Wer war nicht erschüttert, als er der deutschen Weltpresse Schlagzeilen wie diese entnehmen musste: „Einige versuchten meine Frau zu bedrängen und zu belästigen.“ (Welt) Unsere erste Befürchtung damals: Gab es einen dieser Vorfälle, die beinahe täglich von Volksfesten, Popkonzerten oder Diskotheken und Fußgängerzonen in Polizeiberichten landauf, landab erwähnt werden, nun sogar bei Familie Gabriel? Nun, wir können gleich zu Beginn unserer Besprechung der Illner-Show Entwarnung geben. „Das haben die Medien draus gemacht“, war Siggis Erklärung.
Goslar. Im Hintergrund leuchtet sanft eine Tischlampe (mit EU-Energiesparbirne), rechts eine kleine Topfpflanze auf einer Schale, davor vier rote Früchte. Knalldeutsche Äpfel? Was Exotisches? Wachs? Wir konnten es nicht genau erkennen. Die Wände in kräftigen Rottönen. Willkommen bei den Gabriels. Live zugeschaltet, um ein bisschen Wahlkampf zu machen.
Der Belästiger, dessen Belästigungen sich im Detail unserer Kenntnis entziehen, „war nicht zwangsläufig jemand, der aus der Türkei kommt“, sagte der Außenminister, der zu später Stunde immer noch seinen Arbeitsanzug mit Schlips trug (Schröder hätte wahrscheinlich mit Strickjacke und einer Flasche Bier seine Verbundenheit mit dem deutschen Arbeiter demonstriert – ein scherzhafter Hinweis, den wir uns nur erlauben, weil wir erleichtert sind, dass eigentlich gar nichts passiert ist). Jedenfalls, war das, was da vorgefallen ist „bei weitem nicht so schlimm“ wie Erdogans Deutschland-ist Nazi-Vergleich. Siggis staatstragender Auftritt hatte noch weitere Pointen, aber zuvor wollen wir uns des eigentlichen Themas der Sendung annehmen: „Erdogan und die Deutschen – Eskalation im Wahlkampf?“
Zunächst ging es um einen türkischstämmigen Schriftsteller aus Köln, der in Spanien verhaftet wurde, nachdem die türkische Interpol-Stelle einen Haftbefehl erlassen hatte. Dann gedachte man derer, die in der Türkei in Haft kamen. Um ihre Meinung gebeten wurden: Seyran Ates, Anwältin (deutsch-türkisch-kurdisch), Sabahattin Cakiral (deutsch-türkisch) von einem „Bündnis für Integration und Gerechtigkeit“, Ahmet Toprak, (deutsch-türkisch), Pädagogikprofessor und Norbert Röttgen (deutsch- deutsch) für die CDU. Sogleich vergessen wollen wir Hasnain Kazim (deutsch- pakistanisch?), der mal als Spiegel-Korrespondent in der Türkei tätig war, aber hauptsächlich vor einiger Zeit als Zuwanderungsextremist mit der dreisten Formulierung auffällig geworden war: „Gewöhn dich dran: Wir sind hier, werden immer mehr und beanspruchen Deutschland für uns. Ob du willst oder nicht.“
Die drei türkisch-stämmigen Gäste belegten deutlich, dass es in der Community der Türk-Deutschen nur eine Frage gibt. Was bistu? Für oder gegen Erdogan? Ates erzählte, dass die, die vom türkischen Interpol auf die „Gesucht“-Liste gesetzt werden, nicht mehr in die USA einreisen dürften. Sie wusste vom Riss durch Familien zu berichten, „wo der Bruder die Schwester schlägt“, wenn die gegen Erdogan ist. Als Rechtsanwältin stellte sie der Türkei ein vernichtendes Urteil aus: „Die türkische Justiz existiert nicht mehr!“ Cakiral fand das übertrieben, kam aber ansonsten kaum zu Wort. Nun waren wir an der Türkei bis dato eher peripher interessiert, aber dass es sich da um einen Rechtsstaat westlichen Zuschnitts handelt, hätten wir ihr nie unterstellt.
Pädagoge Toprak konnte denen, die mehr an den Zuständen in Deutschland interessiert sind, einige Fakten liefern: Von den drei Millionen hier lebenden Türken sind 1,6 Millionen wahlberechtigt. Davon wählen 74% SPD, 12 % Die Linke. Aha, daher weht der Wind! Deshalb die Aufregung über Erdis „Hayir!“ zur SPD. (Dass er auch CDU und Grüne mit einem Bann belegte, erweist sich da als nebensächlich.)
Kennt Siggi die Zahlen? Es dürfte nicht jedem türk-deutschem Schulz-Wähler gefallen, dass Außen-Siggi Papa-Türk zunächst zum Trottel erklärte, der eine Terror-Verdachtsliste mit „650 deutschen Unternehmen, unter anderen Daimler und BASF“ an Interpol schickte. Auch denen unter den SPD-Wählern, die auf eine Aufnahme der Türkei in die EU hoffen, macht er klar: „In Wahrheit gibt es gar keine richtigen Beitrittsverhandlungen. Da passiert ja nix.“ Nun sind wir natürlich kein Diplomat mit Schnellkurs-Einweisung wie Siggi, aber taktisch klug klingt anders. Dann will Gabriel Zahlungen an die Türkei „drastisch reduzieren oder einstellen“. Nein, an Worten fehlte es dem starken Mann aus Goslar nicht: „Wirtschaftssanktionen und Reisewarnungen bleiben selbstverständlich.“ Seine Reviermarkierung zielte aber wohl in erster Linie auf den starken Mann vom Bosporus.
Nun kann er seinem Chef Schulz nicht vollends die Tour vermasseln – wenn die türk-deutschen SPD-Wähler den nicht mehr wählen, wird’s eng mit über 20% – und er schmierte ordentlich Honig um den muslimischen Bart. „Wir sind den Türkinnen und Türken zu großem Dank verpflichtet“, hudelte und hodelte der Geschichtsvergessene. „Die Türken haben unser Land aufgebaut.“ Deutschland? Vielleicht hat er sein Haus mit türkischen Schwarzarbeitern gebaut? Dann malte er seine Vision von einer deutsch-türkischen Zukunft, in der es um „Kultur-Austausch“ und „Städtepartnerschaften“ ging. Und er will die „Menschen mit offen Armen begrüßen, mit ihnen Veranstaltungen machen …“
Norbert Röttgen ließ Siggis Romantik-Welle unbeantwortet, seine Macho-Sprüche allerdings zerplatzen wie einen SPD-Luftballon. „Es gibt keine Änderungen in der Politik Richtung Türkei. Es gibt auch keine Reisewarnungen (nur Hinweise), und es gibt keine Wirtschaftssanktionen.“ Puff!
Illner will dann auch bei Merkel eine schärfere Gangart Richtung Bosporus erkannt haben, aber da kann Röttgen, der selber durchaus in diese Richtung votiert, ebenfalls nichts erkennen. Beim folgenden Merkel-Einspieler fielen uns vor allem die Trillerpfeifen im Hintergrund auf.
Die Russen haben sich (angeblich) auf Seiten Trumps in den US-Wahlkampf eingemischt, Pöbel-Ralle Stegner (bewiesenermaßen) auf Seiten Hillarys. Merkel und Schulz pilgerten zur Unterstützung Macrons nach Paris. Das ist eben so, wenn die Grenzen offen sind. Und wenn der Martin gnadenlos abschmiert, ist Erdogan schuld (Trump diesmal nicht, der kennt den Schulz gar nicht).