Atatürks Erbe und die parlamentarische Demokratie stehen an einem Wendepunkt. Eine Ein-Mann-Regierung, verbunden mit aller Macht in einer Hand, ist das Ziel des türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Die Frage ist: Wo driftet die Türkei nach dem Referendum hin? Eines ist sicher, die türkische Republik, gegründet von Mustafa Kemal Atatürk, wird es so nicht mehr geben. Die Türkei steht an der Schwelle einer gesellschaftlichen und politischen Neuordnung. Die Türkei wird auch in Zukunft unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan mehr und mehr islamische Grundwerte übernehmen. Sie wird sich zu einem mit islamischen Grundsätzen und mit sehr starker Hand geführten Präsidialstaat entwickeln.
Das alles wird nicht so schnell gehen, wie sich das manche vorstellen. Erdogan und seine AKP werden genauso wie in der Vergangenheit vorgehen, mit langsamen, aber sicheren Schritten immer vorwärts. Denn Erdogans AKP-Politik zielt auf einen Grundsatz: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Die türkische Gesellschaft hat sich in den letzten 16 Jahren, im Erdogan-Zeitalter, an vieles gewöhnen müssen, zum Teil mit Streicheleinheiten, manchmal mit Honig um den Bart geschmiert aber zum größten Teil auch mit dem Druck einer Angst-Politik.
Beispiele dafür gibt es hunderte: Die Entmachtung des türkischen Militärs, der türkischen Justiz, die Verhaftung vieler Journalisten und anderer Hunderter, die gegen Erdogan und seine Politik waren. Die eiserne Hand Erdogans erlebte man schon in Form des Ausnahmezustands, der auch jüngst wieder für drei Monate verlängert wurde. Ja, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Man gewöhnt sich an alles, an Freude aber auch an Schmerzen. Man gewöhnt sich auch an politische Repressalien und an Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Man gewöhnt sich langsam aber sicher auch an die gesellschaftlichen Einschränkungen. Man gewöhnt sich an Kopftücher, an Turbane und am Ende auch an Vollverschleierungen. Das menschliche Auge gewöhnt sich auch an verschiedene Lichtverhältnisse, man gewöhnt sich daran, sich im Dunkeln zu bewegen, auch wenn die Lichter ganz ausgehen und rundherum Finsternis herrscht.
Und das ist die Strategie von Erdogan und seiner AKP. Ich bin in der Stadt Izmir geboren. Das Ergebnis des Referendums in Izmir spricht Bände. Auch in einer Stadt, in der die demokratischen, westlichen Werte sehr hoch stehen, gibt es durch soziale Kontrolle Frauen, die sich nicht mehr so kleiden wie in meiner Kindheit. Frauen in Miniröcken, in kurzen Hosen und mit Dekolleté auf den Straßen waren in meinem Geburtsort alltäglich.
Die Veränderung wird schleichend vor sich gehen
Aber ich bin mir sicher, in ein paar Jahren werden diese Bilder peu à peu auch in diesen westlichsten Teilen verschwinden. Denn man wird sich dem sozialen und auch insgeheim dem politischen Druck aus Ankara beugen und anfangen sich zu verkleiden. Die meisten Frauen werden sich bedecken. Man wird dann auch öfter hören: „Ach, ich habe mich ja noch nie in Minirock oder in Shorts wohlgefühlt. So ist es viel besser.“ So wird die Veränderung dann beginnen. Offiziell wird auch das Alkoholtrinken nicht verboten werden, aber es gibt viele politische Hebel, es trotzdem zu verhindern. Beispielsweise durch hohe Steuern, Beschränkungen der Schank-Erlaubnis und mit weiteren Dekreten eines starken Präsidenten. Und auch hier wird man in Zukunft hören: „Alkohol ist schädlich. Alkohol ist ungesund. Alkohol ist in unserem Glauben verboten.“
So wird die Gesellschaft auch lernen, ohne den „Vater der Türken“, nämlich Mustafa Kemal Atatürk, zu leben. Jetzt schon verschwinden Bilder Atatürks aus den Schulen, öffentlichen Räumen und sogar von Plätzen. Atatürk-Statuen werden abgerissen und Portraits sieht man auch nicht mehr auf den türkischen Banknoten. Die Generation der türkischen Jugendlichen ist in den letzten Jahren unter der Führung von Erdogan zum größten Teil ohne die Werte Atatürks groß geworden. Auch hier wird sich die Tendenz entwickeln, dass manche für diese Veränderung einen Grund finden: „Hätte Atatürk heute gelebt, dann hätte er auch diese Veränderung gewünscht.“
Das wird in Zukunft die Führung der AKP-Regierung sein. Heute schon gibt es Ergebnisse, die die Veränderung in der Türkei deutlich sichtbar machen. Das türkische Militär, das Erbe Atatürks, wurde entmachtet. Hochrangige Offiziere, Generäle sitzen in den Gefängnissen. Die türkische Justiz wurde in ihren freien Entscheidungen beschnitten. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird seit Jahren beschränkt. Auch hier vermisse ich den großen Aufschrei und die Proteste der Gesellschaft. Man gewöhnt sich eben an alles, langsam aber sicher.
Manches Schöne in der Vergangenheit und manche Erinnerungen an die kemalistische Türkei werden hinter einem islamischen Vorhang verschwinden. Die Veränderungen und der Übergang in eine „neue“ Türkei werden nicht schmerzhaft sein, so wie in den türkischen Internetforen zuletzt auch diskutiert wurde. Man wird in Zukunft öfter mal in die blauen Augen Atatürks gucken mit großer Hochachtung, aber gleichzeitig auch mit einem Schamgefühl. Viele, die eine moderne Türkei geliebt und am 16. April mit „Nein“ gestimmt haben, werden sich innerlich bei Atatürk entschuldigen, da sie sein Erbe nicht vor einem immer größer werdenden Islamismus schützen konnten. Sie werden tiefe Schmerzen empfinden, da sie die säkulare Türkei, in der Form wie sie einst war, nicht mehr aufrechterhalten konnten.
Das Froschexperiment
Das alles erinnert mich an ein Experiment des irischen Wirtschafts- und Sozialphilosophen Charles B. Handy: „Das Froschexperiment“. Wenn man einen Frosch in kochendes Wasser wirft, dann tut er alles, um dem Inferno zu entkommen. Setzt man ihn aber in lauwarmes Wasser und erhöht langsam die Temperatur, dann kocht er bei lebendigem Leibe, ohne dass er Anstrengungen macht, sein Wärmegefängnis zu verlassen.
Der Übergang, die große Veränderung in der Türkei, wird nicht wie erwartet schnell und schmerzhaft sein, sondern sich wie ein wohliges Wärmegefühl fortsetzen. Schnell wird aber geschehen, dass Erdogan durch veränderte Gesetze wieder Mitglied der AKP wird und in Windeseile die Parteiführung übernimmt. Er wird die türkische Justiz noch mehr umkrempeln, die zukünftigen Parlamentsmitglieder benennen und nominieren und die Türkei mit eiserner Hand führen. Ich glaube auch, dass es in Zukunft in der Türkei außer der sozialdemokratischen CHP keine nennenswerte Opposition mehr geben wird. Auch der Druck auf die Presse wird weiter steigen.
Man muss aber auch dazu sagen, dass Erdogan nicht unbedingt der große Gewinner des Referendums war. Er hat eigentlich verloren. Nach all der Unterdrückung, dem unfairen Wahlkampf, den Inhaftierungen und mit einer ihm zum Großteil hörigen Medienlandschaft, ist die Mehrheit doch klein geblieben. Seit 1994 hat Erdogan am Bosporus in Istanbul nie verloren. Aber am 16. April haben große Städte, wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und viele weitere mit „Nein“ gestimmt. Viele Menschen möchten seine Führung nicht mehr. Normalerweise, wenn man die traditionellen Hochburgen, nämlich die Großstädte nicht gewinnt, kann man eigentlich in der Gesamttürkei keine Wahl gewinnen, und deswegen hoffe ich für die Zukunft der Türkei auf die Kräfte, die auf Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit setzen.
Das alles wird in der Türkei eine neue Welle auslösen. Dazu muss man, glaube ich, nicht in eine Kristallkugel schauen oder Kaffeesatz lesen. Viele Kemalisten, die mit dieser Führung nicht einverstanden sein werden, vor allem die Akademiker und Wissenschaftler, werden die Türkei verlassen. Sie werden in die USA, nach Großbritannien, Kanada und auch zu uns nach Deutschland kommen. Heute schon sind Tendenzen zu erkennen, dass manche Diplomaten, Offiziere und Akademiker ihren Lebensmittelpunkt im Ausland suchen. Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Wochen und Monaten manche Flieger von Europa Richtung Türkei halb gefüllt fliegen, aber voll besetzt wieder zurückkommen.
Hier muss ich auch auf manche Veränderungen in unserer Gesellschaft hinweisen. Erdogan sagte jüngst „Die Zukunft Europas werden unsere 5 Millionen Geschwister formen, die sich aus der Türkei dort angesiedelt haben.“ Dieser Satz bereitet mir Sorgen. Schon bei dem letzten Verfassungsreferendum haben wir gesehen, dass die in Europa lebenden türkischstämmigen Mitbürger zum größten Teil für „Ja“ votiert haben. In Deutschland haben zuletzt 63,1 Prozent für „Ja“ und 36,9 Prozent für „Nein“ gestimmt.
Habe ich mit Parallelgesellschaften untertrieben?
Hier stellt sich für mich die Frage: Wie kann es sein, dass Menschen, die zum Teil hier geboren sind, hier die Freiheit, Sicherheit und aber auch die Demokratie genießen und dort für die Türkei anders wählen? Wie kann es sein, dass man in Deutschland seine Meinung frei äußern kann, sich aber wünscht, dass dort die Meinungs- und Pressefreiheit beschnitten wird? Ich verstehe es nicht. Bisher habe ich in der Frage der Integrationspolitik immer von einer ethnisch-religiösen Parallelgesellschaft gesprochen und habe davor gewarnt. Ich habe öfter klar und deutlich gesagt, dass falschverstandene Toleranz und Multi-Kulti-Romantik für unsere gesellschaftlichen Werte und unser harmonisches Zusammenleben nicht dienlich waren.
Heute überlege ich mir, ob ich mit Parallelgesellschaften untertrieben habe. Was will Ankara? Was hat Ankara mit türkischstämmigen Bürgern in Deutschland und in Europa vor? Dieses Zitat von Erdogan bereitet mir Kopfschmerzen, denn eine ferngelenkte Gemeinde kann sich in unserer Wertegemeinschaft nicht integrieren.
Heißt dieses Zitat, dass Erdogan die türkische Community in Deutschland und in Europa immer mehr für seine Ziele ausnutzen wird? Will er immer mehr einen Keil in unsere Gesellschaft treiben?
Deswegen müssen wir uns für die Zukunft überlegen, wie wir unsere Integrationspolitik gestalten. Wir müssen aufpassen. Wir dürfen nur eine kontrollierte und bedarfsorientierte Einwanderung zulassen. Auch unter dem Aspekt des demographischen Wandels dürfen wir nicht alle Türen und Tore öffnen. Hier erinnere ich mich an einen Satz, der mir immer wieder zu denken gibt: Wenn man nach allen Seiten offen ist, dann ist man nicht ganz dicht.
Deswegen sage ich: Wir müssen auch mit unserer Einbürgerungspolitik sorgfältig umgehen. Der deutsche Pass darf nicht inflationsartig verteilt werden. Die deutsche Staatsbürgerschaft darf von den Betroffenen auch nicht beantragt werden, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen. Der Antrag muss aus Überzeugung für die deutsche Staatsbürgerschaft gestellt werden. Denn wir wollen in Zukunft keine Ausländer mit deutschem Pass haben, sondern Deutsche mit verschiedener Herkunft.
Und hier will ich zum Schluss noch einmal betonen: Wer mit unseren gesellschaftlichen Werten, der Demokratie, dem Rechtsstaat, der Verfassung und dem Grundgesetz ein Problem hat, muss sich bitte zu seiner eigenen Zufriedenheit überlegen, ob Deutschland das richtige Land für seinen Lebensmittelpunkt ist. PUNKT.