wollen nicht immer nur Fußballweltmeister, sondern auch Digitalisierungsweltmeister werden.“
Doch der Zweifel, der ihm anscheinend mangelt, an dem Danaergeschenk der Digitalisierung, denn bitte: Welche anderen Folgen, als die versprochen segensreichen, sie noch haben wird, Zweifel, Skepsis gegen diese technische Fiktionswelt ist ihm fremd geblieben. Das liegt vielleicht einfach daran, dass seine Agentur noch nie etwas von Heidegger gelesen und gehört hat, aber das ist ein Thema für eine andere Zielgruppe. Man wird sehen. Mit dem blonden Lindner ist zu rechnen. Der wird der Merkel nichts schenken, bei den Verhandlungen.
Der gute alte Cem in neuer Rolle
Den Vogel freilich schoss wieder unser guter alter Cem ab. Sein hemdsärmeliger Auftritt schäumte vor Sentimentalität und Patriotismus. So rührend schön wie er unser Land liebt und lobt, kann das außer ihm niemand, ganz sicher kein Grüner und keine Grüne, die oftmals das deutsche Vaterland sogar hassten. Die Grünen und die FDP.
Nicht so Cem. Geradezu anheimelnd deshalb auch sein inniges Verhältnis zur deutschen Geschichte und ganz anders als im konservativen Lager, wo man diesbezüglich meistens nur die ewigen Hymnen auf Bismarck, den großen Fritz und das Preußentum, bei älteren dann auch noch die Kaiser des Mittelalters erwähnt hört. Ganz anders auch als bei den Linken, wo immer nur Marx im hohen Kurs steht und die Tradition von Heine bis Tucholsky und Biermann beschworen wird: Nein Cem bekennt sich dazu, in der Tradition der Paulskirche, der badischen Revolution, die damals auf der „richtigen Seite der Geschichte“ gestanden und gekämpft habe. Und weil es immer noch nicht reicht und last but not least stünden er und die Grünen in der sie verpflichtenden Nachfolge der weißen Rose. Und sie wüssten drum zu verhindern, dass nochmals neue Nazi in das Parlament der Demokratie einziehen können. Kein Wort mehr vom Kiffen, dass der Islam eine Religion ist, von der er sich wie jeder Muslim nie wird trennen können – jetzt also Paulskirche und Biermann und Geschwister Scholl, eine pathetische Pralinenschachtel.
Denn das war ein schönes, drolliges Pathos, so naiv und idealistisch liebt man die Grünen wieder. Wahrscheinlich. Mit dem Pathos-Disneyland des guten Cem können sie wieder was werden. Dann werden sie also zu Dritt als Parteien da sitzen: Eis-Merkel, Moral-Katrin, Traditions-Cem und Digital-Lindner. Hübsche Vorstellung für Spötter und Kabarettisten, gäbe es denn noch welche im Land. Wäre auch gut für die Grünen und die FDP.
Wim Setzer ist Kunstkritiker und Journalist.