Gelegentlich kann es überaus spannend sein, sich in die Übertragung der Wahlkampfdebatten anderer Länder einzuschalten. So nun auch bei der Auseinandersetzung der beiden Präsidentschaftskandidaten unseres französischen Nachbarlandes.
Warum diese Debatte spannend war? Nun, sicherlich nicht deshalb, weil sich die beiden Bewerber mit heftigen Schlägen auf und auch unter die Gürtellinie gegenseitig ins Aus zu schießen suchten. Auch nicht deshalb, weil sie einander fast nie ausreden ließen – wobei Marine Le Pen hier noch deutlich penetranter war als der smarte Emmanuel Macron. Sondern ausschließlich deshalb, weil für uns in Deutschland an dieser Debatte festzustellen war, dass es „das eine Frankreich“ faktisch nicht gibt. Wer den Ausführungen der beiden Kontrahenten folgte, dem blieb die Erkenntnis nicht erspart: Bei den Franzosen haben wir es mit einem Volk zu tun, dessen einer, nicht unbedeutender Teil in der Glorie einer eingebildeten Größe mit klaren Feindbildern schwelgt.
Le Pen, der ich leider den Vorwurf nicht ersparen kann, mit zahlreichen Platitüden und Wirklichkeitsverdrehungen zu agieren, repräsentiert diesen Teil. Und damit sind wir bei dem eigentlichen Problem, das unseren westlichen Nachbarn erschüttert – der Wahrnehmung seiner selbst.
Hörte man Le Pen zu, so hat dieses Frankreich gegen den von ihr neidvoll-ablehnend betrachteten Nachbarn Deutschland von Schlacht zu Schlacht einen fulminanten Sieg nach dem anderen eingefahren – um nun als Verlierer in Europa dazustehen, welcher vom Boche in Berlin wirtschaftlich ausgelutscht und fremdgesteuert wird. Eine Darstellung, der Maron vorsorglich nicht explizit widersprach, jedoch als „Leben in der Vergangenheit“ abtat. Da scheint es an der Zeit, einmal einen ernsthaften Blick auf dieses siegreiche Frankreich zu werfen. Denn wenn man ganz genau hinschaut, dann war es mit den Siegen gegenüber den ungeliebten Teutonen und anderen nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und der Niederlage bei Waterloo 1815 nicht mehr wirklich hoch her.
Frankreich – mit sich selbst beschäftigt
Nach dem Zusammenbruch des Napoleonischen Imperiums war Frankreich überwiegend mit sich selbst beschäftigt. 1848 wurde durch eine bürgerliche Revolution das restaurierte Königshaus gestürzt, nur drei Jahre später übernahm der Usurpator und Neffe Napoleons I, Louis Napoleon Bonaparte, mittels eines Staatsstreichs von oben, der als Muster für die derzeitige Machtübernahme in der Türkei gedient haben könnte, das marode Reich. Als Napoleon III. wollte er an die gefühlte Glorie seines Onkels anknüpfen. 1854 trat er gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich dem Krimkrieg gegen Russland bei. Obwohl sich bereits in diesem Konflikt die logistischen und organisatorischen Probleme der französischen Armee zeigten, gelang es Napoleon III. über heimatliche Propaganda, seinen von Revolution, Restauration und Diktatur verunsicherten Franzosen das Gefühl einer unbesiegbaren Nation zu vermitteln. Getragen von dieser Selbstüberschätzung und in der Fehlbeurteilung, die süddeutschen Staaten eher auf seiner als auf der Seite Preußens zu finden sein, brach er 1870 den Französisch-Preußischen Krieg vom Zaum.
Mehr noch als auf der Krim sollten sich die Mängel des französischen Militärwesens in seiner menschenverachtenden Trennung zwischen Führung und Gefreiten ebenso wie in der Logistik offenbaren. Die für Napoleon unerwartete Solidarität der Süddeutschen, die an der Seite des Norddeutschen Bundes nun aus dem Französisch-Preußischen einen Deutsch-Französischen Krieg machten, brachte dem Imperator sein politisches Ende und den Zusammenbruch der französischen Armee. Das nun geeinte Deutschland ließ sich seinen militärischen Sieg durch die Zurückholung der im 17. und 18. Jahrhundert unter Bruch der Straßburger Eide aus dem Jahr 842 annektierten Reichsgebiete Elsass und Lothringen ebenso wie mit hohen Reparationszahlungen honorieren. Für Deutschland war damit die Schmach des als „Westfälischer Friede“ von 1648 in die Geschichte eingegangenen Diktats von Münster und Osnabrück, der den Angriffskrieg von Schweden und Franzosen gegen das Reich beendete, getilgt.
Die Revanche nach 1871
Frankreich hoffte auf Revanche und holte sich die verlorenen Gebiete 1918 zurück, als das Deutsche Reich nach einem Zweifrontenkrieg an seiner Westfront seinen Gegnern Frankreich, Großbritannien und USA nichts mehr entgegen zu setzen hatte. Die Franzosen feierten ihre Nation, die faktisch trotz logistischer Meisterleistungen ihres Generals Philipe Pétain bei der „Knochenmühle“ von Verdun auf sich allein gestellt gegen das Reich chancenlos geblieben wäre.
1940 brach Frankreich trotz britischen Expeditionskorps innerhalb von nur sechs Wochen zusammen und musste von Amerikanern und Engländern befreit werden. Nachdem der greise Petain als legitimer Ministerpräsident des militärisch unterlegenen Frankreichs gleich einem Jesus von seinen Landleuten ans Kreuz geschlagen worden war, um so den Kollaborateuren und allen anderen Geschlagenen der Republik ihre Sünden zu nehmen, war sie schnell wieder da, die Größe der Nation. Charles de Gaulle selbst war es, der sie seinem von der Niederlage gegen die Alemannen in tiefe Minderwertigkeitskomplexe gestoßenen Volkes einimpfte und aus einem Volk der militärischen Versager eines der aufrechten Widerstandskämpfer machte.
Die eingebildete Größe
Die tatsächliche Größe Frankreichs – das sollte dieser kurze Exkurs in die jüngere Geschichte zeigen – beruht seit 1815 auf nichts anderem als Einbildung. 1945 gehörte das Land ebenso wie Deutschland und Großbritannien zu den eigentlichen Verlierern – das noch weltumspannende französische Imperium zerfiel im Eiltempo. In Fernost traten nach der Niederlage bei Dien Bien Phu 1954 die US-Amerikaner die imperiale Nachfolge an. Die westafrikanischen Territorien und Madagaskar gingen bis 1960 verloren, 1962 folgte mit Algerien nach einem schmutzigen Krieg der Abschied der Franzosen vom afrikanischen Kontinent, der ihnen gleichzeitig mit der Rückkehr der französischen Siedler und der Übersiedlung der muslimischen Franzosen Nordafrikas die Grundlagen der heute den Staat prägenden Probleme schuf.
Wenn LePen beständig von der nationalen Größe Frankreichs spricht und sich dahin verirrt, den französischen Nationalstaat als globale Weltmacht restaurieren zu wollen, dann bedient sie damit zwar die unaufgearbeitete Vergangenheit der vergangenen zweihundert Jahre – doch sie verbreitet die Legende eines Traumes, den Frankreich zuletzt 1812 real gelebt hat. Gleichzeitig knüpft sie an tiefliegende Minderwertigkeitskomplexe an, wenn sie mit jedem zweiten Satz den einstigen Erbfeind Deutschland für den maroden Zustand Frankreichs verantwortlich macht.
Die Absurdität der Restauration etwas nie Existierenden
Le Pens Absurditäten erreichten ihren Höhepunkt, als sie sogar den Niedergang der Industrien Lothringens nebst dortiger Arbeitsplätze den Deutschen anzulasten suchte. Sie, diese unersättichen Deutschen, hätten die Arbeitsplätze „gestohlen“. Dabei unterscheidet sich die Situation Frankreichs gerade hier kaum von jener Deutschlands, das den Niedergang von Stahl und Kohle ebenso wie die Abwanderung von Schlüsseltechnologien vorrangig nach Fernost mit viel Mühe überwinden musste und insbesondere im Ruhrgebiet an grundlegenden Umstrukturierungen nicht vorbei kam. Frankreichs Problem: Es hat die Folgen der De-Industrialisierung weder mental verarbeitet noch real bewältigt.
Längst schon Dienstleistungsgesellschaft
In ihren Basiszahlen sind sich die beiden wichtigsten Staaten Europas erstaunlich ähnlich. Der Agrarsektor macht in Frankreich gerade noch 1,7 Prozent der Wirtschaftsleistung aus – stänig gepampert mit Transferleistungen der EU. In Deutschland sind es sogar nur noch 0,6. Die Industrie trägt in Frankreich 19,4 % zum Bruttoinlandsprodukt bei. In Deutschland sind es immerhin noch 30,3 %. Frankreich ist mehr noch als Deutschland heute von den Dienstleistungen abhängig: Sie tragen bei den Franzosen 78,8 % bei – in Deutschland sind es 69,1 %.
Eine derartig ausgerichtete Wirtschaft ist mit den Vorstellungen Le Pens zum Selbstmord verurteilt. Selbst wenn die Vorstellung, man könne durch Protektionismus den verlorenen Arbeitsplatz des lothringischen Stahlkochers zurückholen – der Stahl wäre außerhalb Frankreichs unverkäuflich. Und die stahlverarbeitende Industrie – einschließlich der französischen Kfz-Produktion – würde blitzschnell seine Produktion aus Frankreich verlagern. Dorthin, wo der Stahl zu Weltmarktpreisen einzukaufen ist. Die Autobauer von Opel würde es freuen.
Was wollte eine Protektionistin wie Le Pen dagegen tun? Wie Donald Trump in der Vorstellung leben, man könne die Produzenten durch hohe Importzölle abstrafen? Nun gut – das wäre dann wohl das Modell Kuba: Autos, die über Jahrzehnte gepflegt werden müssen, weil keine neuen ins Land kommen oder nur noch von Superreichen bezahlt werden können.
Ähnlich absurd auch die Vorstellung Le Pens, neben dem Euro wieder den Franc einzuführen. So etwas gab es früher schon – beispielsweise auf dem Balkan. Mit dem Dinar bekam man im sozialistischen Jugoslawien jede Ware, die innerhalb des Landes produziert wurde. Sollte es aber Importware sein, dann musste die Deutschmark rausgeholt werden.
Deutschlands Schuld am Versagen Frankreichs
Auch ein Weiteres in Sachen Frankreich sollte aus deutscher Sicht unmissverständlich festgehalten werden: Wenn die Franzosen nicht in der Lage sind, Waren und Dienstleistungen zu produzieren, die auf dem Weltmarkt und bei den Nachbarn verkäuflich sind, dann ist dieses erst einmal ein Problem der Franzosen. Allerdings ist dieses nicht der Fall – denn insbesondere die französischen Dienstleister sind überaus erfolgreich. Doch verdienen sie mittlerweile das meiste Geld außerhalb Frankreichs – und insbesondere in Deutschland. Insofern gilt auch hier: So, wie derzeit bereits kalifornische Unternehmen formal unabhängige Töchter in Kanada aufbauen, um auch unter Trump via CETA mit den Europäern Freihandel betreiben zu können; so, wie britische Finanzdienstleister aus ähnlichen Gründen die Verlagerung des Firmensitzes nach Brüssel oder Frankfurt vorbereiten – genau so würden auch französische Dienstleister schnell Wege finden, um einem sie erdrosselnden Protektionismus zu entgehen.
Man mag von Macron halten, was man will. Manches von dem, was er auf der Agenda hat, ist schwammig und unklar. Nach der TV-Diskussion allerdings ist unverkennbar: Marine LePen ist eine Bauernfängerin, die den französischen Selbstbetrug der „Grande Nation“ mit wirtschaftspolitischem Unverstand verknüpft und damit ein Publikum anspricht, das auch unter ihr den verlorenen Arbeitsplatz nicht wiederbekommen wird – oder es hängt dem illusionären Traum einer vorgeblichen, historischen Größe nach, die es schon seit Generationen nicht mehr gibt. Und damit auch dem Traum davon, dass Nationalstaat als Isolationismus auch nur den Hauch von Zukunftsfähigkeit hätte. Gerade Frankreich und Deutschland sind mittlerweile wirtschaftlich derart vernetzt, das Solowege unmöglich geworden sind. Das immerhin hat Macron begriffen – und er spricht damit vor allem die jüngeren Franzosen an.
Le Pen ist der Gegenentwurf. Sie lebt in der Illusion ihrer Wählerschaft vom großartigen, gallischen Dorf, welches außer sich selbst nur sich selbst braucht. Le Pen will nicht zurück zu einer Welt von Gestern – sie will vorwärts zu einer Traumwelt.
So wenig Realitätsnähe ist gefährlich. Nicht vorrangig für die Welt und nur in überschaubare Grenzen für Deutschland. Gefährlich ist es in allererster Linie für ein Frankreich, das sich mit ihr aus Wirklichkeit und Zukunft verabschieden würde, um eine Historie zu leben, die nichts anderes ist als eine Einbildung.