Tichys Einblick
Morgenstund' hat Gewissen im Mund

Bundestagsabgeordnete sind nicht mit dem Parlament verheiratet

Die SPD dürfte wohl im Ältestenrat darauf gedrängt haben, über den Punkt „Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ so frühmorgens abstimmen zu lassen, weil die Gewissensträger sonst schon auf dem Weg ins Wochenende sind.

© Axel Schmidt/AFP/Getty Images

Morgen fällt die Entscheidung. Es geht um dieses desaströs konstruierte, dieses nachgebesserte, dieses möglicherweise immer noch verfassungsgerichtsrelevante „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“. Das Parlament debattiert. Und die Aufmerksamkeit ist ihm ausnahmsweise einmal gewiss. Zu unangenehm? Hat man deshalb im Ältestenrat den so medienwirksamen Zusatzpunkt „Ehe für Alle“ kurzerhand noch vorgequetscht, um vom deutlich relevanteren Tagesordnungspunkt abzulenken, die Abgeordneten zu sedieren mit dem Fokus letztlich auf das Adoptionsrecht für Homosexuelle? Schauen wir mal. Rufen wir mal an in Berlin. Sind wir mal unbequem.

Der Kommentar eines Lesers befasste sich mit der Frage, wie es denn sein könne, dass morgen, am 30.06.2017, die Tagesordnung zur 244. Sitzung des Deutschen Bundestages um dem Punkt ZP11 (Zusatzpunkt) „Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ aktualisiert wurde.

Nicht etwa anschließend an bereits in der Tagesordnung festgelegte Punkte, sondern gleich an erste Stelle, noch dazu vor dem so wichtigen Tagesordnungspunkt „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“.

Unser Leser nennt das einen gelungenen „Aufmerksamkeits-Coup“, um die Beratung des NetzDG in einer Art Ablenkungsmanöver in den Hintergrund zu drängen. Dem wollen wir nachgehen. Handelt es sich hier wirklich um ein „WAG-THE-DOG-Prinzip“, wie vom Leser behauptet? Oder doch alles erklärbar jenseits aller Mutmaßungen?

Die Tagesordnungen im Bundestag sind detailliert für jeden einlesbar. Transparenz also im Digitalen als moderne demokratische Errungenschaft.

Nun fragt man sich zunächst, wer diese Tagesordnungen eigentlich festlegt, daraus würde sich dann ja ableiten lassen, wer den Beratungspunkt „Ehe für Alle“ vor den um das „NetzDG“ gequetscht hat. Zuständig sei der Ältestenrat, weiß die Pressestelle des Bundestages und verweist dann an die Fraktionen, die ihre „Ältesten“ in diesen Rat entsenden. Besprochen und beschlossen wurde die Tagesordnung am Dienstagnachmittag. In der Sitzung am Donnerstag wird nun entschieden, ob die „Ehe für Alle“ als Zusatzpunkt angenommen wird. Eine reine Formalie.

Also rasch die Fraktionen durchtelefoniert, wer da im Ältestenrat saß und erklären kann, wie diese Drängelei vor dem Punkt „NetzDG“ zustande kommen konnte. Erreichbar sind sie alle. Ohne lange Wartezeiten. Interessant sind hier die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen (bis zu sechs pro Fraktion), die quasi als Manager des Alltagsgeschäftes im Parlament fungieren. Hier erfährt man dann, dass man sich keine Sorgen machen müsse, dass etwa nach der „Ehe für alle“ die Konzentration sinke. Die sogenannten fachlichen Abgeordneten hätten sowieso Präsenzpflicht, nicht alle würden also zum zweiten Frühstück verschwinden, nachdem die „Ehe für alle“ abgestimmt ist. Das erklärt vielleicht die manchmal desaströs niedrig besetzten Abgeordnetenbänke: Da sitzen nur noch die, die müssen.

Nun ist das bei der „Ehe für alle“ anders. Da wird abgestimmt. Und da kommt es auf jede Stimme an. Eine politische Stimme weiß es am Telefon genauer, deklariert das Gesagte aber ausdrücklich als nicht zitierbare Mutmaßung: Die SPD wird wohl im Ältestenrat darauf gedrängt haben, den Punkt „Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ an eine so frühe Stelle zu setzen. Sie war wohl die treibende Kraft als Partner der großen Koalition. Die Begründung hätte aber nichts mit einer Aufweichung der Debatte um die des „NetzDG“ zu tun, es ginge hier schlicht darum, zu verhindern, dass zu einem späteren Termin in der Tagesordnung nicht mehr genügend Abgeordnete für eine erfolgreiche Abstimmung der „Ehe für Alle“ bereit ständen, weil schon nach Hause gefahren.

Klar, so eine überraschende Abstimmung nach Gewissenentscheid bürgt etliche Unbekannte. Da will man offensichtlich zu so einem medienwirksamen Thema keine Überraschungen erleben. Und natürlich bleibt es auch spekulativ, anzunehmen, die Abgeordneten würden zum nun verschobenen Punkt „NetzDG“ bereits im Dämmerschlaf verharren.

Aus dem Büro der Partei Die Linke erreicht uns dann noch folgende Email: „Frau Dr. Sitte beantwortet Ihre Frage wie folgt: Der Beginn des Plenums ist regulär 9 Uhr. Dieser wurde am Freitag wegen des zusätzlich aufgesetzten TOP´s „Ehe für alle“ auf 8 Uhr gelegt. Der TOP Netzwerkdurchsetzungsgesetz blieb dadurch zeitlich (fast) unberührt.“

Gut, immerhin betrachtet man den Tagesordnungspunkt „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ noch als TOP.  Inwieweit das für alle Fraktionen gilt, sei hier mal dahingestellt. Die Maas-SPD jedenfalls hat ihren TOP anders gesetzt: Die „Ehe für Alle“ ist maximal Wahlkampf-kompatibel, damit hat man dem Kanzlerinnen-Vorstoß beim Brigitte-Stammtisch einen ausgewischt, das „NetzDG“ der großen Koalition taugt dafür nicht. Hier ist man sich ja untereinander weitestgehend einig.

Halten wir fest: Die Mutmaßungen unseres Lesers sind also nicht belegbar, dennoch sagt dieser Vorgang viel aus über Strukturen, Bürokratien und Abläufe von Demokratie, die so wenig Ähnlichkeit haben mit gelebter Demokratie, mit Gewissen, mit Anstand und Verantwortung. In jeder kleinen Stadtverwaltung wird es ähnlich zugehen. Wenn der Bürgermeister zum Meeting ruft, wird zunächst mal missmutig die Kaffeetafel aufgelöst, der Löffel fällt und man muss antreten. Blöd.

Die mobile Version verlassen