Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine Mahnung an den demokratischen Rechtsstaat. Er ist nicht gefeit vor grundsätzlichen Änderungen. Wer könnte ein Lied davon singen, wenn nicht wir Deutschen? Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr. Sie werden häufig für einzelne Personen gezimmert. Darin liegt auch das Dilemma der Türkei. Die neue Präsidialverfassung ist auf den aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten. Darin liegt schon ihr grundsätzlicher Fehler. Der Putschversuch am 15. und 16. Juli 2016, nach dem anschließend über 40.000 Personen festgenommen und über 80.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ihren Job verloren, bot für Erdogan die entscheidende Begründung, die Machtfülle anzustreben, die ihm das Referendum jetzt zugestanden hat.
Das neue „Präsidialsystem“ wird von AKP-Politikern mit der Verfassung der USA verglichen. Das ist sehr vermessen. Nicht nur, weil die Vereinigten Staaten eine lange und große Verfassungstradition haben, die die Türkei nicht hat. Die US-Verfassung unterscheidet sich auch in sehr grundsätzlichen Fragen von der der Türkei. Die Gründerväter der USA um John Adams, Thomas Jefferson und James Madison mussten seinerzeit einen klassischen Konflikt lösen. Zum einen wollten sie das positive, das eine Regierung verspricht, zulassen, und zum anderen Freiheitsbedrohungen durch die Regierung und ihren Präsidenten verhindern. Aus diesem Anspruch folgten für sie zwei wesentliche Grundsätze.
Erstens musste der Spielraum des Präsidenten und der Regierung beschränkt werden. Zwar gilt der amerikanische Präsident als der mächtigste Mann der Welt, dennoch darf auch er nicht alles. Bei allem Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist er an die Verfassung gebunden, Gesetze können von ihm nur verhindert, aber nicht durchgesetzt werden. Sein Regierungshandeln wird von Gerichten überprüft. Unabhängige Medien kontrollieren und kritisieren sein Handeln.
Präsidenten Donald Trump kann ein Lied davon singen. Er stößt permanent an Grenzen. Die Rücknahme von Obama-Care scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Parlament. Der Einreisestopp für Menschen aus Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung wurde durch Bundesrichter verhindert. Und die wichtigste Zeitung Amerikas, die New York Times, hat seit seiner Wahl im November ihre Abonnentenzahl um 250.000 auf 3 Millionen erhöht. Der Aktienkurs stieg seitdem um 30 Prozent.
Hier setzt der Politikstil der Erdogans an. Er und seine Helfershelfer wollen Macht zentral ausüben. Sie behaupten, dass Regierungshandeln dadurch viel effektiver werden kann und dies auch im Interesse der Öffentlichkeit sei. Doch wie immer gibt es hier zwei Seiten. Effektives Regierungshandeln kann zum Guten, aber auch zum Schlechten führen. Niemand, auch kein Präsident, weiß alles und trifft immer richtige Entscheidungen. Dennoch müssen alle Bürger dafür geradestehen. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten. Es bringt ihnen nichts, von Istanbul nach Ankara oder nach Izmir umzuziehen. Der lange Arm Erdogans reicht in jeden Winkel der Türkei.
Hinzu kommt, dass selbst die Erdogan-Anhänger nicht die Gewähr haben, ob nicht nach Erdogan ein Präsident an die Macht kommt, der noch viel stärker gegen Grundrechte vorgeht. Vielleicht ändern sich dann die Gegner der Regierung. Wer heute meint, die Unterstützung der Regierung zu haben, wird morgen unter einem neuen Präsidenten vielleicht ebenfalls unterdrückt und verfolgt. Denjenigen, die das „Präsidialsystem“ der Türkei unterstützt haben, muss nicht generell eine böse Absicht unterstellt werden. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Entwicklung häufig von Leuten guten Willens angeführt werden, die dann die ersten sind, die das Ganze bereuen. Daher ist ein Gesellschaftssystem der Machtbegrenzung durch eine horizontale und vertikale Verteilung von Regierungsmacht einem zentralistischen System überlegen. Hier wirken sich Fehlentscheidungen einzelner nicht für alle aus, sondern nur für wenige. Es ist letztlich das Gesellschaftssystem „des Westens“. Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Gesellschaftsbereichen, in der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und selbst der Religion. Die Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.