Katastrophen kommen eigentlich überfallartig, überraschend, unerwartet. Das Desaster um Griechenland hingegen erleben wir in Zeitlupe und jeweils mit Ansage. Und dennoch lassen wir es geschehen. Warum eigentlich? Was passiert da gerade in Europa, dass so grundlegend an Grundfesten wie Partnerschaft, Respekt und in Ansätzen auch europäischer Solidarität gerührt werden kann?
Als deutscher Grieche oder griechischer Deutscher erlebe ich das Drama aus zwei Perspektiven. Das macht meinen Schmerz nicht unbedingt erträglicher, zumindest kann ich ihn mit zahlreichen „Deutsch-Griechen“ teilen. Viele Pauschalurteile der deutschen Öffentlichkeit haben uns seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise wütend gemacht. Die Dysfunktionalität des griechischen Staates und die krankhafte Nabelorientierung des politischen Mikrokosmos Athen machen uns rasend. Das peinliche Irrlichtern der letzten fünf Monate macht uns fassungslos. Wir fühlen uns als europäische Patrioten verraten in unserem Glauben an das gemeinsame Haus Europa.
Die EU hat die griechische Oligarchokratie rechtsstaatlich nicht gefordert
Insbesondere die erratische Ankündigung von Alexis Tsipras, ein Referendum durchzuführen, trifft uns tief ins Mark. Am Ort der Wiege der Demokratie wird die Volksbefragung missbraucht, um eine gescheiterte Politik mit demokratischem Ornament zu übertünchen. Es handelt sich gleichsam um den Versuch, die eigenen Bürger zu missbrauchen für den Ausbau der Machtbasis einer kleinen Clique, die Europa größtenteils nur vom Hörensagen kennt. Dabei wird unter dem Vorwand der demokratischen Teilhabe nahezu Volksverhetzung betrieben durch eine Regierung, die alle Missbrauchsmöglichkeiten der Macht schamlos ausschöpft:
Der Präsident des Obersten Gerichtshofes wurde nach Ankündigung des Referendums ausgetauscht, die Zeit zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit einer grundlegenden Zukunftsfrage wurde auf gut eine Woche begrenzt in einer Phase höchster nationaler Anspannung, die Fragestellung ist denkbar kompliziert und nicht einmal für Experten verständlich. Die Abstimmung verstößt deutlich und mehrfach gegen die Vorgaben des Europarates für Volksbefragungen, was aber die griechische Regierung nicht anficht.
Wie konnte es so weit kommen? Kann es sein, dass wir nicht genau hingeschaut haben, wenn es um die Verwendung der EU-Mittel in Südosteuropa ging? Dass die EU eine offensichtliche „Oligarchokratie“ nie auf rechtsstaatliche Grundsätze untersucht hat? Fest steht, dass das Ausmaß griechischer Sonderlichkeiten für viele Nicht-Griechen nicht einmal im Ansatz erfassbar ist. Ja klar, da empört man sich zu Recht über die Steuermoral der griechischen Reeder, die das Land schon längst hätten retten können, wenn sie sich wie ehrbare Kaufleute verhalten hätten. Aber man belässt es beim Stereotyp und der öffentlichen Empörung über das nicht existente Kataster. De facto unternimmt man aber nicht wirklich etwas, sondern lässt sich trotz fünf Jahren Dauerkrise weiterhin von griechischer Raffinesse auf der Nase herumtanzen. Mal abgesehen von der Duldung des steuerflüchtigen Kapitals, das in der größten Geldwaschanlage Europas – laut Bundeskriminalamt ist das Deutschland – gerne in Einkaufszentren und Wohnungskomplexen akzeptiert wurde.
Die EU muss die Strukturen vorne an setzen
Wie wäre es denn, wenn man die Gesetze, die Griechenland z.B. zur Steuerpflichtigkeit von Reedern auf Druck der Troika erlässt, auch in ihrer tatsächlichen Umsetzung prüft? Das griechische Recht kennt zig „Fensterchen“ genannte Ausnahmegenehmigungen, die die konkrete Anwendung des verabschiedeten Gesetzes verhindern. Wie wäre es denn, wenn man griechische Juristen, die sich damit auskennen, einmal befragt seitens der EU? Alles bereits geschehen? Nicht wirklich, wie die Realität tagtäglich beweist. Und wenn, dann waren es mit dem System verbandelte Juristen, und keine unabhängigen.
Beginnen könnte man ja mit der scharfkantigen Trennung der Tätigkeit von Reedern als Reeder, die tatsächlich laut Verfassung steuerfrei ist und wohl auch bleibt, und den Wirtschaftsaktivitäten der Reeder außerhalb des Schiffbaues und der Schifffahrt. Hier liegt der Hase doch im Pfeffer, hier werden die normalen Aktivitäten versteckt und das ist im EU-Vergleich ein Unding, weil es genau die Situation heraufbeschwört, die wir gerade so beklagen. Die EU hat so getan, als habe sie mit der Troika jede Briefklammer in den Ministerien geprüft. Die wahren Probleme hat sie nicht im Ansatz verstanden. Zum Leidwesen der griechischen Bürger und auch zum Leidwesen Europas.
Es ist vieles faul im „Staate Europa“, der die zum Himmel schreienden Mißstände weglächelt und aussitzt, und zwar nicht nur in Griechenland. Als allein verantwortlicher Berichterstatter der zuständigen Entlastungsbehörde aller EU-Ausgaben für 2009 weiß ich, wovon ich rede. Es war eine Ehre, für das Europäische Parlament diese Funktion ein Jahr lang wahrzunehmen. Die zu entlastende Kommission hat es mir aber nicht leicht gemacht, den Mitgliedstaaten auf den Zahn zu fühlen.
Der Präsident verwies auf die mangelnde Kooperation der Mitgliedstaaten. Die schoben es wiederum auf die nachgeordneten Behörden. In einem System organisierter Unverantwortlichkeit wollte niemand per Unterschrift die Verantwortung für die zum Teil kriminellen Machenschaften übernehmen. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn einige besonders schlitzohrige Politsysteme diese offene Flanke gnadenlos ausnutzen. Die sogenannten PIGS-Staaten sind allesamt gut dabei. Griechenland hat pro Kopf am meisten auf dem Kerbholz. Ein eingespieltes System, das sich auch durch die Krise nicht erschüttern ließ.
Fazit: Griechenland ist ein großes Sorgenkind, das ist nicht zu übersehen. Aber es wurde durch mangelnde Kontrolle geradezu eingeladen, sich entsprechend zu verhalten. Dass Finanzminister Varoufakis jetzt auf dem Höhepunkt der Krise das volle Programm seiner Spieltheorie im Kampf mit den Gläubigern austestet und diese bislang am Nasenring durch die Manege zog, setzt dem Ganzen die Krone auf und macht deutlich, wie schwach die EU letztendlich aufgestellt ist.
Varoufakis hat sich jetzt zwar den Unmut vieler Ministerkollegen in der griechischen Regierung zugezogen. Doch das kann ihm egal sein: Für die Vorlesungen, in denen er seine spieltheoretischen Experimente in der europäischen Praxis an Universitäten ausbreiten wird, kann er demnächst mehr als 30.000 Euro pro Stunde erwarten. Für ihn hat sich das Abenteuer Regierung jetzt schon gelohnt. Die EU und insbesondere die Eurozone hingegen werden noch lange an den Folgen ihrer Experimente laborieren.
Jorgo Chatzimarkakis saß von 2004 bis 2014 für die FDP im Europaparlament und ist Präsident der Deutsch-Hellenischen Wirtschaftsvereinigung DHW.