Für nach wie vor große Aufregung sorgt derzeit der Fall des Google Entwicklers James Damore, der mit seinem „Google Manifesto“ (#googlemanifesto) eine Diskussion über aus seiner Sicht existierende Missstände bei Google starten wollte. Am Tag des Augsburger Friedensfestes – einem großen Religionsfrieden aus dem Jahr 1555 – schlug ein Google Mitarbeiter seine Thesen an die Google Mauern, virtuell, versteht sich. Er wurde nicht gehängt – sondern nur entlassen. Es gibt also Fortschritt. Wenigstens in der Form der Bestrafung.
Ausgangslage
Was war geschehen? Der langjährige Google Mitarbeiter aus der SW-Entwicklung im Hauptquartier Mountainview hat in einem mehrseitigen Memo („Google Manifesto“) versucht, eine Diskussion anzustoßen über Themen, die aus seiner Erfahrung bei Google nicht mehr offen diskutiert werden (können). Es geht u. a. darum, dass aus Gründen der Anti-Diskriminierung, Diversity und Gendergleichheit Entscheidungen getroffen werden, die wiederum Ungerechtigkeit für Andere bedeuten.
Ganz konkret beschreibt er u. a., dass bei Einstellungen vielfach Frauen, Leute nicht-weißer Hautfarbe oder Mitglieder anderer Minderheiten bevorzugt würden, um die Ungleichverteilung (Männer / Frauen, weiß / andere Hautfarben) zu eliminieren. Um Diskriminierung zu bekämpfen, greift man also zum Instrument der Diskriminierung. In der klassischen Welt nannte man das: Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
Nun stellt der Autor die Frage, woran es liegen könnte, dass überall auf der Welt mehr Männer in technischen Berufen arbeiteten. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass es Unterschiede in den Interessen und Neigungen gäbe zwischen Mann und Frau, die evolutionsbiologisch bedingt seien (und nicht sozial „gemacht“ worden sind).
Analyse
Wie kommt es dazu, dass der Tech-Konzern Google reagiert wie früher eine mittelalterliche Sekte und heute sonst nur noch ein bärtiger Glaubenswächter der islamischen Welt? Der US-amerikanische Psychologe Prof. Clare Graves hat nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit verschiedene Werteebenen in Gesellschaften entdeckt („Spiral Dynamics“). Er konnte zeigen, dass Gesellschaften in den letzten Jahrtausenden verschiedene Werteebenen und Weltbilder durchliefen, welche jeweils die bestmögliche Antwort auf die herrschenden Umfeldbedingungen darstellen. Heute haben wir es in den westlichen Gesellschaften vornehmlich mit drei Werteebenen zu tun, die parallel existieren. Graves bezeichnete die Ebenen mit Farben, hier eine stark verkürzte Darstellung:
Die Ebene „Ordnung, Recht und Gesetz“ (blau): Das Wichtigste ist, dass das Zusammenleben der Menschen durch einen klaren Ordnungsrahmen geregelt wird (Staat, Kirche). „Durch unser Regelwerk wissen wir genau, was richtig und falsch ist.“ Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn auch der Ordnungsrahmen eingehalten wird. Fehlverhalten wird konsequent geahndet. Alles andere führt zu Chaos. Wo käme man dahin, wenn die Welt eine Kugel wäre? Der Glaube an die Allmacht wäre erschüttert. Weg damit, zurück zum Ordnungsrahmen, zündet die Feuer an und verbrennt die Ketzer. Der Einzelne fühlt sich dadurch sicher, gemeinsam ist man stark (politisch: konservativ, eher rechts). „Man muss sich an die Regeln halten!“
Die Ebene „anything goes“ (orange): Jeder ist seines Glückes Schmied, jeder kann erfolgreich sein, wenn er sich nur genügend anstrengt. Wettbewerb zwischen Menschen und Unternehmen prägt Wirtschaft und Gesellschaft; persönlicher Erfolg, Effizienz, Leistung und auch Eigenverantwortung sind treibende Kräfte, Selbstoptimierung wird zur Pflichtübung für Viele. Der Gesellschaft geht es am besten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen maximiert. Technische Erfindungen erleichtern und verändern unser Leben, wirken sich aber auch auf das Ökosystem und den Planten aus (politisch: (neo-)liberal). „Ich kann alles erreichen!“
Die Ebene des Pluralismus (grün, postmodern): Jeder und alles wird akzeptiert und hat ein Recht darauf, sein „Ding“ zu leben, alles ist gleichwertig. Der einzelne übernimmt größere Verantwortung für sein Tun im Hinblick auf die Umwelt, Randgruppen, die gesamte Menschheit. Konsens geht vor Diskurs, Gefühle sind wichtiger als Rationalität. Die Behauptung, die Erde sei ein Kugel, ist eine klare Diskriminierung aller Planeten, die flach wie eine Pizza sind. Die Moral der Gleichheit ersetzt Nachdenken. Das tut gut. Man erlebt sich als moralisch höher stehend, political correctness wird zu einer Art Religion (politisch: links-grün). „Alle Menschen sind gleich, man muss tolerant sein!“
Die integrale Ebene (gelb): sie hebt sich von den vorgehenden ebenen darin ab, dass in ihr zum ersten Mal alle anderen Ebenen gesehen und verstanden werden können. Jede Ebene ist wichtig und wird nicht von den anderen abgelöst, sondern alle werden integriert und können je nach Sachlage zur Anwendung kommen. Dialog statt Konflikt, ganzheitliches Verständnis Anderer, umfassende Sichtweise auf die Welt und die Menschen. Sie ist gerade erst am Entstehen.
Die „grüne, postmoderne“ Werteebene ist eindeutig die bei Googles Verhaltenskodex vorherrschende Sichtweise. Sie versucht, Minderheiten zu integrieren, Diskriminierung zu vermeiden, Toleranz zu fördern. Diese Weltsicht nahm ihren Anfang in den 68ern und wird heute im Westen von ca. 20-30% der Bevölkerung vertreten.
Der Amerikaner Ken Wilber („Integrale Theorie“) hat sich ausführlich mit dem Phänomen des pluralistischen (postmodernen) Wertesystems beschäftigt und dabei festgestellt, dass es neben all seinen positiven Auswirkungen zwei fatale Verwirrungen hervorbringen kann:
- Der Ausgangspunkt ist die Grundidee „Alle Menschen sind gleich“. Gleich im Sinne des „Menschseins an sich“, der Würde des Menschen oder auch vor dem Gesetz, was niemand in unserem Kulturkreis bezweifeln wird. Doch nun beginnt die Paradoxie. Denn aus dem im korrekten Kontext völlig richtigen Grundsatz „Alle Menschen sind gleich“ wird ein „Es darf keine Unterschiede geben“. Nun zeigt die Realität aber, dass es sehr wohl Unterschiede gibt hinsichtlich Talenten und Fähigkeiten, (Aus)bildung und Beruf, Erfahrung, sozialer Einbindung, Eigentum oder Herkunft u. a. m. Die Idee der postmodernen relativistischen Werteebene ist, dass dies alles auf Grund sozialer Ungerechtigkeiten entstanden ist und dass diese nun beseitigt werden müssen. Auch sämtliche Unterschiede der Geschlechter („Gender“-Bewegung) sind gesellschaftlich bedingt, deshalb ist die Feststellung, es gäbe biologische Unterschiede quasi ein Sakrileg.
- Schwierig wird alles dadurch, dass die eigene Position als moralisch so hochstehend gewertet wird, dass jeder Einwand nur moralisch geringwertiger sein kann und sich deshalb jede Diskussion darüber verbietet. Wer hier differenzieren möchte, dem begegnet das „große postmoderne Paradoxon“: Zwar darf niemand auf Grund von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung etc. diskriminiert werden. Doch zeigt er oder sie eine nicht-postmoderne Haltung endet an dieser Stelle die Toleranz: Während einerseits kulturelle Eigenheiten bis hin zur Kinderehe toleriert werden, wird gleichzeitig eine abweichende Haltung (im Sinne der „Political Correctness“) keinesfalls toleriert. Dieser Widerspruch – der den Verfechtern dieser Wertehaltung meist gar nicht bewusst ist – führt zu einer bedauerlichen Spaltung zwischen den Menschen unterschiedlicher Werteebenen – was z. B. auch in dem politischen Konflikt „rechts – gegen links“ eine große Rolle spielt.
Das Google Manifesto war ein Versuch, dieser Trennung und Sprachlosigkeit zu entkommen. Die Erfahrung des Software-Ingenieurs, bei Google könne man vieles nicht mehr ansprechen, wurde durch die Entlassung postwendend bestätigt. Absurd wird der Fall durch die Tatsache, dass der CEO eines 700 Mrd Dollar Unternehmens deshalb seinen Urlaub unterbricht, um sich persönlich der Sache anzunehmen.
Folgen
Eine der Folgen dieses Vorganges ist eine Spaltung der Google-Mitarbeiter in diejenigen, welche die Entlassung befürworten und andere, die fassungslos den Vorgang beobachten, da ihr Weltbild dies nicht mehr integrieren kann. Eine weitere Folge ist eine Kultur des Misstrauens. Man weiß implizit genau, welche Meinung ausgesprochen werden darf und welche nicht. Mit großer Vorsicht (dem Gegenteil der gewünschten Offenheit und „sozialen Sicherheit“) wird ausgelotet werden, was mit wem diskutiert werden kann, ohne den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden. Bei Einstellungen hat jeder Bewerber, der auf eine Minderheiten-Eigenschaft verweisen kann, automatisch einen Joker.
Für das Unternehmen bedeutet das,
- dass kreatives Potenzial verschüttet wird, da Kreativität Offenheit voraussetzt,
- dass es tatsächlich nicht mehr „die Besten“ (was ein Jahrzehnt Googles Strategie war) Mitarbeiter bekommen wird, sondern diejenigen, die am besten ins Diversity-Schema passen, und
- dass die Lagerbildung unter den Mitarbeitern Googles Kultur – einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren des Unternehmens – nachhaltig schädigen kann.
- Diversity macht nicht dumm – aber der unbedingte Glaube daran, dass nur damit Fortschritt erzeugt werden könnte, der macht dumm, weil er Kluge abschreckt, die nicht zufällig in das gewollte Minderheitenschema passen.
Die Frage für Google ist: Können Feiglinge und Schleimer die Welt neu erfinden, oder steht nicht eigentlich am Anfang jeder Erfindung, dass Fragen gestellt und bestehende Glaubenssystem der Wissenschaft in Frage gestellt werden? In der „Theorie wissenschaftlicher Revolutionen“ hat Thomas Kuhn genau das als Motor der wissenschaftlichen Entwicklung erkannt. Dieser Fortschrittsmotor stottert bei Google, weil ein Verstoß gegen Glaubenssätze direkt auf den Scheiterhaufen führt. In der Öffentlichkeit hat sich das wiederholt. Der Autor des Manifestos wird beschimpft, verleumdet, seine Kompetenz angezweifelt, sein Studienabschluß in Frage gestellt. Kurz: Die Priester der rot-grünen Glaubenslehre vernichten sein öffentliches Leben. Er soll ausgelöscht werden von der Erdoberfläche des Diskurses.
Lösungen
Der wichtigste Schritt, um aus dieser verfahrenen Situation zu entkommen, ist die Aufdeckung und Bewusstmachung der wirkenden Mechanismen. Menschen in den jeweiligen Werteebenen (blau – orange – grün) haben die Eigenschaft, Menschen anderer Werteebene abzulehnen: Was hält ein erfolgsorientiertes (oranges) Unternehmen von einer bürokratischen (blauen) Verwaltung? Oder ein (grüner) Umweltschützer von einem wachstumsorientierten Dax-Konzern?
Eine Gesellschaft kann sich nur weiterentwickeln, wenn sie die positiven Eigenschaften auf jeder Werteebene stärkt und die Auswüchse korrigiert. Ob dies eine lähmende weil überbordende Bürokratie auf „blau“ ist, ein selbstzerstörerischer Wachstumskurs der orangen Weltwirtschaft oder die unter der Toleranzflagge verbreitete Intoleranz auf „grün“.
Wenn alle Beteiligten sehen können, dass sie nur unterschiedliche Sichtweisen auf dieselbe Situation haben, dass diese jeweils ihre Berechtigung haben und dass die Ausgrenzung von Menschen mit anderer Weltsicht ebenfalls eine Diskriminierung darstellt, dann kann konstruktiver Dialog stattfinden.
Mit den Werkzeugen von Clare Graves und der Vier-Perspektiven Methode von Ken Wilber gelingt dies in kurzer Zeit und ein echtes Miteinander kann entstehen.
Und so erfüllen möglicherweise die Thesen des Google Manifestos ihren Zweck weit über die Mauern von Google hinaus. Mit dem Rauswurf eines kritischen Kopfes hat Google seinen eigenen Untergang eingeläutet. Noch wird es eine Zeitlang wegen seiner angehäuften Macht bestehen – aber kluge Köpfe werden weiter ziehen. Bei Google aber wird man sich gegenseitig bestätigen, dass man Recht hat – bis der Letzte das Licht ausmacht, weil es längst woanders brennt. Religion ersetzt den technischen Fortschritt nicht.
Thomas Eisinger ist strategischer Berater, Coach und politisch interessierter Bürger. Zu Themen wie New Work , MetaFokus und Kulturwandel bloggt er hier.