Tichys Einblick
Politthermometer Ö

Kurz gegen Kern oder Austria felix

Die Dinge erzwingen Änderungen, nicht Politiker. Sie können sich an die Spitze des Vernünftigen setzen oder unter die Räder des Notwendigen geraten. Sebastian Kurz scheint mir das erste zu wählen, Macron das zweite.

Zuerst überwarfen sich die österreichischen Grünen mit ihrer Jugendorganisation. Nun wollen die Jungen Grünen zusammen mit der KPÖ zur Nationalratswahl im Oktober antreten. Es brodelt also nicht nur bei den Grünen in Deutschland. Es rumort praktisch in allen schon lange, weniger lange oder nocht nicht etablierten Parteien. Das politische Organisations- und Kommunikationsgefäß Parteien ist so lange zum Brunnen gegangen, bis es angefangen hat zu brechen.

Zeitenwende
Macron, Kurz und Co. – die neuen Napoleoniden?
Emmanuel Macron und Sebastian Kurz haben eines gemeinsam. Personen, denen der Ruf vorauseilt, an den eingerosteten Zuständen der in ihren Privilegien eingeschlafenen Politik etwas grundlegend ändern zu wollen, können aus dem Stand erstaunliche Wählerbewegungen bewirken. Christian Kern, SPÖ, profitierte von diesem Effekt bei seinem Antritt und er hat ihn noch nicht ganz verloren. Macron hatte und hat (noch) fast die versammelten französischen Medien hinter sich. Kurz kann nur auf die eine Hälfte der österreichischen Medien zählen. Aber die entscheidende Aufmerksamkeit verschafft ihm auch (oder noch mehr?) die andere Hälfte, die gegen ihn schreibt und sendet.

Das demoskopische Bild spiegelt das deutlich wieder. Dass damit über das Ergebnis im Oktober nichts annähernd Zuverlässiges gesagt ist, versteht sich. Das galt aber auch für die Umfragewerte vor dem Beginn der Kampagne Kurz, der sich anschickt, die ÖVP zu seiner Hilfsorganisation zu machen. Der – wie Macron – parteilose Personen auf seiner Liste für die Nationalratswahl kandidieren lässt und sich dabei überall umschaut. Hatten die drei ganz alten Parteien lange etwa gleich stark ausgesehen, hat sich nun eine erkennbare Rangfolge gebildet.

Der politische Wettbewerb, Wahlkampf genannt, ist längst fast ausschließlich erst einer um die Anteile an der öffentlichen Berichterstattung und dann um die transportierten Botschaften. Selbst eine Schlagzeile wie die auf nachrichten.at tut ihre Wirkung: „Kern und Strache tanken Kraft am Meer, Kurz in den Bergen“. Kurz trifft umkämpfte Wähler, Kern und Strache ihre sicheren Stammwähler.

Die Ergebnisse auf die fiktive Frage nach der direkten Kanzlerwahl erklärt die Parteienziffern davor, nicht umgekehrt. Ich vermute, die Umfrageinstitute wissen gar nicht, was sie mit dieser fiktiven Frage, die sie inwischen alle in D wie Ö seit vielen Jahren stellen, tun. Etwas, das ich sehr begrüße. Sie machen Werbung für die direkte Wahl von Regierungschefs durch das Volk.

Die Ergebnisse der Grünen und der neos zeigen das umgekehrte Bild, die Parteien tragen ihre Vorleute, nicht die Vorleute die Partei. Der niedrige Wert der neos spiegelt die anziehende Wirkung von Kurz auf ihre Klientel. Nicht zufällig kommt Matthias Strolz selbst ursprünglich aus der ÖVP. Auch hier ähnelt das Bild in Ö dem in D. Die aktuell besseren Ziffern für die FDP können sich schnell ändern.

Politics und Policy
Leserkommentare: Welche Politik? (1)
Mir geht es auch weniger um die Ergebnisse am 24. September und 15. Oktober, sondern um die längerfristigen Trends. Meine Nase sagt mir, der letzte Teil der Wegstrecke der politischen Organisationsform Parteien hat begonnen, später, als ich vor 20 Jahren dachte, aber eben doch. Was sich an ihre Stelle setzen wird? Direkte Wahlen von Personen auf allen Ebenen und Volksabstimmungen über politische Weichenstellungen – durch Abstimmungen vorher und nachher durch Abstimmungen, in denen Entscheidungen von Parlamenten kassiert oder korrigiert werden: Das ganze begleitet von radikaler Dezentralisierung aller Bereiche, bei denen die jeweils kleinere Einheit die höhere Kompetenz der Nähe und Möglichkeiten zum Thema hat als die größere oder umgekehrt. Föderalisierung bedeutet nicht Bund und Länder und Gemeinden, wobei dort bisher nicht nur die Gemeinden immer größer wurden, sondern ihre Abhängigkeit von Land und Bund riesengroß. Zeitenwende ist angesagt.

Die Probleme such sich ihre Löser, nicht umgekehrt. Die Dinge erzwingen Änderungen, nicht Politiker. Sie können sich an die Spitze des Vernünftigen setzen oder unter die Räder des Notwendigen geraten. Sebastian Kurz scheint mir das erste zu wählen, Macron das zweite.

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