In meinem Beitrag „Quo vadis EU – Europa“ illustrierte ich, dass in westlichen Demokratien der Staat zur Beute der Parteien verkommen ist, zum Parteienstaat. Fast alle westlichen Demokratien leiden an dem, was man – würde es sich nicht um die Politik, sondern um die Wirtschaft handeln – als Marktversagen bezeichnen müsste. Es läuft etwas gewaltig schief, was viele Bürger durchaus spüren, naturgemäß gerade in den Ländern, die derzeit größere wirtschaftliche Probleme haben als wir. Sie haben aber kaum Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen.
Der Blick auf andere Länder zeigt deutlich, dass der Parteienstaat ein strukturelles Problem und kein singulär deutsches Phänomen ist. Wir neigen dazu, uns zu wichtig zu nehmen, sind fast krankhaft egozentrisch und grenzwertig stolz auf unsere wahren und vermeintlichen Unzulänglichkeiten: Es sei eben „der deutsche Michel“, der alles mit sich machen ließe, obrigkeitshörig, fügsam und dumm bis zum Abwinken. Nur geht es dem Michel nicht anders als der Marianne oder anderen Europäern. Diese Egozentrik, die sich als Nabel der Welt sieht (was wir aber umgekehrt den US-Amerikaner vorwerfen), verstellt den Blick auf das Wesentliche, nämlich, dass es sich um eine grundlegend strukturelle Problematik handelt. Kosmetische Reparaturen an einem Wahlsystem, wie man sie derzeit in Frankreich versucht, sind folglich ebenso wenig zielführend wie alle Nachbesserungsversuche an einem System, welches als solches versagt – systemisch.
Anders ausgedrückt: Die Parteienstaaten der westlichen Demokratien haben ihren Zenit überschritten, sie zeigen sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen. Daher geht der oft gehörte Seufzer, dass es ja irgendwann einmal eine Zeit nach Merkel geben müsse, völlig an der Sache vorbei. Nicht Merkel ist das Problem, obgleich sie die Lage mit Sicherheit erheblich verschlechtert hat. In sich schnell wandelnden Zeiten reicht Moderation des Bestehenden längst nicht mehr aus und Autokratien gegenüber ist Zurückweichen Selbstmord. Der Parteienstaat ist das Problem, Merkel ist das Produkt.
Der große Vorteil einer Demokratie liegt allerdings darin, dass man einen Wechsel auch ohne Blutvergießen, Revolutionen oder Putsch erreichen kann. Voraussetzung ist natürlich die Gründung einer Partei, die sich dann zur Wahl stellt. Wie man in Frankreich sieht, kann man damit sogar handstreichartig an die Macht kommen, wenn man zwei Punkte beachtet: Man benötigt eine charismatische Führungsperson und einen Lösungsansatz, der sich von anderen abhebt. Der zweite Punkt ist in Frankreich nicht so ganz geglückt, was bis vor Kurzem aber durch die Strahlkraft der Persönlichkeit Macrons verdeckt wurde.
Worin liegen also die große Schwächen westlicher Demokratien?
Die Antwort ist weder einfach, noch dürfte es sich um einen einzigen, monokausalen Faktor handeln. Man kann sich der Problematik aber zumindest annähern, indem man sich die Hauptentwicklungsstränge vor Augen führt.
Dieser Krieg wurde mit dem Westfälischem Frieden beendet, der nicht nur die Grundlage der europäischen Staatenordnung wurde, sondern auch die Religionsfreiheit sicherte. Das war ein wichtiger Meilenstein auf dem Wege der Emanzipation der Bürger. Der nächste Schritt war dann im Rahmen der Aufklärung – im Englischen so schön „enlightenment“ genannt – die Trennung von Kirche und Staat und die Einführung unveräußerlicher Menschenrechte als kleiner unverletzlicher Schutzbereich des Individuums dem Staat gegenüber.
So weit sind wir heute. Oder anders ausgedrückt: Weiter sind wir immer noch nicht.
An zwei entscheidenden Grundpfeilern wurde nicht gerüttelt:
I. Staat und Kirche wurden zwar getrennt, gleich geblieben ist aber die Methodik der Staatsführung. Sie basiert auf Glaubenssätzen. Ob die Weltanschauungen auf religiösen oder politischen Ideologien beruhen, ist in der Sache gleichgültig, es geht stets nicht um Vernunft, sondern um Herrschaft mit den Hilfsmitteln moralisch-ethischer Wertungen. Die Gesinnung ist zugleich Maßstab des Handelns wie auch Führungsinstrument.
II. Der Staat ist allmächtig, der Bürger hat nur einen kleinen Schutzbereich, den er zur Not selber gegen den Staat verteidigen muss. Damit ist der Staat ein „single point of failure“, d. h. das Wohlergehen jeden einzelnen Bürgers hängt weitgehend davon ab, wie gut der Staat geführt wird, ein Versagen ist für alle fatal. Das ist die maximal schlechteste Risikoverteilung. Der Staat als Herrscher hat auch – wie alle Vorgänger – die Möglichkeit, sich immer umfangreicher am Einkommen der Bürger selbst zu bedienen. Das führt dazu, dass die deutschen Bürger mehr als die Hälfte des Jahres für den Staat arbeiten, in diesem Jahr konkret bis zum 19. Juli, denn mehr als die Hälfte des Einkommens (54,6 %) muss im Durchschnitt abgeführt werden.
Auf dem Weg in die Zukunft haben wir uns als Gesellschaft also schon weiter entwickelt, wir sind nicht mehr völlig rechtlose Untertanen eines Herrschers, der diese Stellung dem Zufall der Geburt verdankt. Das ist äußerst begrüßenswert! Es ist aber bei weitem nicht genug auf dem Weg zum mündigen Bürger, wir sind letztlich immer noch nur mit beschränkten Rechten ausgestattete Untertanen eines sehr fordernden Herrschers. Das mag bequem sein, ist aber hoch riskant.
Es wird Zeit, den Weg weiter zu gehen
Was ist falsch an einer Gesinnungsherrschaft? Wie könnte es anders gehen? Und wie könnte man eine Gesellschaft so organisieren, dass der Staat nicht mehr so beherrschend ist, sondern die Daseinsrisiken und ihre Beherrschung vernünftiger verteilt werden?
Das sind keine leicht zu beantwortenden Fragen und ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, als hätte ich fertige Antworten parat. Das habe ich nicht. Es scheint mir aber höchste Zeit, sich den Problemen zu widmen, sie offen anzusprechen und eventuell Denkanstöße zu geben. Wer sich nicht einmal auf den Weg macht, kann nie weiter kommen.