Tichys Einblick
Land des unbetretenen Rasens

Das Syndrom Schweyk

Ein Teil des Mythos der Angela Merkel ist, viele Wähler sehen in dieser atypischen Politikerin zum Teil sich selbst, oder einen seltsamen Prototypen, der ein Gegenentwurf des idealen Herrschers sei, einen wie den braven Soldaten Josef Schweyk.

© Steffi Loos/Getty Images

Die Frustration steigt im Lager der „Konservativen“, die sich im Zuge dessen, was als „Flüchtlingskrise“ in die Geschichtsbücher eingehen wird, von der CDU entfremdet haben. Letzte Spitze der Qualspirale war der unbestreitbar klare Sieg der Union im Saarland als überraschender Schlusspunkt unter einer Entwicklung, an deren Ende ein neues „wutbürgerliches“ Lager die Niederlage und Abdankung der Kanzlerin herbeigesehnt hatte. Die am „rechten“ Rand der „Mitte“ Entwurzelten hätten es sogar hingenommen, wenn der Weiße Ritter der SPD, Martin Schulz, Angela Merkel sofort und unsanft vom Thron gestossen hätte.

Jedoch, es scheint nun anders zu kommen. Nach einem sehr breiten Furor der Empörung über offene Binnengrenzen und ansteigende Kriminalität, 2016/17 überlagert von immer alarmierenderen Berichten aus dem größten muslimischen Anwerbeland, der Türkei, hat die Regierung allen Kritiken zum Trotz wieder Oberwasser. Das Kanzleramt konnte sich zuletzt durch die Kreuzung von Klinge und  Krummsäbel, gesteigert in der bisher kaum gehörten Aussage, dass „auch Deutschland eine Ehre habe“ in Szene setzen. Was viele nur einer besseren Kontrolle über die Statistiken und die Berichterstattung zuschreiben, setzt sich schleppend und unter Qualen für der Union Abspenstige fort: Das Thema Flüchtlinge scheint „durch“, die Deutschen sind nach einer „Schrecksekunde“, in der die Republik vermeintlich islamisch unterwandert wurde, wieder dem Alltag zugewandt. Kommentar eines wütenden US-amerikanischen Lesers unter einem Artikel des WSJ zum Thema stärkerer deutscher Rüstungsanstrengungen: „Silence! Vee haff cars to build!“.

Rasen betreten verboten

Der von einem anfänglichen Rinnsal der Unzufriedenheit zum unwiderstehlichen Strom des Umsturzes anschwellende Volkszorn hat keine Tradition in Deutschland. Zuletzt brauchte es, wie 1918, einen verlorenen Weltkrieg, oder eine 1944 schon wesentlich entschlossener agierende Offiziersriege für einen Ansatz zu robustem „regime change“. Die Gelegenheiten, zu denen ein einiges Deutsches Volk die Maxime ausser acht gelassen hat, nach der die Revolution hinter der Pflege öffentlicher Grünanlagen zurückzustehen habe, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

Als bedeutsame Ansätze dazu kann man wohl an erster Stelle den Volksaufstand in der DDR 1953, dann mit weiten Abstrichen die Studentenproteste Ende der 60er und deren Anschlussveranstaltungen gegen Atomkraft, Nato-Beschlüsse und Volkszählung anführen. Mit etwas Mühe kann man Letztere als von großen Teilen der Bevölkerung „mit einer gewissen Sympathie betrachtet“ bezeichnen. Revolutionen waren sie nicht.

Wesentlich später gelang dann das Unerhörte: Eine mutige Bürgerbewegung brachte mit friedlichen Märschen ein marodes Regime zu Fall. Eine kolossale Umwälzung, die fast wie ein Wunder über Nacht hereinbrach und eine großartige Leistung sowohl der Regierenden (die ohne einen Schuss abzugeben die Segel strichen) als auch der Beherrschten, die sich beherrschen konnten und weder Flaschen noch Steine zur Bekräftigung ihres Protests zur Hand nahmen.

Wenn auch ähnlich verortet, der „Pegida“ blieb diese Erfüllung versagt. Fraglich, ob sie mit der Macht, wäre sie ihr vor kurzem in den Schoß gefallen, etwas hätte anfangen können. Die finanziellen Motive, die ein paar hundert Deutsche 2009 in Berlin auf die Straße brachten, lassen sich schwerlich auch nur unter Regierungskritik einordnen. Wie die durchaus beachtlichen Proteste 2010 zum Thema Stuttgart 21 im dortigen Schlosspark, bei denen auch der Rasen betreten wurde, sind diese Veranstaltungen nur Lokalnachrichten, die man als Regierung getrost dem Ordnungsamt überlassen kann.

Angela Merkel hat das „Signal von Saarlouis“ sicher zufrieden vernommen: zumindest im Saarland hat man ihr augenscheinlich schon vergeben. Die bohrende, ihre hartnäckigsten Kritiker fast in den Wahnsinn treibende Frage aber bleibt: Was macht diese Kanzlerin richtig, warum kehren ihr die Wähler nicht scharenweise den Rücken?

Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann

Glaubt man denen, die politische Macht in Deutschland als ausgeübten Machismo begreifen, dann muss sich eine Kanzlerin um die Stimmen aus dem weiblichen Lager keine Sorgen machen. A. Merkel kann sich der Mehrzahl der „women’s vote“ in Deutschland sicher sein. Vielleicht nicht der Stimmen der elegant gekleideten Dame aus wohlsituiertem Hause, aber auf jeden Fall von Lieschen Müller nebenan: Man darf nicht vergessen, dass die schärfsten Kanzlerinnenfresser – mit Ausnahme von Frau Petry – durchweg Männer sind (A. Schwarzer ausgenommen). Das weckt den in zehntausend Jahren Patriarchat geschärften weiblichen Widerspruchsgeist, der dann an der Wahlurne obsiegt. Die Kanzlerin schafft es, bei einem Teil ihrer Wählerinnen tatsächlich als Schwester im Geiste anzukommen, die ihr Tagwerk in einer männlich dominierten Welt so gerade einmal bewältigt – was nebenbei dann auch kleine Versehen wie eine versehentliche Grenzöffnung erklären und entschuldigen kann.

Angela Merkel hat außerdem etwas, das ihr nicht nur die Achtung ihrer Geschlechtsgenossinnen einträgt : Sie ist in ihrem Auftreten und ihrer Tonlage von einer geradezu fixierten, stoischen Berechenbarkeit. Diese Konstanz hat ihr wie kein anderer Wesenszug, wie bei einem guten Psychiater, eine treue und dankbare Anhängerschaft beschert, die den einschläfernden Grundton ihrer Sprache mit zäher Unterstützung belohnt. Nicht nur schont sie den Sehnerv der Öffentlichkeit seit Jahren durch eine sorgsam ausgewählte Garderobe in gedeckten Farben, sie macht auch weder durch Eskapaden noch verbale Ausbrüche (man erinnere sich an R. Pofalla) von sich reden. Sie ist so, wie sie sich öffentlich gibt, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Lokalanästhetikum auf die Nerven des Wahlvolks, dem Politiker aller Coulör sonst ständig mit eloquenten Tiraden ins Gewissen zu reden versuchen. Frau Merkel ist immer da, sieht immer gleich aus und sagt immer dasselbe: Ich bin da, sie kennen mich, ich bin verlässlich.

Gleich und Gleich gesellt sich gern

Auf der Suche nach einer ähnlich populären Figur, die es zu legendärer Beliebtheit gebracht hat, stößt man auf den Braven Soldaten Schweyk, jener Kunstfigur des tschechischen Autors Jaroslav Hašek. Sie wird bei Wikipedia wie folgt beschrieben:

„Schweyks Verhalten schenkt den Lesern Trost für erlebte Ungerechtigkeit und bietet ihnen die hoffnungsvolle Perspektive, dass eine gut gemeinte Absicht wichtiger sei als Ansehen oder vernunftbetonte Intelligenz, und ausreiche, um alles gut zu überstehen.“

Damit ist ein Teil des Mythos der Angela Merkel erklärt. Viele Wähler sehen in dieser atypischen Politikerin zum Teil sich selbst, oder einen seltsamen Prototypen, der ein Gegenentwurf des idealen Herrschers sei. Nahe genug, um sich für einen heimlichen Moment hineinprojizieren zu dürfen, hoch genug, um für Verehrung geeignet zu sein. Gebildet genug, um sie zu respektieren, linkisch genug, um auch über sie schmunzeln zu können. Gewitzt genug, um als bauernschlau durchgehen zu können, leutselig genug, um nicht verschlagen zu erscheinen. So gesehen ist A. Merkel die ideale Kanzlerin Deutschlands.

Emil Kohleofen ist freier Publizist.

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