Die Abwahl der niederländischen Regierung, die Mark Rutte immerhin 5 Sitze im Parlament in Den Haag kostete und die holländischen Sozialdemokraten mit einem Stimmenverlust von 19% quasi pulverisierte, wurde EU-weit als Sieg der „pro-europäischen“ Kräfte gefeiert.
Merkel pries die Wahl als überwältigendes Votum für Europa. Ausgerechnet Sozialdemokrat Gabriel war „froh und glücklich“ und sah diese Wahl als Signal, Europa jetzt weiterentwickeln zu können. Die Worte zeigen, wie groß die Angst der etablierten Politik war und wie sehr sie diese Wahl als Befreiungsschlag empfinden. Jetzt hoffen sie auf ein ebenfalls „pro-europäisches“ Ergebnis in Frankreich. Die „pro-Europäer“ werden deshalb in der wahrscheinlichsten Stichwahl Emmanuel Macron die Daumen drücken.
Beide Kandidaten haben sehr unterschiedliche Lösungsvorschläge für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Frankreichs. Während Le Pen ihren Bürgern mit dem Austritt aus dem Euro und einer restriktiven Handelspolitik die Abschottung von der rauhen Weltwirtschaft verspricht, setzt Macron auf höhere Transfers aus Deutschland. Anders als in Holland, wo die Migration das bestimmende Thema war, ist in den meisten europäischen Ländern die nach wie vor ungelöste Eurokrise das wichtigste Problem.
Diese Situation ist in den südeuropäischen Krisenstaaten der Eurozone viel präsenter als bei uns in Deutschland. Sie sorgt im Süden für politische Instabilität und ist damit existenzbedrohend für die gesamte Brüsseler Eurokratie. Die EZB und die EU haben in den letzten Jahren den Versuch unternommen, mit ihren Mitteln und sogar durch Übertretung des rechtlichen Rahmens Zeit für politische Reformen zu kaufen. Diese Politik war nicht erfolgreich und steht nunmehr vor dem Scheitern.
Keine tatsächlichen Reformen
Die Gründe für das Scheitern des Euro sind bekannt: Zunächst war es ein Fehler zu glauben, dass man die Bevölkerungen unterschiedlicher europäischer Länder und Regionen quasi per Dekret dazu bringen könne, ihre eigene Mentalität zu ändern und sich so zu verhalten wie die Deutschen. Die Wettbewerbsfähigkeit bleibt weiterhin kulturell bedingt unterschiedlich. Weiterhin sind die Mittel der EU nicht ausreichend, um die grundlegende Schwierigkeit der Überschuldung vieler Wirtschaftsteilnehmer zu lösen. Insbesondere für die grundlegende Neuaufstellung der maroden Bankensysteme fehlt Geld. Auch die Durchführung von Reformen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit kostet Stimmen und stockt. Anstatt Reformen durchzuführen, schieben die lokalen Politiker die Schuld gerne auf die EU und auf Deutschland.
Während in anderen Ländern die Gespenster der Arbeitslosigkeit und der Perspektivlosigkeit umgehen, hat man sich hierzulande eingerichtet. So sorgen nicht zuletzt die niedrige Arbeitslosigkeit und die hohen Gewinne der Industrie für Ruhe und für volle Staatskassen. Viele Menschen glauben der offiziellen Linie der Politik, dass die Euro-Krise überwunden sei. An die jährlichen Zahlungen für Griechenland haben viele sich bereits gewöhnt. Sie haben in ihrem täglichen Leben nicht das Gefühl, davon betroffen zu sein. Der schleichende Verlust ihrer Kaufkraft und ihrer Altersvorsorge durch Draghis Niedrigzinspolitik ärgert zwar die Menschen, bewegt sie aber nicht zu einer Änderung ihres Wahlverhaltens.
Wenigen ist bewusst, dass in den sieben Jahren von Merkels Rettungspolitik gewaltige Haftungssummen entstanden sind. Allein die Target II-Salden, die eine Mischung von deutscher Exportstärke und südeuropäischer Kapitalflucht darstellen, haben sich in dieser Zeit von rund 100 Mrd. auf jetzt über 800 Mrd. Euro verachtfacht. Eine marktwirtschaftliche Abwicklung der Schulden ist politisch heute kaum noch denkbar. Der politische Handlungsspielraum der deutschen Politiker sinkt mit jeder weiteren Steigerung der Haftungssummen und ihre Erpressbarkeit durch die Schuldner steigt.
Deutsche Schulden von 100 auf 800 Milliarden
Den deutschen Wählern ist bisher nicht klar, dass sie diese Schulden übernehmen werden müssen. Bisher haben Merkel und Schäuble den Deutschen versprochen, dass es im Euro keine Haftungsübernahme geben werde. Selbst eine Rückzahlung der griechischen Kredite haben sie hoch und heilig versprochen. Angesichts der Schuldenberge Südeuropas ist dieses Versprechen unhaltbar. Es geht also nicht mehr darum, ob Deutschland bezahlt, sondern nur noch um das ‚wie‘.
Im Gegensatz zu den Wählern dürfte den meisten Politikern die Brisanz der Situation durchaus klar sein. Zumindest die Karrieren vieler Politiker, eventuell die Zukunft der politischen Klasse hängen aber vom Erfolg der Rettungspolitik ab. Für die etablierte Politik stellt sich die Frage, ob es nicht besser wäre, den Weg des EU-Einheitsstaates zu gehen, wenn Deutschland doch sowieso zahlen muss? Ein Zerbrechen der beiden Systeme Euro und EU wäre für sie der größtmögliche Schaden, wobei eine Trennung von beiden gar nicht mehr in Erwägung gezogen wird. Ebenso wenig wie eine grundlegende Reform der EU. So lange die deutsche Bevölkerung über ihre eigene Rolle im Unklaren ist, scheint der bisherige Weg der schleichenden Vergemeinschaftung von Schulden wohl der am leichtesten gangbare.
Der Plan der „pro-europäischen“ Brüsseler Eliten, die illegitime Politik der EZB durch gewaltige offizielle Transfersysteme zu ersetzen, schreitet unterdessen voran. Einige Ideen wurden bereits im Jahr 2015 mit dem „Bericht der fünf Präsidenten“ vorgestellt. In der Plenarsitzung am 16. Februar 2017 hat das Europäische Parlament drei Papiere (Verhofstadt-Bericht, Bresso-Brok-Bericht, Entschließung zur Haushaltskapazität) abgestimmt, die eine Sammlung dieser Reformvorschläge enthalten. Kommissionspräsident Juncker hat am 1. März 2017 fünf mögliche Wege zu einer Reform der EU vorgestellt.
Zu gewaltigen offiziellen Transfersystemen
Die Inhalte der angedachten Reformen sind höchst problematisch. Sie schlagen gewaltige Umverteilungssysteme vor, um deutsches und nordeuropäisches Geld nach Südeuropa zu pumpen. Dazu zählen die Schaffung europäischer Steuern (Verhofstadt-Bericht, Bresso-Brok-Bericht), das Recht zur eigenständigen Steuererhebung durch das Europäische Parlament (Verhofstadt), die Schaffung europäischer Verschuldungskapazitäten (Verhofstadt, Entschließung zur Haushaltskapazität), die Abschaffung des Prinzips des angemessenen Kapitalrückflusses (Verhofstadt), die Schaffung einer europäischen Bankenabwicklung und Einlagensicherung (Bericht der fünf Präsidenten) bzw. Bankenunion (Verhofstadt). Dazu stehen weitere Vorschläge im Raum, wie die Idee der Einrichtung einer europäischen „Bad Bank“ zum Ankauf fauler südeuropäischer Kredite (Vorschlag von Andrea Enria, Chef der Europäischen Bankenaufsicht im Februar 2017), und viele weitere Vorschläge zur Zentralisierung der EU und zur Machtverlagerung nach Brüssel.
Das alles klingt absurd. Ist es realistisch oder nicht? Bisher jedenfalls fehlt die notwendige öffentliche Debatte. Zumeist wird über die Frage eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten diskutiert, eine Frage, die für viele Wähler sicher eher abstrakt und unverständlich ist. Viele Beobachter scheinen diese Reforminitiativen für nutzlos zu halten, weil sie die EU aktuell für reformunfähig halten. Weder eine stärkere Zentralisierung noch eine Dezentralisierung seien umsetzbar, und was ist am Status Quo überhaupt so schlecht?
Es darf aber keine Option sein, diese Vorschläge mit dem Hinweis abzulehnen, dass sie unrealistisch seien. Wir alle kennen das Juncker-Prinzip, das besagt „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Diese Vorschläge sind zu bedeutsam, als dass man sie nicht beachten dürfte. Praktisch das gesamte politische Establishment hat ein vitales Interesse, diese Ideen auch in die Tat umzusetzen. Es ist deshalb realistisch, dass einige dieser Reformvorschläge in dieser Legislatur des Europäischen Parlamentes, also vor Sommer 2019, dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden. Wenn nicht zumindest einige der angedachten Transfersysteme kommen, wird die politisierte EZB so lange Geld drucken müssen, bis das Geldsystem versagt.
Scheinberichterstattung
Zwar gibt es hier in Brüssel eine gewählte deutsche Opposition, aber es gelingt uns kaum, uns Gehör zu verschaffen. Zu gering ist das Interesse an Alternativen. Insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk macht eine Art Scheinberichterstattung. Dort werden als Opposition gerne FDP oder Grüne gezeigt, die aber beide sehr „pro-europäisch“ im Sinne der Institutionen der EU denken. Parteien, die nicht in den Rundfunkräten sitzen, werden dagegen nach Kräften boykottiert. Insofern erinnert das Ganze ein bisschen an die DDR-Volkskammer: an eine Scheinopposition der Parteien der Nationalen Front. Aus diesem Kreis gibt es keine öffentliche Kritik an den Reformvorschlägen.
Was der Wähler nicht weiß, das macht ihn nicht heiß. Die Kommunikationsstrategie ist klar: man informiert den Wähler nur über andere EU-Reformen, die in einem Gesamtpaket enthalten und damit leichter vermittelbar sind. Dann erinnert man noch an das europäische Friedensprojekt und verschweigt dabei die angedachten Transfersysteme. Ein Beispiel für diese Art der Kommunikation finden Sie in einem scheinheiligen Artikel von CSU-Mann Manfred Weber und Guy Verhofstadt im Focus mit dem Titel „So machen wir Europa besser.“
Diese Strategie könnte erfolgreich sein. Den meisten Bürgern in Deutschland ist nicht bewusst, welch Unwetter sich über ihnen zusammenbraut. Die große Koalition im EP bestehend aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP unterstützt oder toleriert diese Pläne. Sägt man doch nicht an dem Ast, auf dem man sitzt. Durch ihre Medienmacht können sie sicher sein, dass sie die Deutungshoheit behalten und bisher kaum Nachrichten über die eigentlichen Pläne der EU den Wähler erreichen. Eine kritische Debatte wird mit zwei Totschlagargumenten unterbunden:
- „Die EU und der Euro sichern den Frieden.“ Wer die heutige Ausprägung der EU, die etablierten Politiker oder den Euro in Frage stellt, wird zum Friedensgegner gemacht. Primitiver geht politische Argumentation kaum noch. Als hätte es vor dem Vertrag von Maastricht, der die Schaffung der Währungsunion vereinbarte, keinen Frieden gegeben.
- „Deutschland ist der große Profiteur des Euro.“ Ja, die Exportindustrie profitiert vom Euro. Die Rechnung für die verkauften Waren geht aber an den Steuerzahler. Es ist eine Umverteilung von unten nach oben, von den Sparern und Arbeitnehmern zu den meist ausländischen Aktienbesitzern. Dass ausgerechnet Martin Schulz für europäische Transfersysteme wirbt und sich gleichzeitig als Anwalt sozialer Gerechtigkeit darstellt, ist schon unglaublich.
Es hängt wohl an der Entscheidung des Bundestages und des Bundesverfassungsgerichtes, ob diese neuen Transfersysteme verhindert werden können. Betrachte ich in den letzten Wochen die Berichterstattung deutscher Medien über diese Reformvorschläge, bezweifle ich sehr, dass eine breite und ergebnisoffene gesellschaftliche Debatte stattfinden wird.
Ulrike Trebesius ist Europaabgeordnete (Liberal-konservative Reformer).