Fünfundsiebzig Tage vor der Wahl steht ein Sieger schon fest: Die FDP hat mit Christian Lindner den „coolsten“ Spitzenkandidaten. Sollte seine Partei an der 5-Prozent-Hürde scheitern (was nicht wahrscheinlich ist) und er mit der Politik Schluss machen, dann kann er die neuen FDP-Plakate in seine Bewerbungsmappe als Modell legen. Dunkler, maßgeschneiderter Anzug, offenes Slimfit-Hemd, Acht-Tage-Bart: So schaut er die Wähler an – der James Dean der Freien Demokraten. Fotografiert von Olaf Heine, der sonst Popstars und Schauspieler wie die Rocksänger Bono und Iggy Pop oder die Band Rammstein in Szene setzt.
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Seit ihrem Desaster bei der Bundestagwahl 2013 hat Lindner, Ex-Generalsekretär von Guido Westerwelle und Philipp Rösler, die Partei mehr oder weniger im Alleingang wieder aufgebaut – eine Herkules-Aufgabe. Seitdem hängt der FDP der Ruf einer One-Man-Show an. Dagegen hat Lindner, sich seiner telegenen Ausstrahlung wohl bewusst, nur halbherzig angekämpft. Jetzt macht er aus der personellen Not eine werbliche Tugend. Auf ihren Großflächenplakaten zeigt die FDP nur einen: IHN, den Stimmenfänger, den Erlöser – Christian Lindner. Wenn schon eine Ein-Mann-Partei, dann aber auch eine richtige.
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Die neue FDP will mit der alten nichts mehr zu tun haben. Was man verstehen kann. „Neu“ ist deshalb das neue Schlüsselwort. „Denken wir neu“ lautet der zentrale Slogan der Kampagne. Die Kampagne sei getragen „von Optimismus, von Gestaltungsfreude, von Selbstironie“, sagte Lindner bei der Vorstellung der Plakate.
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Wer sich so hip und so cool gibt, der operiert auch mit den entsprechenden Sprüchen: „Manchmal muss ein ganzes Land vom 10er springen“ lautet ein Slogan. Nun gut, der Sprung vom 10-Meter-Brett galt bei Teenagern schon als Mutprobe, als diese noch Halbstarke genannt wurden. Jetzt will Lindner das ganze Land aus luftigen Höhen herunterspringen sehen. Nur was erwartet die Springenden dort? Im Zweifelsfall kaltes oder lauwarmes Wasser. Ist es wirklich so erstrebenswert, für all den Mut mit einem lauen Bad belohnt zu werden?
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Nun gut, die Werbestrategen werden sich etwas dabei gedacht haben; aber sehr politisch haben sie nicht gedacht. Denn von Angela Merkel ist bekannt, dass sie als Schülerin vor dem Sprung vom 3-Meter-Brett schon große Angst hatte. Eine ganze Schulstunde lang hatte sie sich auf dem Sprungturm herumgedrückt. Erst in letzter Minute ließ sie sich todesmutig ins Wasser fallen. Ob eine ängstliche 3-Meter-Springerin und ein vor Kraft strotzender 10-Meter-Mann jemals ein Paar werden können?
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Christian Lindner und die FDP werden im Wahlkampf, wie schon in Nordrhein-Westfalen, das Gespenst einer neuen Großen Koalition beschwören. Gleichwohl kann es ihnen passieren, dass sie nach dem 24. September – siehe Düsseldorf – als Koalitionspartner gebraucht werden: von der CDU/CSU für Schwarz-Gelb beziehungsweise „Jamaika“ oder von der SPD für eine „Ampel“. Da könnte sich nachteilig erweisen, dass in der künftigen FDP-Bundestagsfraktion niemand sitzen wird, der schon einmal einer Bundesregierung angehört hat, der also weiß, wie’s geht. Aber darauf würde Superman Lindner mit zwei Worten antworten: „German Mut“.
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Wahlkampfweisheit zum Tage: Wem der Herrgott gibt ein Amt, dem gibt er meistens auch Verstand – meistens, nicht immer!
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Hugo Müller-Voggs Countdown zur Wahl erscheint immer dann, wenn sich an der Wahlkampffront Interessantes tut.