Die Bundesregierung ist verliebt … in Europa. Gut, erzählen Sie mal etwas Neues, werden die Leser sagen. Alles klar, wird gemacht. Denn wenn Sie sehen, wofür EU-Europa geliebt wird, wird es Sie entweder vor Lachen schütteln oder vor Unglauben die Handfläche vor die Augen halten lassen, ungläubig mit dem Kopf schüttelnd. In jedem Fall: schütteln. So zumindest erging es mir heute morgen, als ich das kurze Image-Video der Bundesregierung auf Facebook gesehen habe, begleitet von einem gefälligen Gitarrensolo:
„Weil wir frei reisen können, in Frieden leben, weil wir nachhaltig denken und Klimaschutz-Weltmeister sind – oder weil es hier überall einen bezahlten Mutterschutz von mindestens 14 Wochen gibt. Die Redaktion ist verliebt! In Europa. Welche Liebeserklärung machen Sie der Europäischen Union zum Sechzigsten?
#DeinEuropa
Im Sinne der Barrierefreiheit: Unser Video zeigt ein Bild mit dem Text „I love EU“, darum herum die EU-Flagge, wobei es sich nicht um Sterne, sondern um Herzen handelt. Anschließend kleben verschiedene Hände Post-Its auf das Plakat. Auf den Post-Its steht: „Weil …“, „… wir frei reisen können.“, „… Europa meiner Kaffeemaschine 2 Jahre Gewährleistung gibt.“, „… wir in Frieden leben!“, „… mein gebrochenes Bein auch in Italien vom Arzt versorgt wird, ohne Zusatzkosten!“, „… man sich in ganz Europa in einer einzigen Sprache durchschlagen kann: schlechtem Englisch :-)“. Am Ende klebt eine Hand ein Post-It mit einem Herz auf das Plakat.“
Fassen wir noch mal zusammen:
„I ♥ EU – weil…. wir frei reisen können.“ Ein wirklich guter Punkt. Das denken sich leider auch immer mehr illegale Grenzüberschreiter zur EU wie aktuell Tschetschenen, die mit uns 60 Jahre Europa feiern möchten – oder nicht? Auch Vertreter der spontanen Eigentumsübertragung erfreuen sich schon seit längerem des barrierefreien Grenzübergangs. Seitdem teilen leider aber auch immer weniger Menschen, die damit Bekanntschaft machen mußten, den ursprünglich wunderbaren Gedanken des freien Reisens. Jedes Jahr grob geschätzt ein paar Tausend weniger.
Weil ich, also ich jetzt, hallo, ich hier, ich auch gerne, wenn ich dann mal mit dem Auto durch Europa fahre, auch nicht so gerne lange an der Grenze zu Österreich oder den Niederlanden anstehen möchte – oder am Flughafen mehrfach meinen Pass hervorholen muss. Am Ende eines langen Tages einer Geschäftsreise z.B. nach London weiß man das ehrlich zu schätzen. Gleich zu lieben? Ich weiß nicht.
Und nun – seitdem auch unsere Nachbarn in Skandinavien wieder dazu übergegangen sind, die Grenzen zu kontrollieren?
„I ♥ EU – weil … Europa meiner Kaffeemaschine 2 Jahre Gewährleistung gibt.“ Okay…. 2 Jahre Gewährleistung auf die Kaffeemaschine. DAS ist natürlich ein Argument WOFÜR man die EU oder Europa, ach, wer macht hier noch den Unterschied, lieben muss. Dass man eine Gewährleistung mittlerweile auch auf bis zu fünf Jahre ausdehnen kann, zwar gegen ein kleines Aufgeld, aber immerhin, lassen wir außen vor. Dann müsste man noch den Media Markt lieben und wer will das schon. Mal abgesehen davon, dass ich persönlich weitaus mehr Menschen kenne, die über die EU wegen Glühbirnen- und Staubsaugerverordnungen schimpfen – oder lachen – oder beides. Kaffeemaschinengewährleistung also. (Wie haben die eigentlich diese eine Person gefunden, die die EU dafür liebt?)
„I ♥ EU – weil…. wir in Frieden leben!“ Dem ist nichts hinzuzufügen – oder doch? Siehe weiter unten.
„I ♥ EU – weil … mein gebrochenes Bein auch in Italien vom Arzt versorgt wird ohne Zusatzkosten!“ Früher gab es keine Reiseversicherung. Oder doch? Wer weiß es? Dass die Folgen eines Unfalls aber auch ohne Zusatzkosten behandelt werden können – einmal warmen Flausch für Europa.
„I ♥ EU – weil … man sich in ganz Europa in einer einzigen Sprache durchschlagen kann: schlechtem Englisch 🙂 “ Jetzt mal ehrlich: Das gilt aber auch für die ganze Welt, oder? (Zumal für schlechtes Englisch die EU nun wirklich keine Rolle spielt.)
Das sind also die Dinge, für die deutsche Mitbürger die EU oder Europa, ach, wer macht hier noch den Unterschied, lieben. Diese post it gewordene und zur Schau gestellte inhaltliche Leere macht lange erstmal wirklich sprachlos. „Nachhaltiges Denken und Klimaschutz-Weltmeister“, „bezahlter Mutterschutz von 14 Wochen“. Sind das die großen Errungenschaften der EU? Für die Europa geliebt wird?
Da wird es einem aufgeklebt, Zettel über Zettel: Eine große Planlosigkeit.
Über große Innovationen, starke Wirtschaft, über viele Vorteile für ehemals wirtschaftlich und strukturell schlechter gestellte Mitgliedsländer, die Freude über die Erhöhung des Lebensstandards unserer Nachbarn – nicht ein Wort. Ist das alles so weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen hierzulande?
Aber die großen Innovationen kommen auch eher von Deutschen im Ausland wie im Silicon Valley oder zwangspensionierten, ausgemusterten weißen männlichen Ingenieuren, die ihr Knowhow sehr bereitwillig nach China tragen.
Was hierbei fehlt, hier bei dem Post it Image-Kurzfilm wie aber auch im großen Ganzen, ist die große Idee. Es ist wunderbar in Frieden zu leben. Für die Erhaltung dieses Friedens muss auch eine Menge getan werden. Wie soll dieser Frieden also in den nächsten Jahren erhalten werden? Mit Antworten auf diese Fragen würde man die EU vermutlich weniger lieben. Aber damit, sich gegenseitig Post its mit ermutigenden Botschaften auf die Stirn zu kleben wie in einer Sendung von Jan Böhmermann, ist leider auch kein Blumentopf zu gewinnen.
Eine zweijährige Gewährleistung für Kaffeemaschinen wird als verbindendes Element für Europa und die EU nicht für weitere Jahre tragen.
Im Papier, das die 27 in Rom unterschrieben, steht nun die Formel von den verschiedenen Geschwindigkeiten. Eines aber fehlt: mit verschiedenem Tempo, na schön – aber wohin?