Tichys Einblick
Neue Steuerschätzung des Bundesfinanzministeriums

Lasst dem Bürger, was des Bürgers ist

(Künftige) Wohlstandsgewinne den Bürgern belassen, den Zugriff des Staates auf die Einkommen und Vermögen der Bürger und damit die (All)macht des Staates begrenzen, das ist eine Denkweise, die den meisten Politikern bis hinein in die FDP fremd ist.

54,1 Milliarden Euro: das ist die Zahl, die in den meisten Medien genannt wird, wenn es um die Steuermehreinnahmen laut der aktuellen Steuerschätzung des Bundesfinanzministeriums vom 11.05.2017 geht, siehe beispielsweise hier oder hier. Doch das sind nur die Mehreinnahmen gegenüber der bisherigen Schätzung vom November 2016, die Mehreinnahmen aus der bisherigen Schätzung sind darin nicht enthalten.

Die wirklich berichtenswerte Zahl ist daher eine ganz andere: nämlich 396,1 Milliarden Euro! Auf diesen Betrag von 396,1 Milliarden Euro belaufen sich die voraussichtlichen Steuer-Mehr-Einnahmen für die Jahre 2018 bis 2021 gegenüber dem Jahr 2016. Allein für 2021 werden Mehreinnahmen von 146,4 Milliarden Euro gegenüber 2016 erwartet. Wohlgemerkt: das sind nur die Mehreinnahmen, die auf ein schon sehr hohes Steuer- und Abgabenniveau draufgesattelt werden.

396,1 Milliarden mehr: das ist deutlich mehr als die Hälfte der Gesamtsteuereinnahmen des Jahres 2016. Und bei ca. 80 Millionen Bürgern ergibt das ca. 5.000 Euro pro Bürger. Selbst wenn man eine jährliche Preissteigerung von ca. 2 % berücksichtigt (das sind ca. 60 Milliarden Euro von 2018 bis 2021) käme man immer noch auf ca. 4.250 Euro pro Bürger oder 17.000 Euro für eine vierköpfige Familie.

4.250 € für jeden (!) Bürger, wenn der Staat nur die Preissteigerung ausgleicht

Oder anders ausgedrückt: Der Staat könnte jedem Bürger vom Baby bis zum Greis, mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit, für 2018 bis 2021 insgesamt 4.250 Euro überweisen (oder 17.000 Euro bei einer vierköpfigen Familie), begnügte der Staat sich damit, den Status quo von 2016 beizubehalten, wobei der Staat sogar die Preissteigerung ausgleichen dürfte.

Alternativ könnten natürlich auch Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag und/oder die Mehrwert- und Stromsteuer wesentlich gesenkt werden. Selbstverständlich stünde dies unter dem Vorbehalt, dass sich die Prognosen bewahrheiten. Finanzierbar wäre es, ohne dass Ausgaben reduziert werden müssten. Denn es geht hier nur um die Steuer-Mehr-Einnahmen, nicht um den bestehenden hohen Steuersockel. Ohnehin ist Ausgabenreduzierung kein Thema mehr. Ganz im Gegenteil – der Staatsapparat wird munter weiter ausgebaut. So wurden beispielsweise zahlreiche neue Ministeriumsstellen bei der Bundesregierung geschaffen (siehe hier), und die FDP fordert in ihrem Wahlprogramm gar ein neues Digitalministerium.

Immer mehr Geld in der Staatskasse: dennoch marode Straßen, Schulen und Krankenhäuser

396,1 Milliarden Euro mehr: das weckt Begehrlichkeiten. In Bildung, soziale Sicherung, Infrastruktur, Polizei, Bundeswehr und was auch immer noch wolle man „investieren“. Doch wer meint, dass zusätzliches Geld in der Staatskasse auch zusätzlichen Nutzen beim Bürger zur Folge hat, der möge einen kurzen Blick in die jüngere Vergangenheit werfen. Von 2005 bis 2015 sind die Steuereinnahmen um mehr als 50 % gestiegen, in 2015 standen dem Staat 221 Milliarden oder preisbereinigt 151 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen als 2005 zur Verfügung. Löhne, Hartz IV oder das Bruttoinlandsprodukt sind sehr viel weniger gestiegen als die Steuereinnahmen. Dass sich in den genannten Bereichen zwischen 2015 und 2005 irgendetwas substantiell zum Besseren gewendet hat, wird wohl kaum jemand ernstlich behaupten wollen. Zunehmende Verwahrlosung des öffentlichen Raum, steigende Kriminalität, marode Krankenhäuser, Schulen und Straßen, nachlassende Schul- und Hochschulleistungen, eine Operettenarmee mit untauglichen Waffen, und so weiter; die Liste ließe sich fortsetzen. Trotz erheblicher zusätzlicher Einnahmen konnte nicht einmal der Status quo gehalten werden. Mehr und immer mehr Geld mag häufig mehr PR-Tore schießen, hat aber noch lange keine besseren staatlichen Leistungen zur Folge. Der Staat beziehungsweise seine Politiker haben sich als unfähig erwiesen, die hohen (Mehr)einnahmen früherer Jahre sinnvoll und nutzbringend zum Wohle der Bürger zu verwenden. Und nichts, rein gar nichts gibt Anlass zu der Annahme, dass der Staat und die ihm vorstehenden Politiker bis 2021 das bewerkstelligen könnten, was ihnen schon im Zeitraum von 2005 bis 2015 nicht gelungen ist.

Gerechtigkeits-Lüge
Es ist genug Geld im System: Gebt dem Bürger zurück, was des Bürgers ist!
Im letzten Jahr schrieb ich unter dem Titel „Gebt dem Bürger zurück, was des Bürgers ist“, dass genug Geld im System ist und man jedem (!) Bürger 1.500 € jährlich zurückgeben könnte, wenn sich der Staat mit den Mitteln des Jahres 2005 inclusive Ausgleich der Preissteigerung zufriedengeben und die Subventionen von mehr als 50 Milliarden jährlich abbauen würde. Angesichts der prognostizierten Mehreinnahmen bis 2021 bleibt nunmehr nur der neue Appell: „Lasst dem Bürger, was des Bürgers ist“. Lasst den Bürgern wenigstens die künftigen Wohlstandsgewinne, denn der Staat hat bereits in früheren Zeiträumen – gemessen an der Entwicklung von Löhnen, Hartz IV und Bruttoinlandsprodukt – einen überproportional großen Anteil vom Kuchen erhalten.
Lasst dem Bürger, was des Bürgers ist

Doch nichts liegt vielen Politikern ferner, als den Bürgern die von ihnen erwirtschafteten, künftigen Wohlstandgewinne zu belassen. Niemand steht auf und sagt, dass dieses Zusatzvolumen den Bürgern gehört und nicht dem Staat. Die Linke will Steuererhöhungen von 180 Milliarden Euro – jährlich. Die Grünen wollen ebenfalls die Steuern erhöhen (in nicht genannter Höhe). Union und SPD haben noch keine Wahlprogramme beschlossen. SPD-Kanzlerkandidat Schulz will keine Steuerentlastungen, sondern staatliche Mehrausgaben finanzieren.

Höhere Steuern für Gabriels Shopping-Kanal
Der Staat kassiert ab, der Bürger zahlt murrend
CDU-Finanzminister Schäuble sieht kaum Spielraum für Steuerentlastungen und kann sich allenfalls geringe Entlastungen von 15 Milliarden Euro jährlich vorstellen, neuerdings kommen aus den Reihen der Union auch etwas höhere Werte. Etwas mutiger sind FDP und AfD. Der FDP-Bundesvorsitzende Lindner will die Bürger um 35-40 Milliarden Euro jährlich entlasten. Das passt jedoch nicht zu seinen drastischen Worten; er spricht davon, dass die „Gier des Staates kleptokratische Züge angeommen“ habe. Statt konsequent zu fordern, die künftigen Wohlstandsgewinne dem Bürger zu belassen, will auch Lindner die Mehreinnahmen des Staates nur um ca. 1/3 reduzieren, während dem „kleptokratischen“ Staat 2/3 davon verbleiben sollen. Auch die FDP denkt also bei den Mehreinnahmen überwiegend an den Staat, und an das bisherige Steuervolumen traut sie sich erst gar nicht heran. Die AfD will die Umsatzsteuer um bis zu 7 % senken. Das wäre eine Entlastung von bis zu 80 Milliarden jährlich (1 % Senkung des Regelsteuersatzes bedeutet laut der Datensammlung zur Steuerpolitik des Bundesfinanzministeriums ca. 11 Milliarden Euro weniger Steuern). Finanzieren ließe sich dies aus dem erwarteten zusätzlichen Steuervolumen der Wahlperiode 2018 bis 2021 ohne weiteres, und es wäre tatsächlich eine echte Entlastung der Bürger, vor allem auch der unteren und mittleren Einkommensschichten, die überproportional von der Mehrwertsteuer betroffen sind.
Wähler und Gewählte glauben an Vater Staat

(Künftige) Wohlstandsgewinne den Bürgern belassen, den Zugriff des Staates auf die Einkommen und Vermögen der Bürger und damit die (All)macht des Staates begrenzen, das ist eine Denkweise, die den meisten Politikern bis hinein in die FDP fremd ist. Dies zeigen die Reaktionen der Politiker auf die prognostizierten enormen Steuermehreinnahmen laut Steuerschätzung des Bundesfinanzministeriums. Die Annahme, dass Politiker besser mit dem Geld der Bürger als diese selbst umgehen können, ist nicht nur bei den Politikern, sondern vor allem bei den sie wählenden Bürgern tief verwurzelt. Selbst die in weiten Teilen vorhandene Erkenntnis, dass sich die Situation trotz hoher und immer höherer Staatseinnahmen keinesfalls verbessert hat, führt zu keinem Umdenken. Mag der Glaube an Gott im Schwinden begriffen sein, der Glaube an Vater Staat lebt wie eh und je.

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