Tichys Einblick
Eine Anstoß zur Diskussion

Parteienstaat im Abwind

Wie könnte man eine Gesellschaft so organisieren, dass der Staat nicht mehr so beherrschend ist wie im Parteienstaat, sondern die Daseinsrisiken und ihre Beherrschung vernünftiger verteilt werden?

© Getty Images

In meinem Beitrag „Quo vadis EU – Europa“ illustrierte ich, dass in westlichen Demokratien der Staat zur Beute der Parteien verkommen ist, zum Parteienstaat. Fast alle westlichen Demokratien leiden an dem, was man – würde es sich nicht um die Politik, sondern um die Wirtschaft handeln – als Marktversagen bezeichnen müsste. Es läuft etwas gewaltig schief, was viele Bürger durchaus spüren, naturgemäß gerade in den Ländern, die derzeit größere wirtschaftliche Probleme haben als wir. Sie haben aber kaum Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen.

„A sense of malaise“
Quo vadis EU-Europa?
Der Parteienstaat, die Parteien und ihr Dunstkreis, seien es die Lobby – Verbände wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, NGOs etc. – haben den Vorteil, eine gewisse Macht aufgrund der organisierten Struktur zu haben, nur so erreicht man Augenhöhe. Das hat der Bürger nicht, er steht „allein gegen die Mafia“. Das führt dazu, dass die Gruppe der Nichtwähler größer wird, ansonsten bleibt die Auflehnung. So kamen überall neue „rechte“ Parteien hoch, die Unzufriedenheit führte zum Brexit, in den USA zu Trump.

Der Blick auf andere Länder zeigt deutlich, dass der Parteienstaat ein strukturelles Problem und kein singulär deutsches Phänomen ist. Wir neigen dazu, uns zu wichtig zu nehmen, sind fast krankhaft egozentrisch und grenzwertig stolz auf unsere wahren und vermeintlichen Unzulänglichkeiten: Es sei eben „der deutsche Michel“, der alles mit sich machen ließe, obrigkeitshörig, fügsam und dumm bis zum Abwinken. Nur geht es dem Michel nicht anders als der Marianne oder anderen Europäern. Diese Egozentrik, die sich als Nabel der Welt sieht (was wir aber umgekehrt den US-Amerikaner vorwerfen), verstellt den Blick auf das Wesentliche, nämlich, dass es sich um eine grundlegend strukturelle Problematik handelt. Kosmetische Reparaturen an einem Wahlsystem, wie man sie derzeit in Frankreich versucht, sind folglich ebenso wenig zielführend wie alle Nachbesserungsversuche an einem System, welches als solches versagt – systemisch.

Anders ausgedrückt: Die Parteienstaaten der westlichen Demokratien haben ihren Zenit überschritten, sie zeigen sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen. Daher geht der oft gehörte Seufzer, dass es ja irgendwann einmal eine Zeit nach Merkel geben müsse, völlig an der Sache vorbei. Nicht Merkel ist das Problem, obgleich sie die Lage mit Sicherheit erheblich verschlechtert hat. In sich schnell wandelnden Zeiten reicht Moderation des Bestehenden längst nicht mehr aus und Autokratien gegenüber ist Zurückweichen Selbstmord. Der Parteienstaat ist das Problem, Merkel ist das Produkt.

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Aber mag sie auch Brandbeschleuniger sein, Brandursache ist sie nicht. Daher ist die Hoffnung der Schwachen auf eine Zeit „danach“ ein Zeichen dafür, dass sie die wahren Probleme völlig verkannt haben. Alle – auch und gerade in der CDU – die auf später hoffen und bauen, werden womöglich ein sehr böses Erwachen erleben, denn es ist eher unwahrscheinlich, dass die Opportunisten, die jetzt in Merkels Fahrwasser schwimmen, später  dafür belohnt werden. Im Gegenteil kann es sogar sein, dass gerade sie sehr heftig dafür abgestraft werden, dass sie – obgleich in der Regierungspartei – die kommenden Entwicklungen nicht verhindert haben. Die zunehmende Bedeutungslosigkeit der früher machtvollen „etablierten“ Parteien haben uns unsere europäischen Nachbarn bereits vorgelebt.

Der große Vorteil einer Demokratie liegt allerdings darin, dass man einen Wechsel auch ohne Blutvergießen, Revolutionen oder Putsch erreichen kann. Voraussetzung ist natürlich die Gründung einer Partei, die sich dann zur Wahl stellt. Wie man in Frankreich sieht, kann man damit sogar handstreichartig an die Macht kommen, wenn man zwei Punkte beachtet: Man benötigt eine charismatische Führungsperson und einen Lösungsansatz, der sich von anderen abhebt. Der zweite Punkt ist in Frankreich nicht so ganz geglückt, was bis vor Kurzem aber durch die Strahlkraft der Persönlichkeit Macrons verdeckt wurde.

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Parteienstaat und Staatsparteien: Systemwechsel nötig
Wenn eine solche neue Partei die Mehrheit bekäme und grundlegende Reformen umsetzen könnte, dann wäre auch die Gefahr nicht gegeben, dass sie durch das bestehende System korrumpiert wird. So wurden die Grünen auch erst bekämpft, dann vom System „verdaut“, bis sie heute zu den etablierten Parteien gehören, ebenso wie mittlerweile die SED-Nachfolgepartei Die Linke. Wir haben bisher die Entwicklung in anderen Länder, die schon länger Parteien am „rechteren“ Rand haben, mit der Gründung der AfD nachgeholt. Diese sollte zunächst eine konservative Partei sein, wurde aber derart wild in die „rechte“ Ecke geschrieben, dass aufgrund der sich dann entwickelnden Eigendynamik diese Kräfte anwuchsen und nun die AfD das ist, was man ihr anfangs zu Unrecht vorwarf. Jetzt aber hört man oft den Wunsch, gäbe es doch noch die alte „Lucke-AfD“. Die gibt es, sie nennt sich Liberal-Konservative Reformer (LKR), aber sie wird totgeschwiegen. Merkel wusste stets, dass das Maß der medialen Präsenz über die Erfolge einer Partei entscheidet, daher wollte sie die AfD totschweigen. Das gelang nicht, folglich hatte die AfD Erfolge. Aber nun hat man gelernt. Die LKR wäre eigentlich die deutlich gefährlichere Konkurrenz, denn sie ist nicht „rechts“ und hat zudem in vielen Punkten sehr kluge Leute, aber so lange man ihr keinerlei Forum bietet, wird sie nicht gewählt. So einfach funktioniert Demokratie. So haben viele Bürger keine wählbare Alternative, was kurzfristig den etablierten Parteien nützt, langfristig aber den Frust erheblich anwachsen lässt.
Worin liegen also die große Schwächen westlicher Demokratien?

Die Antwort ist weder einfach, noch dürfte es sich um einen einzigen, monokausalen Faktor handeln. Man kann sich der Problematik aber zumindest annähern, indem man sich die Hauptentwicklungsstränge vor Augen führt.

Ein Blick auf die Sachlage.
Wie demokratisch das Kaiserreich wirklich war.
Unsere Staaten haben sich aus Staatswesen entwickelt, in welchen einem Herrscher das Land und die Leute gehörten. Natürlich waren nicht alle Leibeigene, aber sie waren Untertanen. Ähnlich wie heute im Islam wurde mit Hilfe der Religion regiert, der König war „von Gottes Gnaden“ eingesetzt, die moralischen Grundlagen und Grenzen des Handelns durch die Bibel gesetzt. Nachdem sich die Kirche zwecks Geldvermehrung genauso abstrus benahm wie heute die politischen Parteien, kam bekanntlich ein Herr namens Luther und wagte aktiven Widerstand. Luther wollte eigentlich keine neue Kirche oder Konfession gründen, sondern nur die katholische Kirche auf den Pfad der Tugend zurück führen, aber so einfach funktionierte das nicht. Luthers Verdienst war es, den Verstand und das Verstehen in den Mittelpunkt zu rücken. Der Gläubige sollte mit seinem eigenen Verstand begreifen und beurteilen können, worum es geht, nicht mehr nur blind gehorchen. Das führte dann letztlich zum 30jährigen Krieg, denn Weltanschauungen – gleich welcher Art – können sich nur bekämpfen, denn ein wahr oder falsch, dass sich erweisen ließe, gibt es nicht.

Dieser Krieg wurde mit dem Westfälischem Frieden beendet, der nicht nur die Grundlage der europäischen Staatenordnung wurde, sondern auch die Religionsfreiheit sicherte. Das war ein wichtiger Meilenstein auf dem Wege der Emanzipation der Bürger. Der nächste Schritt war dann im Rahmen der Aufklärung – im Englischen so schön „enlightenment“ genannt – die Trennung von Kirche und Staat und die Einführung unveräußerlicher Menschenrechte als kleiner unverletzlicher Schutzbereich des Individuums dem Staat gegenüber.

So weit sind wir heute. Oder anders ausgedrückt: Weiter sind wir immer noch nicht.

An zwei entscheidenden Grundpfeilern wurde nicht gerüttelt:

I. Staat und Kirche wurden zwar getrennt, gleich geblieben ist aber die Methodik der Staatsführung. Sie basiert auf Glaubenssätzen. Ob die Weltanschauungen auf religiösen oder politischen Ideologien beruhen, ist in der Sache gleichgültig, es geht stets nicht um Vernunft, sondern um Herrschaft mit den Hilfsmitteln moralisch-ethischer Wertungen. Die Gesinnung ist zugleich Maßstab des Handelns wie auch Führungsinstrument.

II. Der Staat ist allmächtig, der Bürger hat nur einen kleinen Schutzbereich, den er zur Not selber gegen den Staat verteidigen muss. Damit ist der Staat ein „single point of failure“, d. h. das Wohlergehen jeden einzelnen Bürgers hängt weitgehend davon ab, wie gut der Staat geführt wird, ein Versagen ist für alle fatal. Das ist die maximal schlechteste Risikoverteilung. Der Staat als Herrscher hat auch – wie alle Vorgänger – die Möglichkeit, sich immer umfangreicher am Einkommen der Bürger selbst zu bedienen. Das führt dazu, dass die deutschen Bürger mehr als die Hälfte des Jahres für den Staat arbeiten, in diesem Jahr konkret bis zum 19. Juli, denn mehr als die Hälfte des Einkommens (54,6 %) muss im Durchschnitt abgeführt werden.

Auf dem Weg in die Zukunft haben wir uns als Gesellschaft also schon weiter entwickelt, wir sind nicht mehr völlig rechtlose Untertanen eines Herrschers, der diese Stellung dem Zufall der Geburt verdankt. Das ist äußerst begrüßenswert! Es ist aber bei weitem nicht genug auf dem Weg zum mündigen Bürger, wir sind letztlich immer noch nur mit beschränkten Rechten ausgestattete Untertanen eines sehr fordernden Herrschers. Das mag bequem sein, ist aber hoch riskant.

Es wird Zeit, den Weg weiter zu gehen

Was ist falsch an einer Gesinnungsherrschaft? Wie könnte es anders gehen? Und wie könnte man eine Gesellschaft so organisieren, dass der Staat nicht mehr so beherrschend ist, sondern die Daseinsrisiken und ihre Beherrschung vernünftiger verteilt werden?

Das sind keine leicht zu beantwortenden Fragen und ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, als hätte ich fertige Antworten parat. Das habe ich nicht. Es scheint mir aber höchste Zeit, sich den Problemen zu widmen, sie offen anzusprechen und eventuell Denkanstöße zu geben. Wer sich nicht einmal auf den Weg macht, kann nie weiter kommen.

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