„Der Mensch denkt, Gott lacht!“ So heißt es in einem jüdischen Sprichwort, das auf dem zweiten Psalm des alten Testaments fußt. Das gilt für Wahlprognosen im allgemeinen, im besonderen aber auch für den wohl eher ironisch gemeinten Vorschlag, Wahlprognosen künftig durch „Wahlbörsen“ zu ersetzen, „an denen die Teilnehmer virtuell mit Parteiaktien handeln“. (Vgl. „Parteibörsen statt klassischer Wahlumfragen“, Tichys Einblick 05/2017, S. 71.) Wie ernst das gemeint war, behält die Autorin, Katharina Schüller, natürlich für sich.
Aber Spaß beiseite. Bekanntlich wird am 7. Mai in Schleswig-Holstein und am 14. Mai in NRW ein neuer Landtag gewählt. Und natürlich würde man im Voraus gerne wissen, wie die beiden „Probeabstimmungen“ vier Monate vor der Bundestagswahl ausgehen. Doch hier stehen wir schon vor einem ersten Problem. Bereits das Orakel von Delphi hat die Zukunft nicht nur vorhergesagt, sondern auch vergegenwärtigt und vorweggenommen. Wahlprognosen beeinflussen das Wahlverhalten. Sie sind deshalb in manchen Ländern unmittelbar vor der Wahl sogar verboten.
Bekannt ist außerdem das Phänomen, dass nach der Wahl mehr Wähler angeben, die Siegerpartei gewählt zu haben als das tatsächlich der Fall war. „Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin“, sagt man. In der Wissenschaft wird dies als „Schwarmintelligenz“ bezeichnet. Um das herkömmliche Wort: „Herdentrieb“ machen die Wahlforscher aber einen weiten Bogen. Auch gibt es „Schmuddelparteien“, wie die AfD, oder früher die Linkspartei, die zu wählen nicht als besonders schick gilt. Man muss also außerhalb der Wahrscheinlichkeitsrechnung darauf gefasst sein, dass die Bürger in einer Wahlumfrage ausweichend antworten oder sogar falsche Angaben darüber machen, welche Parteien sie wählen werden. – Wie viele Wähler lügen, wenn man sie wenn man sie fragt, wie sie wählen?
Stimmungen in der Wählerschaft darf man nicht mit Stimmen in der Wahlurne verwechseln. Schon deshalb sollte man sich darauf beschränken, für Wahlprognosen Wahrscheinlichkeits-Korridore zu berechnen.
Legt man diese Zahlen für die bevorstehende Landtagswahl in Schleswig-Holstein zugrunde, dann bewegt sich die SPD seit Anfang 2017 bei den Zweitstimmen zwischen 33 und 30 Prozent. Die CDU pendelt zwischen 32 und 27 Prozent. Die FDP erreicht seit Anfang 2017 in allen verfügbaren Umfragen mehr als 8 Prozent. Bei den Grünen liegt die Spanne zwischen 14 und 12 Prozent, im Niveau also klar über der FDP. Die Linken kämpfen mit der Sperrklausel. Piraten spielen in Schleswig-Holstein keine Rolle mehr. Sie bleiben weit unter der Sperrklausel von 5 Prozent. Der SSW ist von der Sperrklausel befreit und steht stabil bei 3 %. Die AfD erreicht bei der „Sonntagsfrage“ im Beobachtungszeitraum maximal 7 und minimal 5 Prozent Zustimmung und wird vielleicht einstellig in den Landtag von Kiel einziehen. Die Streuung der ermittelten Werte ist auffällig gering, sie haben also eine entsprechend hohe Wahrscheinlichkeit.
Man kann also ungefähr abschätzen, welche Partei mit welchem Gewicht nach dem 14. Mai 2017 in den Landtag von Düsseldorf einziehen dürfte, mehr aber nicht. Die „Sonntagsfrage“ richtet sich auf die Zweitstimme, mit der auf dem Stimmzettel eine Partei gekennzeichnet wird. NRW gehört aber zu den 13 Bundesländern, die nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl abstimmen, was allgemein als „personalisierte Verhältniswahl“ bezeichnet wird. Und jetzt wird es schwierig.
Wie im Bund und in 12 weiteren Bundesländern haben die Wähler zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten und eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste, die zwar von den Parteien aufgestellt werden, deren Reihenfolge von den Wählern aber durch die Erststimme verändert werden kann. Leider ist es aber so, dass etwa die Hälfte der Wähler dieses Wahlverfahren nicht hinreichend durchschaut. Das hat eine repräsentative Umfrage vom April 2013 erneut ans Licht gebracht, die von Infratest dimap erhoben und ins Netz gestellt wurde. (Vgl. Heiko Gothe, Infratest dimap, „Wählen ohne Wissen“, 2013.) Diese Umfrage bestätigt, was schon seit längerem bekannt ist. So hat der Politologe, Rüdiger Schmitt-Beck, in der Zeitschrift für Parlamentsfragen dazu eine Untersuchung veröffentlicht, die den Titel trägt: „Denn sie wissen nicht was sie tun“ und war darin zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. (Vgl. ZParl 24/1993, S. 393 ff.)
Wählen ohne Wissen
Ohne das hier in allen Einzelheiten auszubreiten, haben wir es mit einem Wahlverfahren zu tun, dass die Hälfte der gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht hinreichend versteht. Und das schlägt natürlich auf die entsprechenden Wahlumfragen durch. Oft genug machen sich sogar die öffentlich-rechtlichen Fernseh-Anstalten vor den anstehenden Bundestagswahlen einen Spaß daraus, Erstwähler vor laufenden Kameras bloßzustellen und sie über den Unterschied von Erst- und Zweitstimme zu befragen. Man kann aber auch „ausgebuffte“ Journalisten in Verlegenheit bringen, nähme man sie ins Kreuzverhör: Die letzte Landtagswahl in NRW wurde am 15. Mai 2012 abgehalten. Damals sind 237 Abgeordnete in den Landtag eingezogen. Der Landtag hat aber nur 181 Plätze, und im ganzen Land gibt es nur 128 Wahlkreise. Die Journalisten, die dafür eine plausible Erklärung anbieten können, kann man an einer Hand abzählen.
Um das Maß voll zu machen, hat die SPD damals 99 Direktmandate errungen, aber nicht mit den Zweitstimmen, die den Wahlumfragen zugrunde liegen, sondern mit den Erststimmen. Mit den Zweitstimmen erreichte die SPD nur 76 Sitze. Weil die Listenplätze hinter den erzielten Direktmandaten zurückblieben, entstanden 23 „Überhänge“. Damit nicht genug wurden diese 23 „Überhänge“ ausgeglichen, aber nicht durch 23 sondern durch 33 nachgeschobene Ausgleichsmandate. Der Ausgleich überstieg also den Überhang, und zwar deutlich. Es kommt aber noch ein Schippe obendrauf.
Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich kurz nach der NRW-Landtagswahl vom 15. Mai 2012 ein Grundsatzurteil gefällt und die „Überhänge“ für die Bundestagswahlen gedeckelt. (Vgl. BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 316.) Überhangmandate seien zulässig, solange es nicht zu viele werden. Sind es mehr als 15, sei die Wahl ungültig. Diese Regelung gilt für das gesamte Bundesgebiet. Und das wirft natürlich die Frage auf, wie es sein kann, dass es allein in NRW 23 Überhänge gibt, obwohl das BVerfG für das gesamte Bundesgebiet maximal 15 akzeptiert. Wer die Grundrechenarten beherrscht, kann sehr schnell ausrechnen, wie viele Überhänge in NRW zulässig sind: Im Bund gibt es 299 Wahlkreise und 15 zulässige Überhänge. In NRW sind es 128 Wahlkreise. Und das ergibt dann 6,4 zulässige Überhänge. 2012 waren es aber 23.
Nicht die alleinige wohl aber die wichtigste Ursache für die Überhänge ist das Stimmensplitting. Die Wähler sollen beide Stimmen im Verbund abgeben, also mit der Zweitstimme die Partei kennzeichnen, die sie auswählen wollen, und die Erststimme dem von der Partei im örtlichen Wahlkreis aufgestellten Kandidaten zukommen lassen (Personalisierte Verhältniswahl). Allgemein wird aber auch die gespaltene, die unverbundene Abstimmung als zulässig angesehen, die zu „Leihstimmen“ führen. Die „Leihstimmen“-Wähler splitten beide Stimmen und vergeben die Erststimme an den örtlichen Wahlkreisbewerber, die Zweitstimme aber an eine Konkurrenzpartei einer nachfolgernden Wunsch-Koalition. Man kann das aber auch umgekehrt machen und statt der Zweitstimme die Erststimme „verleihen“. Vom Stimmensplitting wurde 20012 in NRW lebhafter Gebrauch gemacht. Die Wahlprognosen verloren dazu kein einziges Wort und taten das auch bei der Bundestagwahl 2013 nicht. Dazu die nachfolgende Tabelle mit den entsprechenden Zahlen.
Es gab 2013 also 1.331.848 CDU-Erststimmen-Wähler, die ihr nicht die Zweitstimme gaben. Bei der CSU haben 300.398 Wähler gespalten abgestimmt, bei der SPD 1.588.650 Wähler gesplittet. Umgekehrt haben damals knapp 170.000 Wähler der Partei Die Linke die Erststimme verweigert und damit eine andere Partei bedacht. Bei den Grünen waren es 513.045 Wähler, die vergleichbar abgestimmt haben und bei der FDP hat 2013 ungefähr jeder zweite Wähler die Liberalen mit der Zweitstimme gewählt und ist mit der Erststimme „fremdgegangen“. Trotzdem behauptete Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen – sie ist für das ZDF-Politbarometer zuständig – die Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmenabsicht sei damals bei keiner Partei größer als 2,1 Prozentpunkte gewesen. (Vgl. FAS vom 1.9. 2013) Vor allem was die FDP betrifft, war das eine abenteuerlich Fehlprognose!
Ein weiteres Problem bildet die Sperrklausel. Die Fünf-Prozent-Hürde führt ja dazu, dass die Parteien keineswegs im Verhältnis der von ihnen erreichten Zweitstimmen in das Parlament einziehen. Bei der Wahl 2013 erzielte die CDU im Bundestag mit 34,1 Prozent der Zweitstimmen 40,2 Prozent der Sitze. Die CSU erlangte mit 7,1 Prozent der Zweitstimmen 9,3 Prozent der Mandate. Die SPD konnte sich darüber freuen, dass sie mit 25,7 Prozent der Zweitstimmen auf 30,3 Prozent der Sitze kam. Für die Linken und die Grünen ergab sich ein vergleichbares Bild. Das hängt damit zusammen, dass 2013 insgesamt 15,7 Prozent der Stimmen an der Sperrklausel scheiterten und deshalb 93 Abgeordnete auf einem Platz sitzen, den die Wähler einer anderen, an der Sperrklausel gescheiteten Partei zukommen lassen wollten. Aber auch diese sehr wichtige Auswirkung auf die Sitzverteilung ist für die Wahlforscher eine Sache, der sie keine Beachtung schenken.
Das Orakel der halben Wahrheit
Zwei Stimmen sind zwei Wahlen. Deshalb kann eine Wahlprognose, die sich nur mit einer, also mit der Zweitstimme befasst, und der anderen Stimme, also der Erststimme keinerlei Beachtung schenkt, von vorne herein nur die halbe Wahrheit bringen. Und das hören die Umfrage-Institute natürlich nicht gerne, müssen sich diese Kritik aber gefallen lassen. Richtet man den Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl, darf man von den Wahlforschern erwarten, dass sie eine Aussage zu den Überhang- und zu den Ausgleichsmandaten treffen und natürlich auch die Auswirkungen der Sperrklausel auf die Parlamentsparteien in vernünftigen Grenzen zutreffend prognostizieren. Das tun sie aber nicht.
Bekanntlich gab es 2013 vier Überhänge, in vier Bundesländern (Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und im Saarland), alle bei einem CDU-Landesverband. Sie wurden erstmals auch im Bund ausgeglichen, aber nicht durch vier, sondern durch 29 Ausgleichsmandate. Die CDU erhielt 13, die SPD 10, die Linken 4 und die Grünen 2 nachgeschobene Listenplätze. Die CSU ging leer aus. In der vorangegangenen Wahl vom 19. September 2009 sind sogar 24 Überhangmandate angefallen. Nach neuem Recht – das hat der Bundeswahlleiter in einer „Musterrechnung“ ermittelt – wären 671 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Dass dazu von den Wahlforschern kein Wort zu hören war, ist eine Blamage für die gesamte Zunft – das darf man ohne Übertreibung so sagen.
In diesem Zusammenhang hat Bundestagspräsident Norbert Lammert, mehrfach hervorgehoben, unter derzeitigen Umständen könne niemand sagen, wie viele Mitglieder dem nächsten Bundestag angehören. (Vgl. Abendzeitung v. 29.12.2015) Es könnten 630 sein, wie das momentan der Fall ist, aber auch 650 oder 671, wenn noch einmal 24 Überhänge anfallen, wie das 2009 ja passiert ist. Für die Wahlumfragen wäre das der größte aller bisherigen Unfälle.
Mehr zum Autor, Manfred C. Hettlage, der in München lebt und als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht hat, ist seiner Internerseite: www.manfredhettlage.de zu entnehmen.