Der Streit mit der Türkei geht in die nächste Runde: Seit Recep Tayyip Erdoğan angekündigt hat, während des G20-Gipfels hierzulande wieder einmal vor seinen Anhängern sprechen zu wollen, sind die Entscheidungsträger in Berlin abermals unter Zugzwang gesetzt; der Konflikt wegen möglichen Auftritten von AKP-Politikern vor dem Referendum im März ist allen Beteiligten wohl noch bestens im Gedächtnis geblieben.
Nun hat der türkische Präsident es nach dem Umbau seines Landes in eine Diktatur geschafft, die deutsche Gesellschaft gegen sich aufzubringen in einer Geschlossenheit, wie es nicht einmal Trump gelungen sein dürfte – angesichts dessen hat sein Beharren darauf, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Deutschland Reden halten zu dürfen, mittlerweile schon den Charakter einer gezielten Provokation.
Seine aggressive und impulsiv erscheinende Außenpolitik täuscht allerdings darüber hinweg, dass Erdoğan auch einen dritten Zweck verfolgt, dass er durchaus eine langfristige Strategie gegenüber Europa im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen hat – diese Strategie mag zwar nur bedingt durchdacht und zielführend sein, aber nichtsdestotrotz ist sie vorhanden: Um sie nachvollziehen zu können, muss man lediglich seine diversen Äußerungen und Positionierungen über die Jahre hinweg in einen Kontext setzen.
Zu Beginn moderat
Zu Beginn seiner Amtszeit war Erdoğan noch relativ moderat aufgetreten, von Ausrutschern und gelegentlicher fordernder Rhetorik einmal abgesehen. Statt durch antiwestliche Brandreden fiel er dadurch auf, dass er sich mit großem Elan daran begab, die vom Militär gelenkte türkische „Leitplanken- Demokratie“ zu liberalisieren, unter der Führung der Zivilisten europatauglich zu machen, und nebenbei auch noch die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Für westliche Beobachter schien Erdoğans AKP wie keine andere Kraft die Möglichkeit der Vereinbarkeit von liberaler Demokratie und politischem Islam (und nicht nur islamischer Kultur) zu verkörpern. Wie man heute weiß, haben die Skeptiker Recht behalten, die hinter der Entmachtung der kemalistischen Generalität ganz andere Motive vermuteten.
Denn seit die türkischen Wähler ihn 2007 mit einem hervorragenden Ergebnis im Amt bestätigt hatten, trat dieser vorsichtige und bedächtige Ministerpräsident schrittweise in den Hintergrund – und das nicht nur im Verhältnis zu Deutschland. Seine 2008 in der Köln-Arena vor 16.000 Anhängern gehaltene und sehr kontrovers aufgenommene Rede war im Vergleich zu seinen später kommenden Attacken vom Tonfall her zwar noch regelrecht gemäßigt, doch auch hier steckte er bereits Claims ab und verpflichtete die Auswanderer auf Türkentum bis in alle Ewigkeit („Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“). Vor allem aber skizzierte er für alle weithin sichtbar, dass er plante, die Auslandstürken nicht nur als AKP-Stimmenreservoir zu nutzen, sondern auch als Transmissionsriemen für türkische Interessen; als Hebel, mit dessen Hilfe er in der deutschen und europäischen Innenpolitik mitregieren konnte. (1)
Neo-osmanischer Nationalchauvinismus
Zwei Jahre später, dieses Mal ohne Kameras, wurde seine Regierung bei einem Dinner mit 1.500 türkischstämmigen Parlamentariern aus allen europäischen Ländern noch deutlicher: „wir müssen die europäische Kultur mit der türkischen impfen“ (2) – ein Gedanke, der unter Erdoğan zur Leitlinie der türkischen Außenpolitik im Verhältnis zu Europa geworden ist. Und während den Querelen im Gefolge des Referendums 2017 beschimpfte er nicht nur jeden als Nazi und Faschisten, der ihm nicht zu Willen war, sondern forderte die Auslandstürken implizit zum gesteigerten Einsatz bei der Landnahme auf und bezeichnete sie als die „Zukunft Europas“ (3) (die 2010 noch hinter verschlossenen Türen geäußerte Idee der Impfung Europas mit dem Türkentum aufgreifend). In denselben Kontext fiel seine offen geäußerte Drohung, dass die Europäer sich in Zukunft nicht mehr sicher auf der Straße bewegen könnten, (4) während sein Außenminister Çavuşoğlu das Schreckgespenst von Religionskriegen an die Wand malte. (5)
Seine Ausfälle und Drohungen geschehen eindeutig zu häufig und zu systematisch, als dass man es sich leisten könnte, sie als reine Rhetorik abzutun. Dieser Fehler wurde schon in der Vergangenheit gemacht, als man seine mittlerweile schon legendäre Äußerung, die Demokratie sei nur eine Straßenbahn, aus der man aussteigt, wenn sie am Ziel ist, gewissermaßen als „Jugendsünde“ abgetan hat – die Erfahrung zeigt, dass Erdoğan gerade seine besonders bedenklichen Äußerungen genauso meint, wie er sie formuliert. Hier bewegt jemand sein Land nicht nur von Europa weg, nein, er positioniert es ganz klar gegen Europa; und gestaltet seine Politik auf lange Sicht in der Tradition des osmanischen Reiches: Vormacht im Islamischen Raum im Süden und Osten, und Ausweitung des Einflussbereichs im Westen.
Instrument Auslandstürken
Vor diesem Hintergrund lässt sich Erdoğans Auslandstürkenpolitik rein rational betrachtet nur auf eine Weise deuten: Es geht ganz gezielt um die dauerhafte Installierung von sich kulturell selbst separierenden Minderheiten, die im jeweiligen Aufenthaltsland zwar volle Bürgerrechte genießen sollen, aber dabei durchaus gleicher sein dürfen als diejenigen, die schon länger dort leben (es wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die eigenen Sensibilitäten im Zweifelsfall den höchsten Stellenwert zu genießen haben). Diese türkischen Communities sollen ihre Präsenz in politischen Einfluss ummünzen, aber gleichzeitig ausschließlich gegenüber dem Herkunftsland loyal sein und in dessen Sinne handeln, sodass niemand mehr an ihnen und damit auch der Türkei vorbei regieren kann – und die im Zweifelsfall bei Bedarf auch zur Destabilisierung dieser Länder dienen könnten, wenn es mal ganz und gar nicht nach dem Willen Erdoğans geht. Und das alles ist nur eine mittelfristige Strategie, die bei hinreichend halbherzigem Widerstand noch zu seinen Lebzeiten aufgehen könnte – und es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie seine langfristige Idealvorstellung aussehen dürfte. Dass Erdoğan seine Politik häufig in den Dienst von unmittelbaren Erwägungen wie der des fortlaufenden Machterhalts stellt, sollte jedenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, dass er auch in sehr weitreichenden Zeiträumen denkt und auch damit leben kann, „nur“ derjenige zu sein, der den Grundstein einer zukünftigen neo-osmanischen Ordnung gelegt hat.
Illusion Deeskalation gescheitert
Die Frage für ist also letztlich nicht nur, ob die Strategie der Deeskalation gescheitert ist – gegenüber jemandem, der Nachgiebigkeit als Schwäche interpretiert, ist das automatisch der Fall – , sondern warum die deutsche Politik so lange die Illusion gepflegt hat (und es teilweise immer noch tut), dass man mit einer Mischung aus einseitigem Entgegenkommen und gutem Zureden das Integrationsprojekt noch retten und damit Erdoğan das Wasser abgraben kann. Das gilt auch und gerade angesichts der Tatsache, dass Zuspruch für viele der bedenklicheren Aspekte seiner Politik in der Türkei keinesfalls auf das AKP-Lager beschränkt sind: Weder seine Fixierung einzig und allein auf die Verwirklichung der türkischen Interessen ohne Rücksicht auf die Prioritäten der jeweiligen Partner, noch seine dauernden Aufforderungen an die türkische Diaspora zur fortwährenden und unverbrüchlichen Loyalität gegenüber dem anatolischen Mutterland, noch die regelmäßigen Versuche, die deutsche Seite durch Nazivorwürfe moralisch zu erpressen, waren Erfindungen des „Reis“. Im Gegenteil, solche Praktiken und Positionen gingen und gehen quer durch das Parteiensystem, kam von Premiers (11) und Präsidenten, Diplomaten (12) und Journalisten (13), und reicht bis in die diversen Vertretungen und Verbände in Deutschland hinein (DiTiB, UETD, TGD, IGMG, ADÜTDF, ATIB etc.) , ob es sich nun um religiöse, politische oder kulturelle, staatliche, parteiliche oder nominell unabhängige Gruppen handelt.
So gebührt das zweifelhafte Privileg, mit dem Plan aufgewartet zu haben, dessen Umsetzung der bundesdeutschen Gesellschaft am effektivsten das Genick gebrochen hätte, nicht etwa den Angehörigen der islamismus- oder faschismusaffinen Parteien, sondern dem säkularen langjährigen Premier und späteren Präsidenten Süleyman Demirel, der 1976 das Vorhaben formulierte, den demografischen Druck der Türkei auf Kosten Deutschlands abzulassen, und zwar durch eine Nettoabwanderung von 15 Millionen Menschen (sic!) bis zum Jahre 2000. (14) Dieses Beispiel nur zur Illustration, die Liste teilweise höchst fragwürdiger Forderungen oder Vorwürfe ist weitaus länger.
Der größte Unterschied ist im Grunde der, dass die langfristige Desintegration unserer Gesellschaft für die einen lediglich einen Kollateralschaden der Erfüllung ihrer Forderungen darstellt, während dieser Effekt für Erdoğan und seinesgleichen durchaus Selbstzweck und Voraussetzung einer Domestikationsstrategie ist. Wenn es allerdings an die reale Umsetzung geht, zieht die erste Gruppe letztlich mit der zweiten mehr oder weniger unbeabsichtigt an einem Strang.
Nun hängt der Erfolg dieser Destabilisierungskampagne natürlich nicht nur von den diversen Lobbyorganisationen ab, sondern auch von der Gemeinde der Türkischstämmigen insgesamt in Deutschland (und hier ist es schwer zu ermitteln, ob die Pro-Erdoğan-Fraktion nur eine signifikante und besonders lautstarke, gut organisierte und effizient mobilisierte Minderheit ist oder aber die Mehrheit stellt) und vor allem von der Willfährigkeit der deutschen Politik. Um dem entgegenzuwirken wäre es angeraten, Erdoğan gegenüber nicht nur standhaft „Nein“ zu sagen, sondern ihn real spüren zu lassen, dass seine die Souveränität anderer Staaten untergrabende Politik nicht ohne Folgen bleibt. Und das sollte man nicht nur aus kurzfristigen Gründen tun, sondern aus langfristigem rationalem Eigeninteresse. Durch Passivität ist jedenfalls niemandem geholfen: Weder denjenigen, die „schon länger hier leben“, noch denen, auf die das vielleicht nicht zutreffen mag, die sich aber aufrichtig zu diesem Staat und seiner Gesellschaft bekennen.
Nicolas Lehnart liest Tichys Einblick.
1 http://www.sueddeutsche.de/politik/erdogan-rede-in-koeln-im-wortlaut-assimilation-ist-ein- verbrechen-gegen-die-menschlichkeit-1.293718
2 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/aufregung-um-treffen-in-istanbul-erdogan-umgarnt- deutsch-tuerkische-politiker-a-681414.html
3 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erdogan-tuerken-in-europa-sollen-mehr-kinder-kriegen- 14930132.html
4 https://www.welt.de/newsticker/news1/article163074395/Erdogan-warnt-Europaeer-Sie-werden- nicht-mehr-sicher-sein.html
5 http://www.focus.de/politik/videos/nach-wahl-in-den-niederlanden-tuerkischer-aussenminister- cavusoglu-warnt-politiker-vor-religionskriegen-in-europa_id_6799465.html
6 http://cicero.de/weltbuehne/tuerkeireferendum-drehbuch-fuer-einen-gewaltfilm
7 https://www.youtube.com/watch?v=LTzT6YgigGY&t=2m7s
8 http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-traeumt-vom-osmanischen-reich-a- 1118342.html
9 http://www.spiegel.de/politik/ausland/streit-ueber-voelkermord-resolutionen-erdogan-droht- armeniern-mit-ausweisung-a-684184.html
10 http://www.fr.de/politik/tuerkei-ausverkauf-des-christlichen-erbes-a-1304372
11 http://www.zeit.de/1998/17/Die_tuerkische_Herausforderung/komplettansicht
12 http://www.faz.net/aktuell/politik/rassistische-aeusserungen-ueber-deutsche-eklat-um- tuerkischen-generalkonsul-1798895.html;
13 https://www.welt.de/print-welt/article202389/Meinungsfuehrend-Welches-Deutschlandbild-die- tuerkischen-Medien-verbreiten.html; http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkische-medien-in- deutschland-unfaire-berichterstattung-1230872.html
14 https://books.google.de/books? id=ZZU2DAAAQBAJ&pg=PT172&lpg=PT172&dq=helmut+schmidt+s %C3%BCleyman+demirel&source=bl&ots=DTL3RqyD2Q&sig=X_OGasGXRJ0NbCz_d9l7eNBF w5E&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwii1Oio6ZPUAhXKDsAKHTNsBiAQ6AEISzAG#v=onepage& q=helmut%20schmidt%20s%C3%BCleyman%20demirel&f=false
15 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/mulitkulti-ist-gescheitert-anpassung- ist-das-gebot-15055787.html