Die Zeit verstreicht gemächlicher in Petropolis, dem alten Kaiser- sitz hoch oben in den Bergen, zwei Stunden nördlich von Rio de Janeiro. Es ist Ende Februar. Da unten am Meer eine andere Welt: der Karneval mit seinen Trommeln und Tänzern, Umzüge im Sambodromo, Feiern in den Straßen. Ansonsten das Übliche: Streiks, Rentenreform, schwarze Kassen, die neuesten Korruptionsvorwürfe.
Hier oben, fern von alldem und gut 800 Meter höher, geht ein anderer Pulsschlag. Hier setzt nach einigen Tagen eine sonderbare Müdigkeit ein, eine Art Zauberberg-Müdigkeit; Nebelschwaden hängen über dem Tal, und vor der Terrasse färben sich die Blätter einer Goldfruchtpalme rot und welk.
Hier auf der überdachten Veranda hat Stefan Zweig gesessen und in den Regen gestarrt oder in den Nebel, der ihn und den Bungalow nicht selten einhüllte und aus der Welt nahm. Und hier hat er gearbeitet, zuletzt an einer Montaigne-Biografie, über das Problem des Selbstmords. Er schrieb, „das Leben hängt vom Willen anderer ab, der Tod von unserem Willen“. So tastete er sich an seinen eigenen Freitod heran.
Ich sitze mit dem Schriftsteller Joachim Lottmann, der über Zweig für die Welt schreiben wird, und seiner Frau Krista, die für das österreichische Profil unterwegs ist, auf dieser Veranda. Beide leben in Wien, Zweigs Heimatstadt, und beide fühlen sich hier oben an österreichische Sommerfrische erinnert, mit dem kleinen Flüsschen, den artigen Häuschen; überhaupt viel Österreich hier, denn in Petropolis steht auch ein Palast, und der hat viel von Schönbrunn, schließlich war der brasi- lianische Kaiser Dom Pedro I. mit einer Tochter Maria Theresias verheiratet.
Thomas Mann haderte mit Zweig
Die Frage der Fragen: Warum hat sich Stefan Zweig umgebracht? Er war in Sicherheit. Er war finanziell unabhängig. Petropolis, damals ein kleiner Ort, war die brasilianische Antwort auf Bad Ischl. Eigentlich alles da. Thomas Mann gesteht zum zehnten Todestag, dass er „damals mit dem Verewigten gehadert habe, wegen seiner Tat, in der ich etwas wie eine Desertion von dem uns allen gemeinsamen Emigrantenschicksal und einen Triumph für den Beherrscher Deutschlands sah“.
Lottmann sagt: Hitler war es. Das Private ist politisch. Ich sage: Das Alter war es und die Abgeschiedenheit und Abgeschnittenheit. Das Politische ist privat. Kein Zweifel, ohne Hitlers Terror hätte er nicht fliehen müssen, aber andere flohen auch, unter schlimmeren Bedingungen, viele, zu viele fanden den Tod.
Lottmann ist 57 Jahre alt. Er kann nicht wissen, wie man sich fühlt, wenn man die 60 überschritten hat, wie Zweig es getan hatte. Oder ich. Weshalb ich glaube, ihn besser zu verstehen. Zu seinem 60. schrieb er sich mit einem Gedicht unter dem Titel „Der Sechzigjährige dankt“ selbst Mut zu: „Linder schwebt der Stunden Reigen / Über schon ergrautem Haar …“ und endet in den Zeilen: „Nie liebt man das Leben treuer, / Als im Schatten des Verzichts.“ Doch seinem Tagebuch gestand er: „Als Sechziger ist man ohnehin doch schon unterhöhlt und halb erledigt. Ich will nicht mehr und zögere nur, diesen Willen umzusetzen.“
Wir haben Zweigs lebensgroße Pappfigur zu uns auf die Veranda gestellt, denn sein Haus ist mittlerweile ein Museum. Zweig steht vor uns, im Anzug, mit zweifarbigen Schuhen, und scheint sich zu amüsieren. Zur Entspannung schlage ich eine Partie Schach vor, denn unterhalb der Veranda ist ein Spiel mit großen Figuren aufgebaut.
Lottmann, als Neu-Wiener schon fast so vergeistigt und melancholisch, wie ich mir Zweig vorstelle, sagt sofort zu. Eine Spur zu hochmütig. Dann allerdings, genau um halb drei, fällt der Regen, wie in den Tagen zuvor. „Glück gehabt“, sage ich zu ihm.
Februar 1942. Gerade hat Zweig seine meisterhafte „Schachnovelle“ beendet, in der er Geist gegen Macht antreten lässt, und der Geist, der feine Baron von Basil, zerrüttet von einer Phase kompletter Isolation durch die Nazischergen, unterliegt. In der Filmversion von 1960 gewinnt er – in Gestalt von Curd Jürgens, der diesen feinen, kultivierten Widerständler mit Wiener Akzent verkörpert. Wohl eine der ulkigsten Fehlbesetzungen der Filmgeschichte:
Jürgens, der normannische Kleiderschrank, steht da zwischen zierlichen Rokokomöbeln mit einem Blick, der sie zu Streichhölzern zerkrümeln könnte.
Vor allem aber hat Zweig hier oben sein Meisterwerk verfasst, das autobiografische Buch „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers“, eine Art Testament, das er ohne jegliche Aufzeichnungen, Briefe und andere Gedächtnisstützen schrieb: Denn die waren über alle Welt verstreut.
Bereits 1936, noch vor dem Anschluss Österreichs, hatte er sich ja im englischen Bath ein Haus gekauft, als später Bomben auf London fielen, zog er weiter nach New York, überall warf er weiteren Besitz ab. Alle Brücken hatte er hinter sich abbrechen müssen, nun saß er auf der Terrasse im verlorenen Winkel eines Landes, der Sprache nicht mächtig.
Er reiste, nach Indien und Ceylon und in die USA, er übersetzte Verlaine und Baudelaire, den Belgier Emil Verhaeren, Rilke zählte bald zu seinen Freunden, Wien war Weltstadt. Europa war für ihn in erster Linie: Kultur.
„Das unmögliche Exil“
In der soeben erschienenen Monografie „Das unmögliche Exil“ erzählt der jüdisch-amerikanische Autor George Prochnik, dessen Großeltern in Wien lebten, von Zweigs letzten Tagen. Zum Karneval war Stefan Zweig mit seiner Frau Lotte noch einmal ins heiße Rio hinuntergefahren, begeistert hatte er darüber in Briefen geschrieben, „eine ganze Stadt vier Tage tanzen, umherziehen, singen zu sehen, ohne Polizei, ohne Zeitungen, ohne Kommerz – eine Menschenmenge nur durch die Freude vereint“. Er liebte den Überschwang, „in seiner Prosa die Ekstase jedes ein-
Stefan Zweig und seine zweite Frau Charlotte, genannt Lotte (1909–1942)
zelnen Moments“, doch um ihn ins Leben zurückzureißen, kam er zu spät.
Vielleicht verstand er auch dort erst, wie wenig er dazugehören würde. Diese so ganz fremde Exaltiertheit, das Paddampaddam der „batterias“, der Trommelsektionen der Sambaschulen, die Rufe und Gesänge der Sambistas … irgendwann spürt man als Europäer die Traurigkeit der Tropen.
Stefan Zweig und seine Lotte kehrten zurück in ihren Bungalow in den Bergen und verteilten letzte Habseligkeiten. Sie kehrten zurück, um zu sterben.
Stefan Zweig war abgeschnitten. Er hatte sich selbst abgeschnitten. Der Regen mit seinen Silberschnüren hier in Petropolis war ein letzter Vorhang über dem grausigen Welttheater, dem er nicht länger zuschauen konnte.
Das Museum wird von Kristina Michahelles geleitet. Sie hat die meisten der Zweig-Werke übersetzt. Kein leichtes Unterfangen. „Die vielen Adjektive“, sagt sie lächelnd.
Tatsächlich geht Zweig mit ihnen bisweilen so sorglos um wie der Kellner mit der Puderzuckerdose über dem Kaiserschmarren. Etwa sein Essay über Kleist: „Immer mengt er jeder Gefühlsregung das brennende Salz seiner übertriebenen Sinnlichkeit bei, immer verwirrt er so die Empfindungen … Aber eben weil Kleist sexuell so vieldeutig, so problemhaft und gerade darum vielleicht, weil er da physisch nicht ganz vollwertig und einlinig war, übertrifft er alle anderen Dichter um ihn an erotischem Wissen.“ Da kapiert man endlich den großartigen Reaktorunfall seiner „Penthesilea“.
Kraus spottete über „Erwerbszweig“
Zusammen mit Essays über Hölderlin („Wie ein flüchtiger Sonneblick zwischen lastendem Gewölk glänzt in dem einzig erhaltenen Frühbild Hölderlins Gestalt …“) und Nietzsche („Seine Einstellung zur Wahrheit ist eine durchaus dämonische, eine zitternde atemheiße, nervengejagte, neugierige Lust, die sich nie befriedigt und nie erschöpft …“) bildeten sie das Buch „Kampf mit dem Dämon“. Ein weiteres hat er den „Drei Meistern“ gewidmet: Balzac, Dickens, Dostojewski. Balzacs „Oberst Jabert“ hat er für den „Reader’s Digest“ verarbeitet. Er kannte keine Hemmungen, wenn es galt, die Goldbestände der Literatur in kleinen Münzen unter die Leserschaft zu bringen.
Das Schlafzimmer hinter der Veranda war klein, die Bettgestelle passten so gerade eben hinein. Auf diesen Betten fand man ihn mit seiner Frau am Nachmittag des 23. Februar. Er, gerade 61 Jahre alt geworden, frisiert, mit korrekt gebundener Krawatte, die Hände über der Brust gefaltet, an seiner Seite Lotte, an ihn geschmiegt, mit ihren 33 Jahren so viel jünger, einen Arm hat sie um ihn gelegt, seine Hand ergriffen.
Ein Rätsel blieb am Schluss: Ihr Körper war noch warm, als sie gefunden wurden, sie hat sich erst später zu ihm gelegt. Er hat den ganzen Vorrat an Veronal aufgebraucht, sie nahm grausameres Gift. Was hat sie noch umgetrieben, nachdem er in den tiefsten Schlaf gefallen war? Lotte war seine zweite Frau, seine erste, Friederike, hatte sie ihm einst als Sekretärin besorgt, ein schüchternes junges Mädchen, in das er sich verliebte und sie sich in ihn.
Hat sie sich noch einmal auf die Terrasse gesetzt und ins grüne Tal geschaut, hinunter zum Café, wo er sein Frühstück nahm? Ein Leben ohne ihn mochte sie sich nicht vorstellen.
Auf dem Tisch lag seine letzte Erklärung. Noch einmal dankte er dem „wundervollen“ Gastland. „Nirgendwo hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut“, schrieb er, doch seine Kräfte seien „durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft“. Und dann, nicht ohne Zukunftspathos: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“
Er hatte sich einen stillen Abschied gewünscht, doch nachdem sich die Nachricht von seinem Tod verbreitet hatte, wurde sein Bungalow von Tausenden Trauernden belagert. Getulio Vargas, für den Zweig sein Brasilien-Buch geschrieben hatte – in der (später enttäuschten) Hoffnung, dass der Diktator sein Land für die Flüchtlinge aus Europa öffnen möge –, ordnete Staatstrauer an. Der Schriftsteller wurde in Petropolis unweit des letzten Kaisers bestattet.
Was für ein sonderbarer Heiliger hier gestrandet war, dieser k.u.k.-Dichter mit seiner federleichten Erzählkunst, seiner leidenschaftlichen Essayistik. Alles schien ihm zuzufliegen, ja das Schicksal lächelte über seinen jungen Jahren. Als Sohn aus reichem Industriellenhaus musste er sich um Finanzielles nie Gedanken machen – er lebte auf großem Fuß schon als Student.
Freundschaften fielen ihm zu, Freundschaften suchte er, wie die zu Theodor Herzl, der ihn in seinem Feuilleton der Neuen Freien Presse veröffentlichte. Später dann Sigmund Freud, von dem er die Kunst der Seelenerkundung lernte. Die Welt der Musik: Bruno Walter und Arturo Toscanini standen in seinem Adressbuch, Richard Strauss, für den er ein Operlibretto schrieb. „Er war ein Genie der Freundschaft“, schrieb Richard Friedenthal später über ihn.
Nun saß er auf der Terrasse, abgeschnitten von seinen Freunden, seinen Büchern, und der Regen fiel.
Einst besaß er ein Haus auf dem Kapuzinerberg in Salzburg, Beethovens Schreibtisch stand dort, an der Wand hing Goethes „Maigedicht“ in der Handschrift des Meisters, in einer feuerfesten Truhe lagen Werkmanuskripte von Novalis, Schiller, Dostojewski, Hölderlin, Whitman und anderen sowie Notenschriften von Bach, Mozart, Schubert, er sammelte mit erlesenem Geschmack, er sog Kultur auf. Das alles war nun fort, verschwunden in dunkler Nacht. Fort auch seine Sprache, sein Publikum, seine Leser.
Er hatte sie leichthändig erobert, seine Novellen hatten Spannung und Plots und oft einen Ton der Verzweiflung, viele davon wurden vefilmt. Die „Verwirrung der Gefühle“ etwa oder „Das brennende Geheimnis“, in dem ein kleiner Junge in der Sommerfrische die Verführung seiner Mutter durch einen Galan vereitelt und Hass und Liebe in ihren elementarsten Zuständen kennenlernt. Da sind auch die „Sternstunden der Menschheit“, in denen er erzählte, wie dem alten verschuldeten Händel der „Messias“ mit dem nicht endenden „Halleluja“ zufiel, oder Lenins Fahrt im versiegelten Zug zur Oktoberrevolution, die Eroberung von Byzanz oder die Weltminute von Waterloo.
Was für eine Irrfahrt lag hinter ihm – auch eine ideologische. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er begeistert wie alle, und er schrieb an die „Freunde in Fremdland“: „Mit beiden Fäusten muss Deutschland jetzt zuschlagen, der doppelten Umklammerung seiner Gegner sich entwinden.“ Doch er kühlte sich ab und begann seinen Ekel vor dem Schlachten, dem er durch eine Versetzung ins Kriegsarchiv entgangen war, mit seinem pazifistischen Drama „Jeremias“ in biblische Worte zu kleiden.
Nun war er entschlossener Pazifist und befreundet mit Romain Rolland, dem französischen Friedensnobelpreisträger, und als die Zeiten sich erneut zu verdunkeln begannen, wurde er zur Anlaufstelle für Freunde und unbekannte Verzweifelte, er half, wo er konnte, schrieb Gesuche und Einladungen, besorgte Visa, rieb sich auf für die Unglücklicheren, weil Mittelloseren.
Ein Held war er nicht, dieser Stefan Zweig. Er war kein Märtyrer des Widerstands. Er war depressiv, hatte eine „schwarze Leber“, wie ein Freund schrieb. Sein Ende war kein politischer Protest gegen Hitler, kein Fanal, sondern ein lang überlegter Schritt.
Sicher, er war Humanist und er sah in Erasmus seinen Geistesbruder über Jahrhunderte hinweg. Erasmus, Gegenspieler des polternden Luther. Letzterer: „Bergmannsohn und Bauernnachfahr, gesund und übergesund, bebend und geradezu gefährlich bedrängt von seiner gestauten Kraft … ein prallvolles und übervolles, ein fast berstendes Stück Leben, Wucht und Wildheit eines ganzen Volkes, gesammelt in einer Überschussnatur“ (wie man das wohl übersetzt, Kristina Michahelles?!).
Dagegen Erasmus. Mehr Horizont, aber weniger Tiefe. Was bei Erasmus „feiner geistiger Reiz“ ist, wird bei Luther „sofort zur Parole“. Bildung und Kultur waren für den Humanisten Erasmus/Zweig (so identifizierte er sich) Mittel gegen die Barbarei des Krieges, doch Zweig sah auch die Schwächen: „Der organische Grundfehler des Humanismus war, dass er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen.“ Und mehr: „Denn dies war die tiefste Tragik des Humanismus und die Ursache seines raschen Niederganges: Seine Ideen waren groß, aber nicht die Menschen, die sie verkündeten. Ein kleines Gran Lächerlichkeit haftet diesen Stubenidealisten wie immer den bloß akademischen Weltverbesserern an, dürre Seelen sie alle, wohlgesinnte, honette, ein wenig eitle Pedanten …“
Zweigs „Erasmus“ könnte durchaus als Kritik am linken Establishment von heute durchgehen, wenn er über den Humanismus schreibt: „Weil er es für unwürdig hielt, um die Gunst der Masse zu buhlen … hat der Humanismus immer nur für die happy few und niemals für das Volk existiert …“ Vielleicht Stefan Zweigs bestes, auf alle Fälle aktuellstes Buch, dieser „Erasmus“, in Zeiten, in denen ein vom Volk gewählter Präsident in Amerika auf die näselnde und dann auch wutentbrannte Aversion der „Humanisten“ weltweit trifft.
Wie auch immer, der Regen wird auch morgen wieder fallen in Petropolis, über dem Kaiserpalast genauso wie über der verwaisten Veranda vor dem Bungalow am Hang, beständig und gleichgültig, als ob nie etwas geschehen sei.
„Was aber bleibet, stiften die Dichter“, so heißt es in Hölderlins „Andenken“. Was von Stefan Zweig bleibt, sind seine Bücher. Und die Erinnerung an ein Europa, das mondän war und gebildet und kosmopolitisch – eine Geisteshaltung eben und nicht eine Vorschrift von Bürokraten.
Von Matthias Matussek.