Tichys Einblick
Doppelte Blockade

Status-quo-Panik und Veränderungs-Panik

Das gegenseitige Aufschaukeln der etablierten und noch nicht-etablierten Staatsgläubigen verstärkt die Polarisierung durch Problemverschleppung. Dieses Muster kann in unterschiedlichen Ausprägungen in vielen westlichen Ländern beobachtet werden. Von Norbert F. Tofall

TAORMINA, ITALY - MAY 26: G7 leaders European Council President Donald Tusk, British Prime Minister Theresa May, U.S. President Donald Trump, German Chancellor Angela Merkel, Japanese Prime Minister Shinzo Abe, Canadian Prime Minister Justin Trudeau, French President Emmanuel Macron, European Commission President Jean-Claude Juncker and Italian Prime Minister Paolo Gentiloni pose for a family photo as they attend a flypast at San Domenico Palace Hotel on May 26, 2017 in Taormina , Italy. US President Donald Trump and British Prime Minister Theresa May attend a G7 summit for the first time since their elections. Also new to the table is French President Emmanuel Macron. China have been invited to a meeting during the summit for the first time.

© Dan Kitwood/Getty Images

Die Status-quo-Panik der Eliten und die von ihnen verhinderten schöpferischen Zerstörungen scheinen in Teilen der Bevölkerungen in Veränderungs-Panik umgeschlagen zu sein.

Das gegenseitige Aufschaukeln der etablierten und noch nicht-etablierten Staatsgläubigen führt jedoch nicht zu notwendigen Problemlösungen, sondern verstärkt die Polarisierung durch Problemverschleppung. Dieses Muster kann in unterschiedlichen Ausprägungen in vielen westlichen Ländern beobachtet werden.

Die Finanzkrise von 2007/2008 hat bei den etablierten Entscheidungsträgern eine Status-quo-Panik ausgelöst. Anpassungsrezessionen sollten um jeden Preis verhindert werden. Aus den daraus folgenden wirtschaftspolitischen Problemverschleppungen sind gesellschaftliche Polarisierungen entstanden, die bei großen Bevölkerungsteilen den Wunsch nach Veränderung um jeden Preis ausgelöst haben. Die Status-quo-Panik der Eliten und die von ihnen verhinderten schöpferischen Zerstörungen scheinen in Teilen der Bevölkerungen in Veränderungs-Panik umgeschlagen zu sein. Doch führt Veränderungs-Panik zu notwendigen schöpferischen Zerstörungen? Führt der heutige Wunsch nach Veränderung um jeden Preis zur Renaissance von marktwirtschaftlichen und wettbewerblichen Lösungen?

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Das Gegenteil ist leider der Fall. Marktwirtschaft, Wettbewerb und liberaler Rechtsstaat scheinen fast überall unter die Räder zu kommen. Aus dem staatlichen Politikversagen wird nicht die Zurückdrängung des Staates abgeleitet, sondern ein noch viel stärkerer, protektionistischerer, teilweise sogar autoritärer Staat. Die Staatsfixierung der etablierten und heute vielfach geschmähten Eliten soll offenbar durch die Staatsfixierung ihrer Kritiker überboten werden. Die angeblich rot-grün oder sonst wie irregeleiteten Eliten müssten nur durch die angeblich integeren, Mut zur Wahrheit habenden und angeblich die schweigende Mehrheit des Volkes vertretenden Kritiker des Establishments ersetzt werden, und alles wird gut. Dass diese Rechnung nicht aufgeht, kann nicht nur in den USA seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump am 20. Januar 2017 beobachtet werden. Das gegenseitige Aufschaukeln der etablierten und noch nicht-etablierten Staatsgläubigen führt nicht zu den notwendigen und bisher verschleppten Problemlösungen, sondern zur Verstetigung von Politikblockaden und verstärkt so die Polarisierung durch Problemverschleppung.

Dieses Muster kann in unterschiedlichen Ausprägungen in vielen westlichen Ländern beobachtet werden. In den USA hat sich innerhalb der Republikanischen Partei kein konsequenter Vertreter von Marktwirtschaft, Wettbewerb und liberalen Rechtsstaat als Präsidentschaftskandidat durchsetzen können, sondern Donald Trump.

In Italien leiden die Menschen seit Jahrzehnten an einem dysfunktionalen politischen und wirtschaftlichen System, eine konsequent auf Marktwirtschaft, Wettbewerb und liberalen Rechtsstaat ausgerichtete politische Bewegung existiert jedoch nicht und ist selbst durch die Überschuldungskrise von Staaten und Banken nicht gewachsen. Die Anti-Establishment-Partei „Fünf Sterne“ ist genauso etatistisch wie das Establishment und in ihrem Wirtschaftsnationalismus noch weniger an Marktwirtschaft und Wettbewerb orientiert als die etablierten Eliten.

Auch das Staatsversagen in Griechenland hat nicht liberale Kräfte erstarken lassen, sondern sogar eine Regierung etabliert, die aus links- und rechtsradikalen Parteien besteht.

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In Frankreich kann der Sieg des sozialliberal genannten Emmanuel Macron nicht darüber hinwegtäuschen, dass im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl nicht der Marktwirtschaftler Francois Fillon reüssierte. Fast 40 Prozent der Wähler wählten Kandidaten, die Marktwirtschaft und Wettbewerb strikt ablehnen. Mit der Gründung seiner neuen Bewegung „La Republique en marche“ ist es dem jungen Emmanuel Macron zwar gelungen, viele Unzufriedene einzusammeln, Veränderungs- und Aufbruchstimmung zu verbreiten und einen neuen Führungs- und Gestaltungswillen des Staates auszustrahlen. Andererseits hat er aber auch den Eindruck vermittelt, nichts an der „Komfortzone“ der staatlichen Fürsorge und des Wohlfahrtsstaates ändern zu wollen, was wirklich wehtun könnte. Durch Reformen soll der französische Wohlfahrtstaat effizienter werden. Den paternalistischen Wohlfahrtsstaat jedoch als Ursache für die französischen Probleme zu identifizieren und den Staat prinzipiell zurückzuschrauben, damit ein dezentraler evolutionärer Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann, liegt Macron fern. Auch in der Europapolitik vertritt Emmanuel Macron einen konstruktivistischen und zentralistischen Politikansatz. Er möchte neue zentralistische Institutionen gründen, um die europäischen Probleme und die Probleme der Europäischen Union zu lösen.

Und die EU-Kommission und viele Regierungen der Mitgliedstaaten orientieren sich ebenfalls nicht an Marktwirtschaft, Wettbewerb und liberalem Rechtsstaat, sondern an Planwirtschaft und Zentralismus. Aus dem britischen Votum für einen EU-Austritt wird nicht die Forderung „Zurück zu den römischen Verträgen“, mehr Dezentralität, weniger Planwirtschaft und Zentralismus in der EU abgeleitet, um weitere Austritte aus der EU zu verhindern, sondern das glatte Gegenteil: Unter der Überschrift „Vollendung der Währungsunion“ soll ein weiterer Zentralisierungsschub die EU retten. Bis 2025 sollen alle EU-Länder den Euro einführen. Ein eigenständiges EU-Budget soll eingeführt und ein EU-Finanzminister installiert werden. Das alles wird die EU nicht retten, sondern zum Explodieren bringen. Eine derartige Explosion hat jedoch nichts mit schöpferischer Zerstörung zu tun, sondern ist als nicht-intendierte destruktive Zerstörung aus guter konstruktivistischer Absicht zu bezeichnen.

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Schöpferische Zerstörung ist hingegen ein evolutionärer Prozeß. Schöpferische Zerstörung bedeutet die schrittweise, dezentrale Anpassung an geänderte Verhältnisse. Bei aller möglichen Dramatik im Einzelfall ist schöpferische Zerstörung gesamtgesellschaftlich sozial verträglicher, behutsamer und ökonomisch sinnvoller als Befehle und Anordnungen. Schöpferische Zerstörung beruht und folgt den Präferenzen der Individuen und ist deshalb freiheitskonform. Befehle und Anordnungen vergewaltigen die Präferenzen der Individuen und sind deshalb freiheitsfeindlich. Marktwirtschaft, Wettbewerb und liberaler Rechtsstaat ermöglichen die freiheitskonforme Lösung von Problemen und den dezentralen evolutionären Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft.

Dieser Wandel, dieses „Laissez faire, laissez passer“, wird aufgrund der Status-quo-Panik des Establishments politisch nicht zugelassen, soll aber auch durch die Veränderungs-Panik des Anti-Establishments nicht zugelassen werden. Sowohl die einen als auch die anderen fürchten, dass der dezentrale evolutionäre Wandel eine Richtung einschlagen könnte, die ihnen einfach nicht passt. Lieber spielt man Gott und hofft, die moderne, hochkomplexe, globalisierte Gesellschaft zentral steuern zu können, was jedoch nicht gelingen kann. Die Polarisierungen durch Problemverschleppungen werden deshalb weitergehen. Für Wirtschaft und Gesellschaft verheißt das nichts Gutes.


Dieser Beitrag ist ursprünglich als Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute in Köln veröffentlicht worden: www.fvs-ri.com

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