Tichys Einblick
Wahlkampf ohne Politik

Scholz, Habeck, Merz: Die Kanzlerkandidaten verleugnen sich selbst

Die Vormänner von Union, SPD, Grünen und auch FDP verstecken ihre eigene politische Vergangenheit. Sie wollen nicht dafür verantwortlich sein, wofür sie verantwortlich sind. Die Spitzenfrauen von AfD und BSW fahren einen zumindest ehrlicheren Kurs.

picture alliance/dpa | ----

Auf den ersten Blick haben Politik und Physik nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick stimmt das nicht mehr, denn es gibt so etwas wie die Physik der Politik. Nehmen wir eines der wichtigsten Theoreme der Quantenmechanik: die Heisenbergsche Unschärferelation. Sie besagt (in für Fachleute schmerzhaft verkürzten Worten): Ein Gegenstand verändert sich allein dadurch, dass er beobachtet wird.

Das gilt auch in der Politik, und dort nirgendwo so sehr wie im Wahlkampf.

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„Wäre hier keine Presse vor Ort, würden die Fetzen fliegen.“ So ließ sich ein Delegierter des SPD-Sonderparteitags am vergangenen Samstag zitieren. Da wurde Bundeskanzler Olaf Scholz erneut zum sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl am 23. Februar gekürt. Nicht per Wahl, sondern per Akklamation.

Das Motto war: Bloß keine geheime Abstimmung. Die hätte gewisslich offenbart, wie unzufrieden die Partei mit ihrem Mann im Kanzleramt in Wahrheit ist. Auf einem verdeckten Stimmzettel lässt sich Unmut leichter ausdrücken als beim offenen Handaufheben. Da können nicht nur alle Genossen im Saal sehen, wenn man bei „Nein“ den Arm hebt, sondern auch die ganze Medienmeute.

Welcher Parteitagsdelegierte will schon daran schuld sein, wenn dann über eine „zerstrittene“ und „uneinige“ Partei berichtet wird? Natürlich ist die Partei tatsächlich zerstritten und uneinig, nur zeigen will man es halt nicht. Also stimmt man im Nominierungsverfahren „Akklamation“ anders ab, als man eigentlich will – und das nur, weil man dabei beobachtet wird.

Heisenberg eben.

Kenner wissen auch um den sogenannten Parteitags-Quotienten. Das ist das Verhältnis von Tagungsdauer zu Anfahrtszeit. Für nicht wenige der 600 Delegierten, die der Parteivorstand nach Berlin einbestellt hatte, war das diesmal ein Wert deutlich unter null. Denn die als Parteitag getarnte Olaf-Scholz-Krönungsmesse war nach weniger als fünf Stunden schon wieder vorbei. Dafür hatten viele brave Parteisoldaten aus Bayern oder Baden-Württemberg oft sieben Stunden im Zug gesessen – pro Strecke, versteht sich.

Zu allem Überfluss führte ihnen Olaf Scholz ein seltenes Kunststück der Selbstverleugnung vor. Der Mann, der in den vergangenen drei Jahren Kanzler war, tat so, als hätte er mit der Politik seit 2021 nichts, aber auch gar nichts zu tun. Er forderte Dinge, die er in dieser Zeit als deutscher Regierungschef natürlich längst selbst hätte umsetzen können: „Die Leute wollen, dass unsere Wirtschaft erfolgreich ist.“. Und er kritisierte Dinge, die es überhaupt nur wegen des segensreichen Wirkens seiner eigenen Ampel-Koalition gibt: „Die Leute machen sich Sorgen über gestiegene Preise.“

Der Kanzlerkandidat, der nebenbei amtierender Kanzler ist, distanzierte sich von sich selbst.

Das ist bemerkenswert. Normalerweise erwartet man von Top-Politikern ja, dass sie ihre eigenen Leistungen in den allerleuchtendsten Farben malen und Super-Bilanzen des eigenen Wirkens vorlegen. Scholz malte nur in Grau, und auf eine positive Bewertung seiner Kanzlerschaft verzichtete er ganz.

Am meisten irritiert dabei, dass seine Konkurrenten es genauso machen.

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Robert Habeck ist seit 2021 nicht nur Vizekanzler, sondern vor allem Wirtschaftsminister. Doch auch der Grüne, mittlerweile ja ein recht rüder Alleinherrscher in seiner Partei, will offenbar mit seinem Staatsamt nach Möglichkeit nicht in Verbindung gebracht werden.

Der Wahlkampf des amtierenden Wirtschaftsministers Habeck findet ohne das Thema Wirtschaft statt. Er redet in perfekt ausgeleuchteten Küchen mit aufwändig gecasteten Gesprächspartnern, die allerdings wenig mehr sind als Stichwortgeber für den grünen Superstar. Er redet über die Gruppengröße in Kitas, über Sport nach der Arbeit, über Gott und die Welt.

Nur nicht über die deutsche Wirtschaft.

„Bündniskanzler. Ein Mensch. Ein Wort.“ Das ist der Top-Slogan von Habeck (und also auch von seinen Grünen). Seinen Drang an die Spitze der deutschen Regierung unterlegt der 55-Jährige dabei ausdrücklich nicht inhaltlich:

Screenprint/Facebook

Das ist kein Wahlkampf mehr, das ist Wahnkampf. Selbst die ansonsten durchaus Grünen-affine Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ mag sich da nicht mehr beherrschen und veröffentlicht eine recht drastische Kritik.

„Diese Betonung auf den Menschen im ‚Team Robert‘, eine ebenfalls anbiedernd-peinliche Konstruktion, ist der reine Kitsch und vor dem Hintergrund der eigentlichen Ziele der Grünen (mehr als 14 Prozent, Bündnispartner werden, selbst in einer Regierung mit der CDU/CSU) entleert es das Menschliche im Menschen zusätzlich.“

Der Kanzlerkandidat Robert Habeck will mit dem Wirtschaftsminister Robert Habeck auf keinen Fall verwechselt werden – so wie der Kanzlerkandidat Olaf Scholz auf keinen Fall mit dem Kanzler Olaf Scholz verwechselt werden will.

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Der dritte Ampel-Mann ist Christian Lindner, und der macht es genauso.

Zur Erinnerung: Von Dezember 2021 bis November 2024 war der FDP-Chef Bundesfinanzminister. In dieser Zeit hat der Bund nach offiziellen Angaben 181,6 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Das sind für jeden Menschen in Deutschland rund 2.157 Euro, vom Säugling bis zum Greis.

Vermutlich waren „Haushaltskonsolidierung“ und „solide Staatsfinanzen“ der zweit- und der dritthäufigste Begriff im Wortschatz des 45-Jährigen während seiner Zeit im Kabinett (der unangefochten häufigste war „Ich“). Das könnte ein Grund sein, weshalb auch Lindner sich jetzt im Wahlkampf von seiner eigenen Rolle in der Bundesregierung selbst distanziert.

Auf dem traditionellen Drei-Königs-Treffen seiner Liberalen redet Lindner insgesamt 75 Minuten. Davon verwendet er keine fünf Minuten auf den enorm wichtigen Politikbereich, für den er drei Jahre lang zuständig war. Und die fünf Minuten verteilt er auf kleine Häppchen über die ganze Rede. Lieber spricht der Mann über Wirtschaftspolitik. Er benutzt das Wort „Defizit“ ausschließlich im Zusammenhang von „Defizit an Zuversicht“. Vom trockenen Feld der Finanzpolitik flüchtet sich der dort nachweislich nur mäßig erfolgreiche Berufspolitiker auf die saftigen Weiden des allgemeinen und unbestimmten Optimismus.

„Alles lässt sich ändern, wenn wir nur wollen.“ Das ist Lindners Motto. Alles lässt sich ändern – vielleicht ja auch die Vergangenheit? Dann wird niemand mehr daran erinnert, wer in den vergangenen drei Jahren für die Staatskasse verantwortlich war.

Der Spitzenkandidat Christian Lindner will mit dem Ex-Finanzminister Christian Lindner auf keinen Fall verwechselt werden.

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„So nehmet auch mich zum Genossen an.

Ich sei, wonach ich stets gierte: in eurem Bunde der Vierte.“

So würde Friedrich Merz wohl Schillers „Bürgschaft“ abwandeln. Tatsächlich kopiert der Kanzlerkandidat der Union den Wahlkampfansatz von Scholz, Habeck, und Lindner: Er setzt sich so weit, wie es nur geht, von dem ab, was er in den vergangenen drei Jahren als Oppositionsführer vorgetragen hat.

Da hatte er noch einen „wesentlichen Wandel in der Migrationspolitik“ gefordert. Auch eine „Wende in der Wirtschaftspolitik“ wollte er, insgesamt einen „Politikwechsel“. Der allerdings ist mit der Auswahl an möglichen Koalitionspartnern, auf die Merz sich selbst durch die Brandmauer beschränkt, absehbar ausgeschlossen.

Ohne Regierungspartner wird Merz nicht Kanzler. Nur mit der FDP wird es nicht klappen – die Liberalen dürften ja noch nicht einmal den Sprung ins Parlament schaffen. Also bleibt nur ein Bündnis mit der SPD oder den Grünen – wenn es schlecht läuft, sogar nur ein Bündnis mit beiden. Dann würde Merz zwar Kanzler, aber in einer Koalition mit zwei Dritteln der bisherigen Ampel. Und ausgerechnet mit diesen Partnern will er für Wandel, Wende und Wechsel sorgen?

Das glaubt inzwischen nicht einmal mehr der treueste Unionsanhänger.

Auf der Klausurtagung der Christdemokraten in Hamburg hat jüngst Renate Köcher, Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, bestätigt: Jede Koalitionsdebatte sei „toxisch und hochgefährlich“ für die CDU. Denn wenn die Wähler sich erst einmal intensiver fragen, mit wem Merz zusammengehen will, dürfte die Frage nicht weit sein, was für eine Politik er denn mit diesen Partnern überhaupt machen könnte. Da würde auch der Dümmste irgendwann merken, dass dem Herrn Merz für seine Forderungen schlicht die Mitstreiter fehlen.

Und so will auch der Kanzlerkandidat Friedrich Merz auf keinen Fall mit dem Oppositionsführer Friedrich Merz verwechselt werden

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In diesem Wahlkampf sind die Herren der Schöpfung, pardon, sämtlich ein selbstverschuldeter Totalausfall. Die beiden Damen im Spiel mischen den Laden dagegen ordentlich auf – denn sie setzen beide tatsächlich auf Politik.

Es geht nicht darum, dass man die Inhalte mögen muss, mit denen Alice Weidel und Sahra Wagenknecht um Wähler werben. Es geht darum, dass sie überhaupt Inhalte anbieten – und zu denen auch dann stehen, wenn der Wind kräftig von vorne bläst.

Grenzschließungen, illegale Migranten abschieben, Windräder abreißen, unbedingte Meinungsfreiheit: Mangelnde Klarheit kann man Weidel auf dem AfD-Parteitag in Riesa nun wirklich nicht absprechen. Da sagt sie das, was sie seit Jahren sagt.

Sie verschweigt es eben nicht verschämt – anders als Scholz, Habeck, Lindner und Merz.

Beim Parteitag vom „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) bleibt auch dessen Gründerin und Namensgeberin sich selbst treu. Sahra Wagenknecht bekennt sich zum Sozialismus, zu Deutschland als Industrieland, zu billiger Energie, zu einer wesentlich härteren Migrationspolitik und zu einem besseren Verhältnis zu Russland.

Deutschlands grün-linker Zeitgeist verteufelt sie dafür seit langem. Aber Wagenknecht wackelt da nicht. Fehlende Klarheit und mangelnde Konsequenz wird man auch ihr nicht vorwerfen können.

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Das unterscheidet AfD und BSW von den anderen Parteien: Sie zeigen sich öffentlich so, wie sie wirklich sind. Das Bild, das sie abgeben, ist authentisch – jedenfalls um Lichtjahre authentischer als die glattgekieselten Inszenierungen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP.

Es wird sehr spannend sein zu sehen, ob die Deutschen die verschwiegenen und versteckten Inhalte der Vierer-Bande bevorzugen – oder das offene Angebot von Weidel-Wagenknecht.

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