In der aktuellen Studie hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung die sogenannte Grenzbelastung von mehreren Beispielshaushalten untersucht. Da ist der Single, der Arbeitslosengeld II bezieht und jährlich bis zu 1.200 Euro dazu verdienen darf. Verdient er mehr als 1.200 Euro hinzu, dann wird das Arbeitslosengeld für jeden Euro Hinzuverdienst jeweils um 80 Cent reduziert. Es bleiben also nur 20 Prozent von dem, was er darüber hinaus verdient. „Der Wert reduziert sich dann noch weiter mit der zunehmenden Einkommensteuer. Für jährliche Bruttoeinkommen zwischen 14.400 und 17.700 steigt die Grenzbelastung auf 100 Prozent: Jeder hinzuverdiente Euro ist gleich wieder weg.“
Wenn Mehrarbeit zu Einbußen von 20 Prozent führt
Ein anderes Beispiel: Eine Familie mit zwei Kindern, bei dem nur ein Ehepartner einen Job hat. Hier gibt es bei einem Einkommen von ca. 28.100 Euro jährlich einen deutlichen Sprung: Ab dieser Grenze entfällt der Kinderzuschlag und die Grenzbelastung steigt sogar auf deutlich über 100 Prozent. Ein höherer Bruttolohn wird zum Minusgeschäft. Im Extremfall kann die Grenzbelastung 120 Prozent betragen, so dass derjenige, der hinzuverdient, am Schluss 20 Prozent weniger in der Tasche hat, als wenn er nicht hinzuverdient hätte.
Anreiz für Untätigkeit oder Schwarzarbeit
Dieses System lädt entweder zur Schwarzarbeit oder zur Untätigkeit ein. Man kann es doch keinem Menschen verübeln, wenn er es ablehnt, Geld hinzuzuverdienen, dass man ihm ganz oder zum allergrößten Teil wieder wegnimmt. Der Politikerspruch „Leistung muss sich lohnen“ wird hier zum Hohn. Ein anderes Problem ist die Schwarzarbeit, gerade bei gering bezahlten Berufen wie etwa Friseuren. Wenn ich als Friseur meinen regulären Job kündige, Sozialleistungen beziehe und nebenher zu Hause einigen Kunden in Schwarzarbeit die Haare schneide, stehe ich wirtschaftlich besser da. Man muss die Ehrlichkeit und den Idealismus von einfachen Menschen bewundern, die nicht so handeln. Aber ein System, dass solche Fehlanreize setzt und zur Untätigkeit oder Schwarzarbeit erzieht, ist absurd.
Die skandinavische Erfahrung
Langzeituntersuchungen in Schweden belegten, dass im Laufe von zwei Jahrzehnten die Ansicht, es sei in Ordnung, staatliche Sozialleistungen zu erschleichen, auf die man keinen Anspruch habe, gravierend an Zustimmung gewann. Diese Wandlungen träten, so die skandinavischen Sozialwissenschaftler, langsam ein, oft erst über Generationen. Wenn der Staat die Steuern massiv anhebe und Fehlanreize setze, blieben die Menschen zunächst bei ihrem bisherigen Verhalten, weil sich Normen und Einstellungen nicht so rasch änderten. Aber die Langzeitwirkungen auf das Verhalten der Menschen sind fatal und bleiben sogar bestehen, wenn – wie in Schweden geschehen – der Wohlfahrtsstaat wegen solcher Fehlwirkungen wieder reduziert wird.