Ein paar Minuten lang hofft man tatsächlich, dass dies eine erfrischend andere Talk-Show werden könnte. Ausnahmsweise kein klassisches „Vier gegen Willy“, bei dem ein Mainstream-Rudel einen Außenseiter – bevorzugt Vertreter der AfD – öffentlich zerfleischt. Man lässt sich aussprechen und diskutiert relativ unaufgeregt in der Sache.
Doch je länger der Abend, desto anstrengender. Und das bekommt vor allem der BSW-Vertreterin gar nicht gut. Sie lässt die Manieren links liegen (was für eine Linke ja eigentlich recht bemerkenswert ist, aber das nur nebenbei) und unterbricht vor allem den AfD-Mann Jörg Urban, Partei-Chef in Sachsen, wann immer sie kann. Und das sehr dreist.
AMA, so wollen wir sie im Weiteren nennen, um das weltberühmte Box-Idol in Frieden ruhen zu lassen, AMA also ist im Abgrenzungsfieber. Allein die Tatsache, dass Markus Lanz die ein oder andere Parallele zwischen ihrer Partei BSW und der AfD zieht, macht ihr schwer zu schaffen. Sie beschließt, Urban zu unterbrechen, wann immer es geht, oder penetrant etwas im Hintergrund zu murmeln, sobald er auch nur den Mund aufmacht. Damit wird sie zum unentspannten Gegenbild einer Sahra Wagenkecht.
Um ihr und dem AfD-Mann Kontra zu geben, dafür sind die beiden anderen Gäste zu blass. „Militärexperte“ Sönke Neitzel kann mit seinen Stahlhelmparolen zum Ukraine-Krieg keine Treffer landen, und „Zeit“-Vizechef Martin Machowecz schafft es, sich mit wenigen Redebeiträgen auf wirklich bemerkenswerte Weise als ernstzunehmender Journalist zu disqualifizieren.
Dass BSW und AfD den Ukraine-Krieg lieber heute als morgen mit einem Waffenstillstand beenden möchten, damit Friedensverhandlungen beginnen, gibt der Sendung eine ungewohnte Aura. Plötzlich ist Neitzel, ein Befürworter weiterer Waffenlieferungen, in der Minderheit. Das kannte man bisher nicht.
Doch Neitzel gibt sein Bestes: Warum solle Putin auf einen Waffenstillstand eingehen?, fragt er. Man müsse für die Ukraine „eine Position der Stärke aufbauen“. Seine Prophezeiung kennen wir seit Jahren: „Ohne Unterstützung wird dieses Land zusammenbrechen.“
Dem Feldherrn-Gerede nimmt Urban die Feuerkraft: „Das wird hier ein bisschen wie ein Pokerspiel betrachtet. Dort sterben jeden Tag Tausende Menschen. Jetzt zu sagen, wir machen das einfach noch ein paar Monate, dann haben wir vielleicht eine bessere Verhandlungsposition, das ist nicht meine Sichtweise. Ich möchte, dass das Sterben auf-hört.“
„Also Frieden gegen Freiheit“, ätzt Neitzel. Urban: „Mir ist wichtig, dass die Menschen nicht mehr sterben.“ Neitzel: „Die Ukrainer sehen das anders.“ Da wird es dem AfD-Mann zu viel: „Sie wissen aber auch, dass wir in Europa 600.000 Flüchtlinge haben, die nicht kämpfen wollen. Sie wissen, dass die Grenze geschlossen ist für Männer. Die dürfen nicht aus dem Land raus. Die werden zum Teil zwangsweise eingesammelt und an die Front geschickt.“ Neitzel bleibt trotzig: „Aber die Mehrheit kämpft.“ AMA murmelt.
Interessant an dieser Stelle, wie Lanz versucht, Urbans Expertise kleinzureden. Der Mann hat in Sankt Petersburg studiert, seine ukrainische Frau stammt aus dem Donbass, er hat zahlreiche enge, teils familiäre Kontakte in beide Länder. Das kann Lanz nicht wegdiskutieren, und dennoch hängt er die eigene Expertise höher. Schließlich sei er schon dreimal in der Ukraine gewesen. Schwache Show. Lanz war schon mal souveräner.
Die Ukraine sei seit Jahren gespalten, erklärt Urban. Der Osten wähle komplett anders als der Westen. „Diesen Riss kann man an den Wahlergebnissen ganz klar sehen.“ Lanz kann dem nichts entgegensetzen, nur: „Ich bin immer so’n bisschen sprachlos, wenn ich das höre.“ Der Zuschauer denkt: Das wäre vielleicht wirklich ganz gut. Stattdessen aber sagt Lanz, er selbst könne jederzeit in die Ukraine reisen und frei berichten, das sei in Russland sicher anders. Urban erinnert ihn: „Sie wissen schon, dass es in der Ukraine keine regierungskritischen Medien mehr gibt? Die sind verboten.“
Eine ähnliche Schwächephase durchlebt Lanz später, als er vergeblich versucht, Urban als heimlichen Solaranlagen-Fan zu enttarnen. „Ich habe keine Solaranlage“, sagt Urban völlig unaufgeregt, und man spürt förmlich, wie das ganze, schön vorbereitete Bashing-Kartenhaus des Moderators implodiert. Doch auch Urban hat fragile Momente. Als er sich weigert, trotz vieler, bis zur Schmerzgrenze wiederholter Nachfragen den russischen Präsidenten Putin klar als „Kriegsverbrecher“ zu betiteln, kommt das in der Runde nicht gut an. Urban bleibt dabei: „Fragen Sie mal Donald Trump. Ich glaube, der würde Ihnen die Frage ähnlich beantworten wie ich.“
Neues Thema, wie so oft an diesem Abend. Denn sobald es ins Detail geht, rettet sich Lanz in Whataboutism. Jetzt wiederholt er die umstrittene These, Putin habe „uns das Gas abgedreht“. Urban kontert: „Wenn diese Aussage stimmen würde, dann gäbe es die Angebote nicht, weiter Gas zu liefern. Es ist ja nicht so, dass die sagen: Ihr kriegt nichts mehr.“ Machowecz sieht ganz andere Aspekte. Der Stopp russischer Gaslieferungen sei für Deutschland gar nicht das Problem, denn: „Was uns massiv geschadet hat, war die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen.“ Wenn die AfD jetzt sage, man werde die russischen Gaslieferungen nach einem Wahlsieg sofort wieder aufnehmen, sei das absurd. „Ein Signal der Schwäche!“, ruft Neitzel. Er kann nur Kriegsvokabular.
Überhaupt Elon Musk: Dass der bei X die staatlich verordnete Zensur beendet hat, stimmt nach Aussage des „Zeit“-Vizechefs gar nicht. „Zu behaupten, Musk habe Twitter befreit, das ist ja nun wirklich hanebüchen“, sagt Machowecz. Er kennt offenbar die Fakten nicht, und auch nicht die jüngsten Aussagen des Meta-Chefs Mark Zuckerberg im Podcast von Joe Rogan. Ach ja, und die verheerenden Brände in Los Angeles, die sind für Machowecz eine Folge des Klimawandels. Klar…
In Sachen Nudging steht ihm AMA in nichts nach. Sie holt die altbekannten Gefahren der Kernkraft aus der Kiste, malt unendlich große Endlager und Atompilze an die Wand. Urban bringt sie und die Runde auf den neuesten Stand. Moderne Reaktoren seien sicher und würden sogar den bisherigen Atommüll verarbeiten, denn „da ist ja noch unheimlich viel Energie drin. Damit löst sich die Problematik in Luft auf“.
AMA atmet schwer. Der Zuschauer auf.