In China beginnt die Schule üblicherweise morgens um 7 Uhr. Dann steht vor dem Unterricht ein Appell auf dem Schulhof mit Gymnastik und Dauerlauf an. Um 16 oder 17 Uhr kommen die Schüler nach Hause, nicht um sich auszuruhen oder zu spielen, sondern um für zwei bis vier Stunden Hausaufgaben zu machen. Ja, das ist Dressur und Drill, und niemand bei uns möchte das haben. Auch ich nicht. Bei uns herrscht allerdings das totale Gegenteil vor: Die Schule soll später anfangen, der Stundentakt, die Noten, die Hausaufgaben, das Sitzenbleiben, das Auswendiglernen – all das soll abgeschafft werden, wenn es nach den Vorstellungen reformwütiger Bildungspolitiker und Bildungs-„Forscher“ geht. Mittelwege in Form einer vernünftigen Mischung aus Leistungsanforderung und Freiraum scheint es in Deutschland nicht zu geben. Weil in Deutschland aber mehr und mehr Visionen von einer Schule als Freizeitpark und Ponyhof um sich greifen, werden uns die Chinesen und die Inder sehr bald überholen. Weit sind die jungen Chinesen und Inder nicht davon weg. Und dort klagt man nicht über Schulstress.
Damit es mit den Anforderungen in Deutschlands Schulen aber noch weiter nach unten gehen kann, werden wir regelmäßig zugeschüttet mit „Studien“ über den Schulstress in Deutschland. Erst jetzt wieder hat sich die DAK (Deutsche Angestellten Krankenkasse) mit einer „Studie“ zu Wort gemeldet, die zahlreichen Eltern und manchen Schulpolitikern geradezu willkommen ist: Schulstress. Vor allem die SPD müsste sich freuen, plakatiert sie doch den Slogan: „Bildung darf nichts kosten. Außer etwas Anstrengung.“ Wohlgemerkt: „etwas“, bloß nicht zu viel!
„DAK-Präventionsradar 2017“ heißt die „Studie“, derzufolge fast jeder zweite Schüler (exakt 43 Prozent) unter Schulstress leidet. Die Symptome seien Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Schlafprobleme. Ferner gaben 40 Prozent der Schüler an, zu viel für die Schule zu tun zu haben. Ein weiteres Ergebnis des DAK-Präventionsradars: Sowohl Stress als auch somatische Beschwerden nähmen mit den Schuljahren zu. Die Krankenkasse hatte ihre aktuelle Schulstudie mit dem Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) in sechs Bundesländern durchgeführt. Knapp 7.000 Schüler aus mehr als 400 Klassen der Jahrgangsstufen fünf bis zehn waren dafür repräsentativ befragt worden. Wohlgemerkt befragt, nicht medizinisch untersucht. Selbstdiagnosen wurden also abgefragt.
Erstens wird den Schülern von Eltern und von der veröffentlichten Meinung immer wieder eingeredet, wie fürchterlich stressig Schule in Deutschland sei. Am Ende nimmt die Schulpolitik die Anforderungen immer weiter herunter und lässt die Schulen immer noch mehr und bessere Zeugnisse ausgeben. Das Stressgefühlt bleibt trotzdem erhalten, weil man den jungen Leuten nicht vermittelt hat, dass es einen positiven, vitalisierenden, mobilisierenden, ja lebensverlängernden Stress (Eustress) und einen krankmachenden Stress (Dysstress) gibt. Und weil man ihnen nicht klargemacht hat, dass wir dann am leistungsfähigsten – auch mit uns am zufriedensten – sind, wenn wir mit Anforderungen zu tun haben, die eine 50prozentige Erfolgswahrscheinlichkeit und eine 50prozentige Misserfolgswahrscheinlichkeit in sich bergen. Die Grenze zwischen beidem muss – orientiert an der jeweiligen Belastungsfähigkeit – gerade auch in puncto Schulwahl individuell ausgelotet werden.
Damit hängt zweitens zusammen: Viele Schüler in Deutschland landen nach der Grundschule auf dem Gymnasium, obwohl sie dort überfordert sind und eine andere Schulart für sie die geeignetere wäre. Ehrgeizige Eltern, die sich von OECD, Bertelsmann Stiftung, Bildungs-„Wissenschaftlern“ und Bildungspolitikern haben einreden lassen, dass der Mensch erst mit dem Abitur beginne, weil er sonst auf dem globalisierten Markt keine Chance hat, boxen ihr Kind dann auf einen Bildungsweg, der in echtem Stresserleben und Misserfolgen enden wird. Sie machen den Schulstress. Nicht selten setzt dieser elterliche Ehrgeiz des Typs „Helikoptereltern“ (siehe mein Buch. „Helikoptereltern – Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“) bereits in der Grundschule ein, damit der Übergang ans Gymnasium doch ja gelingen möge. Dass mittlerweile 14 der 16 Bundesländer (anders als Bayern und Sachsen) keine Zugangsvoraussetzungen mehr für den Zugang zum Gymnasium kennen, fördert dieses Denken vieler Eltern zusätzlich.
An diesen drei Ursachen gilt es neben einer vernünftigen Ernährung und einem motorischen Ausgleich anzusetzen. Das ist aber in erster Linie ein Job der Eltern: aus pädagogischer Sicht im Interesse der Kinder, aus volkswirtschaftlicher Sicht im Interesse der Zukunft dieses Landes.