Douglas Murray ist erst 38 Jahre alt, doch schon ein Schwergewicht des britischen politisch-intellektuellen Lebens. Der Mitherausgeber und Autor des Wochenmagazins The Spectator und Kolumnist des liberal-konservativen Monatsmagazins Standpoint ist eine unüberhörbare Stimme in den öffentlichen Debatten des Vereinigten Königreichs, ein klassisch hoch gebildeter öffentlicher Intellektueller, wie man ihn in Europa nur noch selten findet.
Vor einigen Monaten hat Murray ein Buch mit dem Titel „The Strange Death of Europe“ – „Der seltsame Tod Europas“ veröffentlicht, das in den angelsächsischen Ländern seither intensiv diskutiert wird. „Europa begeht Selbstmord. Oder zumindest haben sich die politischen Führer für den Selbstmord entschieden. Ob die Bürger Europas diesen Weg gehen wollen, ist freilich eine andere Frage.“ So beginnt das Buch, das einige seiner Kritiker als überzogen pessimistisch bezeichneten. Doch die Behauptung ist unzutreffend. Der Blick des Autors auf Europa ist vielmehr realistisch ohne Übertreibungen und Drohungen.
Kultureller Selbstmord
Das Buch enthält eine akribisch genau recherchierte Übersicht über die islamische und afrikanische Einwanderung nach Europa, vor allem in das Vereinigte Königreich, ihre Anfänge, Entwicklungen, gesellschaftlichen Folgen über mehrere Jahrzehnte und schließlich ihre Einmündung im alltäglich werdenden Terrorismus. Fast wichtiger jedoch als die mit Zahlen und Tatsachen vollgepackten Kapitel über die bisherige Geschichte der Einwanderung sind jene, in denen Murray der Frage nachgeht, warum all das geschehen ist, warum europäische Regierungen sehenden Auges einen Prozess angestoßen haben, den ihre jeweiligen Bevölkerungen mit jedem Jahr stärker ablehnten und den sie inzwischen längst nicht mehr im Griff haben.
Auch wenn man zur Geschichte der islamischen und afrikanischen Einwanderung viele Fakten kennt, ist die Sicht Murrays auf das Thema insofern neu, als er nicht mit dem Jahr 2015, dem Zeitpunkt beginnt, als Frau Merkel die Welt nach Westeuropa einlud, sondern mit dem Ende der 50er Jahre, als man in Großbritannien anfing, Arbeitskräfte aus dem Commonwealth zu rekrutieren und in Westdeutschland, den Niederlanden, Dänemark und anderen Ländern Westeuropas die ersten „Gastarbeiter“ aufgenommen wurden.
Warum war keine Regierung und keine alt eingesessene Partei (mit Ausnahme der wenigen als rechtsradikal gebrandmarkten Parteien) bereit, das Problem anzugehen? Warum wurden stattdessen die Kritiker bekämpft? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Möglicherweise hielten die politischen Eliten Gegenmaßnahmen schon damals nicht für möglich. Vielleicht ahnten sie auch, dass sie leichter mit ihren friedlichen, schwach gewordenen Bevölkerungen fertig werden würden als mit den rohen, kämpferischen Massen der Migranten. Mit Sicherheit ging es ihnen um den Erhalt der eigenen Macht. Zwar waren die Folgen der grenzenlosen Einwanderung schon damals sichtbar und vorhersehbar, aber die richtig großen Konflikte lagen noch in ferner Zukunft. Die Folgen eigener Taten zukünftigen Regierungen und Generationen zuzuschieben, gehörte damals schon zum politischen Handwerk. Aber es gehörte auch eine Vision und das arrogante Bewusstsein von der Machbarkeit von allem dazu. Die Vorstellung von einem neuen Menschen – der dem Ideal der Kommunisten sehr nahe kommt – losgelöst von seiner Geschichte und seinen gewachsenen Bindungen, gehört zum Projekt „neues Europa“. Dieses neue Europa müssten wir uns wie die Vereinten Nationen vorstellen, schreibt Murray. Menschen aller Länder würden dort leben, doch zu Hause wäre keiner mehr.
Politische Selbstaufgabe
Es ist erschreckend, all die Zitate von politischen Führern zu lesen, die von ihrer Selbstverachtung, der Verachtung und Verdammung der eigenen Geschichte, der Kultur, der Sitten des eigenen Landes zeugen. In ihren Augen kann Europa gar nichts Besseres passieren, als von neuen, kräftigeren überrannt zu werden. „Die Europäer sind überzeugt, eine spezifische historische Sünde begangen zu haben, die nicht nur Kriege, den Holocaust sondern auch viele andere vorangegangene Sünden wie Kolonialismus und Rassismus beinhaltet.“ Jedes westeuropäische Land hat seine eigene Schuld auf sich geladen, von der es keine Erlösung gibt – außer durch den neuen Multikulturalismus, das heißt, durch die nationale Selbstauslöschung. Unter diesen Umständen verliert der Begriff Integration jedwede Bedeutung.
Damit ist Murray beim wichtigsten Argument seines Buches angelangt. Ohne die Erschöpfung Europas, die entstanden ist durch „den Verlust von Sinnhaftigkeit, von dem Gefühl, dass wir kein kulturelles Kapital mehr akkumulieren, sondern es nur noch verzehren“, wäre nicht jenes Vakuum an Ideen, Überzeugungen und Leidenschaften entstanden, das nun von den Ideen der Beliebigkeit und mit ihnen von der islamischen Ideologie der neuen Eroberer ausgefüllt wird. Denn dass es sich hierbei um eine Eroberung im physischen und geistigen Sinne handelt, daran lässt Murray keinen Zweifel.
Dieser Befund erinnert nicht zufällig an jenen „ennui“, den Künstler wie Thomas Mann, Robert Musil und andere vor dem ersten Weltkrieg empfanden. Es überwiegt „the feeling that the story has run out“, schreibt Murray, es dominiert das Gefühl, dass sich die Geschichte Europas leergelaufen hat, dass sie möglicherweise verdient hat, unterzugehen. Wenn keine Überzeugungen mehr übrig bleiben, akzeptiert man auch, dass unsere Werte keineswegs universell gelten. „Wenn die Entwicklung hin zu Vernunft und Rationalität, die in Europa seit dem siebzehnten Jahrhundert stattgefunden hat, nicht eine Errungenschaft der ganzen Menschheit ist, dann ist dies kein universell gültiges System, sondern nur eines wie jedes andere auch. Und das bedeutet nicht nur, dass dieses System keineswegs unbedingt siegreich sein muss, sondern auch, dass es hinweggefegt werden kann wie so viele andere im Laufe der Geschichte.“
Die Verantwortung dafür, was geschieht, hört damit freilich nicht auf. „Eine Kultur und eine Gesellschaft sind nicht nur zum Vergnügen der Menschen da, die gerade leben. Es besteht ein tiefer Pakt zwischen den Toten, den Lebenden und jenen, die noch geboren werden. Egal, wie sehr man die Vorteile billiger Arbeitskräfte, exotischer Küche oder des eigenen guten Gewissens genießen will, man hat nicht das Recht dazu, eine ganze Gesellschaft dafür zu zerstören. … Es kann nicht sein, dass der nächsten Generation eine Gesellschaft übergeben wird, die chaotisch und zersplittert ist und bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde.“
Vorschläge zur praktischen Politik findet man bei Murray nicht – schließlich liegen sie auf der Hand. Den Glauben an sich und an den eigenen Werten kann den Europäern niemand wiedergeben. Murray hat wenig Hoffnung, dass die politischen Eliten Europas willens und imstande sein würden, eine Richtungsänderung herbeizuführen. „Tag für Tag ändert sich der europäische Kontinent und so schwindet bald jede Möglichkeit für eine sanfte Landung“, schreibt er zum Schluss.
Piroska Farkas ist freie Publizistin.
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